von Peter Gottwald and Henrik Schober, 6.2.15
Die Apologeten des Untergangs werden nicht müde, die Volksparteien klassischer Prägung zu Auslaufmodellen zu erklären. Wer einen Dreisatz rechnen kann, erklärt mit leuchtenden Augen, wenn das mit dem Absturz der Mitgliederzahlen nur immer so weiter gehe, dann hätten CDU, CSU und SPD in 30 Jahren keine Mitglieder mehr. Manch älteres Parteimitglied mag da spontan entgegnen, dass dieser Gedanke schon deswegen eher theoretischer Natur sei, weil jüngere Kollegen ohnehin keinen Dreisatz rechnen könnten. Dazu folgt dann der dezente Verweis auf PISA, TIMMS und andere Studien.
Mit zwei Klischees zu Beginn soll es an dieser Stelle genug sein. Das Spannungsfeld zwischen Jung und Alt existiert in der Politik in vielen Facetten, und eben auch in den Parteien. Dieser Beitrag möchte allerdings nicht die damit verbundenen Konflikte oder die demographischen Herausforderungen im Allgemeinen darlegen. Vielmehr geht es uns um ein die Parteien wertschätzendes und empirischen Beobachtungen folgendes Plädoyer, die Potenziale ihrer Mitglieder im Lebensalter von 55 bis 70 Jahren zu heben.
Dieses „Spätmittelalter des Lebens“ zu fördern, wird zu ganz neuen Lebenszyklen von Politik und Politikern führen. Spät- und Seiteneinsteiger in Stadträten, Landtagen und Bundestag im Alter von 60 oder 65 Jahren werden alltäglich. Der Spruch „Hast Du einen Opa, schick‘ ihn nach Europa“, schon vor 40 Jahren geläufig und eher die europäische Politik missbilligend gemeint, wird eine ganz neue, ernste und ehrenhafte Konnotation erhalten. Denn „der Opa“ und „die Oma“ werden die Berufspolitik und die Ehrenamtlichkeit beleben und bereichern – in noch größerem Umfang und mit noch mehr Gewicht, als dies heute bereits der Fall ist. Damit verbinden sich große Herausforderungen für alle Parteien.
Die Parteien leben gut aus der Mitte ihrer Mitglieder – wenn sie klug sind
Im Jahr 2014 verlor die CDU rund 7.200 Mitglieder und hat nunmehr 459.878 Mitglieder, die SPD sank um 12.100 auf 461.537 Mitglieder, die CSU um 1.000 auf 147.000 Mitglieder. Die Grünen verloren 400 Beitragszahler und lagen bei 61.369. Die FDP konstatiert einen leichten Rückgang auf rund 56.000 Mitglieder, Die Linke den Abgang von 1.100 Mitgliedern auf nun 62.614. Die Alternative für Deutschland steigerte ihre Mitgliederzahl von 15.344 auf 21.203. (1)
Mitgliederschwund sieht anders aus. Natürlich ist die Fallhöhe der großen Parteien ganz enorm, wenn man die Mitgliederzahlen der 1970er oder 1990er Jahre zum Maßstab nimmt. Im mehrjährigen Verlauf kann man aber nicht von einem Absturz, nicht einmal mehr von einem Sinkflug oder Landeanflug auf den Abstellplatz der Geschichte sprechen. Es handelt sich um eine Phase von Gleitflug, die Zeit und Muße zur Besinnung lässt. Vielleicht auch zur Transformation? Diese Zeit muss genutzt werden.
Angesichts von über 1,2 Millionen eingeschriebenen Mitgliedern in den großen Parteien ist eine Diskussion, ob Parteien Mitglieder brauchen, und wenn ja, wie viele, reichlich akademisch. Denn es kommt auf den Umgang der Parteien mit diesen Mitgliedern an: Die Entscheidung dieser Menschen, sich eng formal an ihre Partei zu binden, verdient Achtung, Anerkennung und eine Art von eingebauter tagtäglich gelebter Willkommenskultur mit Qualitätssicherungsversprechen. Das könnte etwa so klingen: „Wir freuen uns, dass Sie bei uns sind. Wir werden anständig miteinander umgehen und die Ressource, die Sie ganz persönlich in sich bergen, gemeinsam entwickeln und nutzen. So haben Sie, haben wir als Organisation und hat die Gesellschaft hoffentlich gleichermaßen Vorteil daraus!“
Das „Spätmittelalter“ ist den Parteien anvertraut
Wie wird das in den Parteien gehandhabt? „Es ist wie mit einem Mann, der auf Reisen ging: Er rief seine Diener und vertraute ihnen sein Vermögen an“ (Matthäus 25, 14). Den Generalsekretären der Parteien sind die schon eingeschriebenen Mitglieder anvertraut, auf dass sie klug mit ihnen umgehen. Somit können die Parteien die bereits eingeschriebenen Mitglieder wertschätzen, fördern und deren Talente nutzen. Was bzw. wen finden sie dort vor?
Die vorhandenen Mitglieder sind sehr detailreich beforscht. (2) Wir empfehlen einen wohlwollenden und genauen Blick auf die vorhandenen Parteimitglieder im Lebensalter von jetzt 55 bis 70 Jahren. Das sind die Geburtsjahrgänge 1945 bis 1960. Im Lebenszyklus ist dies das „Spätmittelalter“, in der Lifestyle-Branche ebenso wie bei den Verbänden der Wohlfahrtspflege werden sie als die Best Ager, die Generation 55+ oder Senioren bezeichnet. Anders gesagt: Die Senioren sind wohlhabender, gesünder, aktiver, flexibler, agiler, mobiler und gebildeter denn je. Dies könnte die gemeinsame These von Altersmedizinern, Sozialverbänden auf der Suche nach Ehrenamtlichen, Kapitalanlagespezialisten, Reiseveranstaltern, Schönheitschirurgen und eben Politikwissenschaftlern sein. Denn sie alle beschäftigen sich aus ihrem speziellen Fachinteresse mit dieser Altersgruppe.
Die Gruppe der 55- bis 70-Jährigen entspricht dem Profil der Bereitschaft zur parteipolitischen Beteiligung unserer Meinung nach am ehesten, denn diese entwickelt sich in einem langgezogenen umgekehrt U-förmigen Muster: in jungen Jahren gering, zur Lebensmitte hin ansteigend, mit weiter steigendem Alter wieder abfallend. Ab dem 55. Lebensjahr sind die engen lebensweltlichen Bindungen an Elternschaft, beruflichen Einstieg sowie Bewährung und erste Vermögensbildung nicht mehr so drängend, die Ressource der verfügbaren Zeit wird größer. Gesundheitliche Beeinträchtigungen, die bislang oft reflexhaft als Ursache für nachlassende Bereitschaft zur politischen Betätigung im Renteneintrittsalter angenommen werden, treten heute durch die medizinische Versorgung immer später ein.
Die Altersgruppen 50 bis 64 und 65 bis 79 Jahre sind in den Parteien insgesamt deutlich stärker besetzt als in der Gesamtbevölkerung. In den Volksparteien CDU, CSU und SPD, die im Vergleich zu den anderen Parteien absolut und relativ gesehen besonders viele Mitglieder aus diesen Jahrgängen aufweisen, macht das „Spätmittelalter“ mehrere Hunderttausend Menschen aus. Der Anteil der unter 50-jährigen Mitglieder aller Parteien ist von 36 Prozent (1998) auf 27 Prozent (2009) gesunken; im gleichen Zeitraum machten die unter 50-jährigen 50 Prozent (1998) bzw. 54 Prozent (2009) an der Gesamtbevölkerung aus. Der Anteil der Rentner an den Parteimitgliedern stieg von 33 Prozent (1998) auf 43 Prozent (2009), im Vergleich zur Gesamtbevölkerung mit 29 Prozent (1998) und 29 Prozent (2009). Unterdurchschnittlich ist der Anteil der Rentner bei Grünen (4 Prozent / 13 Prozent), überdurchschnittlich bei den „Linken“ (70 Prozent / 53 Prozent).
Was sind die Eintrittsmotive dieser Menschen? Es sind zum einen jene Motive, die man auch durch eine „stille Mitgliedschaft“ pflegen kann, etwa altruistische (Beitrag zum Funktionieren der Demokratie leisten) oder expressive Anreize (Sympathie für die Partei zeigen). Bedeutsam sind aber auch diejenigen, die ein aktives Auftreten in der Partei erfordern.
Die Krux aus Sicht der Parteien liegt jedoch hier: Die Intensität von Aktivität nimmt nach eigener Einschätzung der Parteimitglieder mit dem Alter ab – was im Gegensatz zur Annahme steht, dass mit dem Alter die Souveränität in der Verwaltung der Ressource Zeit steigt. Rentner (23 Prozent) sind weniger aktiv als Teilerwerbstätige (33 Prozent), Vollerwerbstätige (30 Prozent) und Hausfrauen/Hausmänner (27 Prozent). In dem intensivsten und stringentesten Typ von Aktivität (ämterorientiert Aktive) sind alle Generationen von Parteimitgliedern bis 64 Jahre gleichmäßig zu 25 Prozent aktiv, die 65 bis 79 Jahre alten Mitglieder zu 18 Prozent.
Der Faktor Gesundheit alleine kann diese relative gefühlte Passivität älterer Parteimitglieder nicht erklären. Offensichtlich tun sich die Parteien schwer, diesen Menschen Angebote zu machen und sie zu aktivieren.
Eine Strategie der Aktivierung?
Viele Hunderttausend eingeschriebene Mitglieder in der Altersklasse des „Spätmittelalters“ in den Volksparteien CDU, CSU und SPD könnten durch eine adäquate Strategie der Ansprache aus dem stillen Wartestand in die Aktivität geholt werden. Da es sich um lebenserfahrene und oft auch gut (aus-)gebildete Menschen handelt, braucht es Individualität in der Kommunikation zwischen Parteiorganisation und diesen Mitgliedern.
Ältere Parteimitglieder sind eine besonders wertvolle Ressource: Sie haben viele Erfahrungen gesammelt und können diese in den Gesamtkontext möglicher Handlungsoptionen einordnen: Wo lohnt es, sich in der Gesellschaft einzubringen? Die Deutsche Parteimitgliederstudie 2009 belegt, dass sie sich stark für Kommunalpolitik interessieren, während in der Gesamtbevölkerung eher die anderen Ebenen für wichtig erachtet werden. Hier können Angebote der Parteien an ihre Mitglieder ansetzen. Die stillen Mitglieder der Altersklasse 55 bis 70 Jahre sind so gesehen ein Geschenk an die Parteien – denn sie haben die Grundsatzentscheidung für die Partei bereits getroffen. Sie sind eine Quelle an Erfahrung aus Beruf, Gesellschaft und Familie, die nutzbar gemacht werden kann und muss.
Natürlich ist bei allen positiven Sichtweisen im Detail einiges zu bedenken und kritisch zu hinterfragen. Da gibt es etwa das allgegenwärtige Argument, dass mit einer verstärkten Aktivität der Älteren auch eine (Neu-)Ausrichtung der Politik auf Ältere einherginge. Auch wird verschiedentlich deren tatsächliche Engagementbereitschaft hinterfragt. Dieser Skepsis möchten wir entgegnen, dass der Faktor Alter zunächst einmal nur einer von vielen ist, die Engagement determinieren (können). Außerdem erschließt sich uns nicht, warum ältere Menschen nur für ältere Menschen „Partei ergreifen“ sollten – schließlich befinden sie sich in vielen sozialen Beziehungen, die Altersgrenzen überschreiten, etwa in der Familie.
In einem Folgebeitrag hier auf CARTA werden wir uns gezielt damit auseinandersetzen, wie Vorbehalte abgebaut und Engagementkulturen gefördert werden können. Hier und jetzt möchten wir dafür plädieren, dass die Volksparteien die sich ihnen bietenden Möglichkeiten nutzen und den älteren Mitgliedern zunächst einmal Angebote machen. Denn klar ist: Die Parteien dürfen das Spätmittelalter nicht verpassen.
(1) www.handelsblatt.com 24.12.2014
(2) Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die unter der Leitung von Prof. Dr. Ulrich von Alemann und Prof. Dr. Markus Klein durchgeführte „Deutsche Parteimitgliederstudie 2009“. Siehe dazu Tim Spier et al. (Hrsg.), Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011. Da diese Studie sich eng bezieht auf die Potsdamer Parteimitgliederstudie von 1998, konnten Momente des Wandels von Einstellungen über einen Zeitlauf von 11 Jahren genau festgestellt werden (Teilreplikation).
Dieser Beitrag ist der fünfte Teil der Reihe „Agenda 2030: Parteien auf der Suche nach Zukunft“ – so der Titel des Auftakt-Textes – die CARTA in Kooperation mit dem Progressiven Zentrum durchführt. Autoren des Berliner Think Tanks diskutieren regelmäßig Thesen und Ideen zur Veränderung der politischen Parteien in Deutschland.
Ausgangspunkt ist das Projekt „Legitimation und Selbstwirksamkeit: Zukunftsimpulse für die Parteiendemokratie“, ein Gemeinschaftsprojekt der Heinrich-Böll-Stiftung, der Konrad-Adenauer-Stiftung und des Progressiven Zentrums. Das Projekt sucht interdisziplinär und ideengeleitet nach Ansätzen, wie Parteien auch in Zukunft ein relevantes Organ der politischen Meinungs- und Willensbildung sein können. Die gemeinsamen Diskussionen im Rahmen des Projekts, insbesondere innerhalb der Projektgruppe von acht Visiting Fellows, ist eine wichtige Grundlage des hier veröffentlichten Textes.
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