#Anfänge

PEGIDA – Nach dem Aufschrei

von , 29.12.14

Deutschland im Dezember 2014: Eine Gesellschaft spürt ihre Achillessehne – rechte Seite, ziemlich weit unten – und schreit laut auf. Immer mehr Menschen stimmen mehr oder weniger stark getroffen mit ein.

Schmerz taugt als kurzfristiger Schutzreflex und mobilisiert ungeahnte Kräfte. Für eine langfristige Genesung müssen jedoch andere Antworten her, die sich mit der Ursache beschäftigen.

Ich glaube nicht, dass das einfache Antworten sein werden. Ich glaube auch nicht an Schwarz-Weiß-Erzählungen. Ich glaube aber, dass beide Methoden mobilisieren – auf Seiten der Gegner als auch der Befürworter von PEGIDA. Nur: Sie lösen das Problem nicht. Nie. Egal, wie man das Problem definieren mag.

An der Debatte über PEGIDA überraschen mich daher zwei Dinge: Die allgemeine Verwunderung über das Zustandekommen von PEGIDA. Und dass mittlerweile mehr darüber gestritten wird, wie wir über sie streiten als mit ihnen.

Jetzt könnte der geneigte Beobachter natürlich auf die Idee kommen, dass diese beiden Dinge in Zusammenhang stehen. Das mag in Einzelfällen auch zutreffen. Ich bin aber vor allem geneigter Pragmatiker, dem eine geschlossene Haltung zum Umgang mit dieser Bewegung fehlt. Zumal wir diese Haltung eigentlich seit Ewigkeiten haben…

„Wo kommen diese Menschen nur her?“

PEGIDA ist ungefähr so überraschend wie der Fakt, dass Heiligabend dieses Jahr wieder auf den 24. Dezember gefallen ist. Wenn lang schwelende Ressentiments auf aktuelle Meldungen über radikale Islamisten, „Glaubenskriege auf deutschen Straßen“, europaweite Wahlerfolge von Rechtsextremen und steigende Asylbewerberzahlen treffen, was wäre wohl das zu erwartende Ergebnis?

Nach wie vor bin ich angesichts einer rechtspopulistischen AfD, die sich um die 7 Prozent bewegt, glücklich über die bisherige parteipolitische Ausformung des rechten Spektrums in Deutschland. Auch weil sie im Vergleich zu ihren Schwestern im Geiste aus Frankreich, Finnland oder den Niederlanden immer noch moderat erscheint. Ich möchte jedem konservativen Unionswähler, der trotz des Mitte-Kurses seiner Partei dort weiter sein Kreuz macht und sich nicht eine neue politische Heimat rechts der alten gesucht hat, persönlich danken!

Aber: Bei der letzten Landtagswahl in Sachsen kamen AfD und NPD zusammen auf knapp 15 Prozent. Das sind 240.000 Menschen in absoluten Zahlen. Hochgerechnet auf die gesamte Wahlbevölkerung Sachsens (wir erinnern uns an die Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent) sogar fast eine halbe Million. Wer nun davon überrascht ist, dass PEGIDA knapp 20.000 Menschen auf die Straße bringt, den beneide ich aufrichtig um seinen Dornröschenschlaf.

Neu ist jedoch die kommunikative „Raffinesse“. Allein der Name. An „Patriotische“ mögen sich manche stören. Aber der Rest?! Wer ist nicht gegen die Islamisierung des Abendlandes? Ich weiß – beruhigt Euch – es gibt sie nicht, die Islamisierung. Aber in einer Mediengesellschaft tut das wenig zur Sache. Im Sinne eines Kommunikationskonzeptes, das Anhänger des rechten Spektrums binden soll, haben die Macher ganze Arbeit geleistet. Davon durfte ich mich bei der letzten vorweihnachtlichen Demonstration selbst überzeugen: Die Ordner auf der Demo sind freundlich und nur das geübte Auge (meins ist durch eine lange Schululungszeit in Ostvorpommern gegangen) erkennt Insignien der rechten Szene. Aber auch nicht bei allen. Auf dem offiziellen Logo wirft ein Männchen u. a. auch ein Hakenkreuz in einen Abfalleimer. Außerdem wird die Polizei bei jeder Möglichkeit gelobt. Das Positionspapier fordert u.a. sexuelle Selbstbestimmung und spricht sich gegen jeden Radikalismus aus. Jetzt kann man sich hinlänglich darüber streiten, was es noch so fordert und dass Menschen mitmarschieren, trotzdem sie es eigentlich besser wissen müssten. Aber es soll niemand sagen, er könne es sich nicht erklären.

Wir wissen das alles besser, ja. Wir kennen die doppelzüngigen Argumentationen von Rechtsextremen und „Law & Order“-Anhängern und was oft dahinter steckt. Und genau dieses Wissen löst natürlich Reflexe in der gesellschaftlichen Debatte aus und ich bin für wenig so dankbar wie für diesen derzeitigen Aufschrei der Toleranz und Weltoffenheit. Will sagen: Empört Euch, haut drauf und macht klar, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung andere Vorstellungen von der Zukunft hat. Aber vergesst nicht, was danach kommen muss: Der Umgang mit einer unliebsamen Bewegung, wie es in einer Demokratie nun mal so üblich ist.

„Wer sind diese Menschen?“

Ich würde mich selber als einen Bewohner der urbanen, in meinem Fall Berliner Blase bezeichnen. Ja, mir geht es auch gut dabei. Ja, ich fühle mich wohl, wenn ich keine ständigen Debatten über meine selbstverständlichen Werte führen muss. Wenn mein Freundeskreis repräsentativ die Wahlbevölkerung abbilden würde, hätte sich ein Sozialdemokrat knapp gegen eine Grüne (oder andersherum, denn auf Genderfragen legt mein Freundeskreis viel Wert) bei der KanzlerInnenwahl durchgesetzt und wir hätten eine rot-grüne Regierung mit einer parlamentarischen Mehrheit, die zur Verfassungsänderung genügen würde. Selbstverständlich bei einer Wahlbeteiligung von 89 Prozent – mindestens. Es besteht also eine, wie soll ich sagen, gewisse Diskrepanz zur tatsächlichen Situation im Rest der Republik.

Das ist auch okay. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass Deutschland nicht nur aus den ach so aufgeklärten Akademikern besteht – egal ob konservativ, links oder liberal. Wir können uns über die Demonstranten empören und sie als Rassisten und Idioten betiteln. Das sind viele von ihnen, mit Sicherheit. Manch einer muss jetzt aber trotzdem sehr stark sein: Nein, nicht alle. Aber wie viele Menschen haben sich schon geändert, wenn man ihnen zuruft: „Ihr seid Vollidioten!“ ? Es wird keinen von ihnen dazu bewegen, sich infrage zu stellen.

Am letzten Montag gab es viele Situationen auf der PEGIDA-Demo, die mich sorgenvoll stimmten. Vor allem die leise ansteigenden und dann die Masse ergreifenden Rufe „Wir sind das Volk!“ und „Lügenpresse!“. Aber auch die Reaktion der Menge auf die Aussage eines Redners, der davon sprach, dass sie alle hier von der Politik als Rassisten abgestempelt werden. Ohrenbetäubendes Pfeifen. Danach dann ein Weihnachtslied. Wir tun genau das, was wir ihnen vorwerfen. Wir stigmatisieren.

Ich will kein Verständnis für die Demonstranten. Ich will nicht in Abrede stellen, dass sich jeder ordentlich was anhören muss, der Rattenfängern auf den Leim geht. Aber vor allem will ich eine Lösung, und die kann es nicht geben, wenn wir Kritiker es uns zu einfach machen!

Warum? Weil es wahlberechtigte Bürger dieses Landes und weitaus mehr als die 17.000 in Dresden sind. Und schon gar kein genuin sächsisches oder ostdeutsches Problem. Um mit Christian Bangel (Zeit) zu sprechen: „Es sind nicht die Arbeitslosen, es sind nicht die Ungebildeten. Es ist das Deutschland mit Golf und Sky-Abo, das gerade ausrastet.“ Die sichtbaren Demonstranten auf der Straße sind ein, aber nicht das Problem. Unsere Demokratie hält ein paar Zehntausend davon aus. Die Gefahr sind die Zustimmungswerte für unterschiedliche Teilaspekte der Bewegung von 50 und mehr Prozent in der gesamten Gesellschaft. Und wer das getrennt voneinander denkt, hat das Problem nicht verstanden.

Dann höre ich aber oft Aussagen wie „Denen braucht man nicht Zuhören! Wir können nicht auf sie zugehen! Wir können keine Zugeständnisse machen!“. Das stimmt auch. Darum geht es aber nicht: „Verstehen“ und „Zugeständnisse machen“ sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Ich bezweifle, dass de Maizière, Schuster (Präsident des Zentralrats der Juden) oder Gabriel einen runden Tisch in Dresden aufstellen und sich von Putin-Fans und Skinheads Gesetzesentwürfe in den Block diktieren lassen wollen. Die vielzitierten „berechtigten Sorgen“ meinen nicht, jeden Quatsch ernst zu nehmen. Aber wir müssen uns schon die Mühe machen, diese auszusieben und dann zu entkräften. Und vielleicht hier noch eine weitere Desillusion: Nein, es sind auch nicht alle faktenresistente Verschwörungstheoretiker.

„Was können wir dagegen tun?“

Wir befinden uns permanent im Wettstreit mit Ideologien, die unserem Idealbild einer freiheitlichen Gesellschaft zuwiderlaufen. Meistens von Rechts. Ab und zu von Links. Manchmal aus der neoliberalen Ecke. Seltener, aber eben auch, aus der religiösen. Die Doktrin der „wehrhaften Demokratie“ bedeutet einen omnipräsenten und unendlichen Kampf. Tag für Tag.

Was muss man also tun, um diese Auseinandersetzung zu führen? Man muss seinen politischen Gegner kennen, ihn – Vorsicht! – verstehen. So gut es geht. Man muss dessen Strategie erkennen und seine Taktik vorausahnen. Man muss wissen, wie er sich zusammensetzt, wer potenzieller Über- und Mitläufer ist, wer Überzeugungstäter und wer Opportunist. Man muss die Motivationen dahinter analysieren und darauf aufbauend die Gegenmaßnahmen ergreifen. Das ist ein Grundprinzip politischer Kommunikation und allgemein bekannt, dessen bin ich mir bewusst.

Aber warum sollten wir uns jetzt davon lösen? Ignorieren können wir diese Stimmung nicht. Das Thema beschäftigt die Menschen in der ganzen Republik und mittlerweile auch im Ausland. Sowohl die Anhänger als auch die Gegner. Die sozialen Medien und auch die institutionellen sind voll von Meinungen, Berichten und Appellen. „Don’t feed the trolls“, wie Lukas Franke hier auf Carta fordert, funktioniert leider nicht mehr. Die Sache, vielmehr die Diskussion darüber, ist zu groß geworden.

Wir kämpfen seit Jahrzehnten gegen Intoleranz, PEGIDA ist nur eine neue Front. Wir versuchen mit Emotionen und Argumenten – und wo das nicht hilft, mit dem Gesetz – unsere Verfassung zu wahren. Das werden wir auch weiterhin tun. Am besten mit einer Differenzierung von tatsächlichem Problem und (irrationaler) Angst bzw. Ressentiment. Das kann z. B. so aussehen:

  • Ja, islamistischer Terror stellt eine reale Bedrohung für Deutschland dar. Ja, ihr dürft Euch darum sorgen. Nein, es ist Unfug in Kriegsflüchtlingen Dschihadisten zu sehen. Nein, die Politik ist nicht untätig – oder wie viele islamistische Anschläge auf deutschem Boden gab es in den letzten Jahren?
  • Ja, die bisherige Integrationspolitik hat Luft nach oben. Ja, die Politik ist dafür zuständig, Rahmenbedingungen für gelungene Integration zu schaffen. Nein, gelebt werden muss sie von Euch und den Einwanderern. Und nein, wir werden das Ganze nicht auf dem Rücken von Flüchtlingen ausdiskutieren, die alles verloren haben.
  • Ja, Altersarmut ist ein Problem. Nein, das neue Asylantenheim ist nicht schuld daran.
  • Nein, es steht nicht zur Debatte, dass der langjährige Exportweltmeister und Menschenrechtsverfechter Deutschland sich aus seiner Verantwortung stiehlt, wenn es um globale Solidarität gegenüber Flüchtlingen geht.
  • Nein, wir fangen nicht an, Euch zu erklären, warum die deutsche Presselandschaft eine der vitalsten der Welt und keine Lügenpresse ist.

Es gibt Menschen, die können diese Liste besser fortsetzen als ich.

Jede Bewegung ruft auch eine Gegenbewegung hervor. Der Zentralrat der Juden stellt sich hinter die Muslime. Gegendemonstrationen wie am vergangenen Montag wachsen. In Bonn war das Verhältnis von BOGIDA-Demonstranten zu Gegendemonstranten ungefähr so wie das von Muslimen zur sächsischen Gesamtbevölkerung. Die Berichterstattung scheint die Rufe gehört zu haben, dass das Engagement für Flüchtlinge mehr Platz verdient. Wir brauchen noch mehr davon. Das Facebook-Posting des SPD-MdBs Lars Castellucci wurde hinreichend bejubelt. Ganz praktische Projekte entstehen, wie z.B. www.fluechtlinge-willkommen.de oder gemeinsame Wohnprojekte von Studenten und Flüchtlingen.

Wir haben Selbstvergewisserung betrieben. Wir haben die roten Linien unserer Toleranz gegenüber rechtem Gedankengut klargemacht. Wir sind wütend. Manche sind sehr wütend. Die Reihen der Gutmenschen (wer das als Beleidigung verstehen möchte, der möge es bitte tun) sind geschlossen. Jetzt geht es aber darum, aus Empörung und Entsetzen zur aktiven Gegenerzählung anzusetzen. Eine positives Narrativ von Politik, Medien und Zivilgesellschaft. Eine Erzählung aus Fakten und Emotionen, die sich aus dem oben geschilderten Portfolio und der an guten Beispielen noch weitaus reicheren Realität bedient. Ohne dabei Augenwischerei zu betreiben und Integration als Kindergeburtstag zu zeichnen.

Wir lassen uns nicht die Deutungshoheit über das „Abendland“ von Menschen streitig machen, die gegen seine Werte marschieren. Nicht noch einmal. Wir können aber die Existenz dieser Menschen nicht negieren. Sie sind da und wir müssen damit umgehen. Wenn wir das nicht tun, wird es uns irgendwann leidtun. Denn eine Demokratie hat noch nie davon profitiert, dass man Konflikten aus dem Weg geht.

 

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