von Ralph Heidenreich and Stefan Heidenreich, 1.2.15
Die deutsche Sparpolitik ist gescheitert. Gut, dass das einmal jemand den Brüsseler und Berliner Technokraten ins Gesicht sagt. Das Erstaunen darüber, dass die neue griechische Regierung es wagt, ihre eigenen Wahlversprechen und den Auftrag ihrer Wähler ernst zu nehmen, steht der EU-Politikerkaste ins Gesicht geschrieben.
Seit dem denkwürdigen Auftritt des Brüsseler Bürokraten Dijsselbloem, Chef der Eurogruppe, in Athen und dem Rauswurf der Troika-Statthalter vor wenigen Tagen empören sich Leitartikelschreiber deutscher Blätter über die vermeintlichen Verrücktheiten des neuen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis.
Der Mann ist ein international anerkannter Ökonom, hat an Universitäten in Großbritannien, Australien und den Vereinigten Staaten gelehrt und wahrscheinlich mehr auf dem Kasten hat als sämtliche deutsche, in Wirtschafts-Ressorts oder Zentralbankposten gestolperte, Politiker zusammen. Kaum ein Journalist hierzulande hat sich die Mühe gemacht, das finanzpolitische Papier von Varoufakis anzuschauen, mit dem er seit fünf Jahren für eine vernünftigere Europapolitik wirbt. Eine Ausnahme machen die Nachdenkseiten, die ihn dazu bereits vor einem knappen Jahr ausführlich interviewt haben. Im vergangenen Jahr erschien, zusammen mit den Ökonomen James K. Galbraith und Stuart Holland, die aktualisierte Ausgabe 4.0.
Was Varoufakis dort vorschlägt, wäre mit großer Sicherheit für Europa weit heilsamer gewesen, als die Maßnahmen, die internationale Geldgeber, EZB und Eurogruppe den Krisenländern verordnet haben. Portugal, Spanien und Irland haben sich auf niedrigem Niveau stabilisiert, soziale Unruhe und der Verdruss mit Europa wachsen. Die Daten schauen alles andere als gut aus. Für Griechenland sind sie katastrophal. Allein das vermeintliche Programm zur Rückführung der Schulden hat die Quote von 113% im Jahr 2008 auf 174% in 2013 ansteigen lassen. Nicht weil die Summe an sich gestiegen ist, sondern weil die vermeintlichen Reformen in der Zwischenzeit die griechische Wirtschaft 25% ihrer Leistung gekostet haben. Vor genau dieser sogenannten Debt Deflation warnt Varoufakis die EU seit 2010. Wie soll jemand, der weniger verdient, besser dazu in der Lage sein, Schulden zu tilgen?
Von der Rückzahlung der Schulden ist Griechenland, gerade wegen der falschen Reformen, weiter entfernt denn je. Varoufakis erklärt den Unterschied in einem Interview auf BBC damit, dass die Geldgeber so tun wollten, als sei Griechenland nicht insolvent, sondern nur vorübergehend illiquide. Die falsche Krankheit zu kurieren, kommt nicht einmal billiger, und hilft niemandem, weder Griechenland noch den hiesigen Steuerzahlern, außer den Vermögenden, die Zeit genug hatten, ihre Anlagen in Sicherheit zu bringen. Das sogenannte Hilfsprogramm war von Anfang an Augenwischerei im Interesse der Investoren.
Trotzdem heißt es, ein Schuldenschnitt komme nicht in Frage. Wo doch jeder weiß, dass das Land seine Kredite in absehbarer Zeit nicht zurückzahlen kann, schon gar nicht, wenn es von Europa weiterhin zugrunde gerichtet wird.
Die Entscheidung, heißt es, müsse schnell getroffen werden. Ende Februar gehe Griechenland das Geld aus. Was dann? Dann, so stellt es ein Großteil der hiesigen Presse dar, gibt es vielleicht noch ein paar Schlupflöcher und Milliarden hier oder dort, aber dann muss Varoufakis entweder zu Kreuze kriechen oder Griechenland Pleite gehen. Doch so einfach liegt die Sache nicht. Denn es ist klar, dass ein Bankrott Griechenlands sämtliche Beteiligten, darunter Deutschland an vorderster Stelle, viel teurer zu stehen käme, als eine neuerliche Rettung, in welcher Form auch immer. Ein Land an der Peripherie Pleite gehen zu lassen, mit all den negativen Auswirkungen auf das europäische Projekt insgesamt, ist keine Option, wenn gleichzeitig die Länder in Kerneuropa auf Staatsschulden bis auf zehn Jahre negative Zinsen bekommen. Das weiß Varoufakis und das wissen alle anderen auch. Es geht also nur um die Modalitäten der Rettung und um die Tatsache, dass besonders die Deutsche Regierung zu akzeptieren hat, dass Griechenland nach wie vor eine souveräne Demokratie ist, die sich nicht von Brüsseler Statthaltern am Gängelband in den Abgrund führen lässt.
Was schlägt Varoufakis nun in seinem Papier vor? Es besteht aus vier Teilen, von denen zwei recht technisch, die anderen beiden eher politisch sind.
Erst einmal sollen kaputte Banken direkt von der EZB übernommen und dann wieder verkauft werden, ähnlich wie es die Schweden in ihrer Bankenkrise der 90er Jahre gemacht haben. Das erschwert natürlich, die Budgets der einzelnen Staaten und ihrer Steuerzahler zu plündern.
Als zweites will Varoufakis zur Überwindung der Krise gemeinsame EU-Schuldtitel auf den Markt werfen und die Schulden einzelner Staaten miteinander verrechnen. Das bringt gemeinsame Risiken. So geschieht das in Bundesstaaten wie Deutschland oder den USA, nur die EU versucht es mit streng begrenzter Solidarität zwischen finanziell Stärkeren und Schwächeren. Man stelle sich einmal vor, das reiche Bayern würde darauf bestehen, nicht nur die ohnehin ärmeren Bewohner von Mecklenburg-Vorpommern vollends ins Elend zu treiben, sondern auch noch Statthalter aus München nach Schwerin schicken.
Auf lange Sicht bedingt die gemeinsame Kredit-Aufnahme natürlich auch eine gemeinsame Fiskalpolitik. Genau davor aber scheuen sich die Standort-Wettkämpfer in der EU wieder, hat ihnen doch gerade das Kleinklein der Regelungen auf nationaler Ebene in den letzten Jahren ein System verfilzter Steuerschlupflöcher beschert, das Unternehmen in der EU praktisch steuerfrei wirtschaften lässt. Der Luxemburger Obersteuervermeider Juncker wurde sogar mit dem Posten des Kommissionspräsidenten belohnt. Man kann in dem Fall gar nicht mehr davon sprechen, dass mit zweierlei Maß gemessen würde. Der gesamte Zweck der Veranstaltung EU steht in Frage, wenn in Schwierigkeiten geratene Staaten bestraft und gleichzeitig internationalen Unternehmen bei der Steuerflucht begünstigt werden.
Die zwei anderen Vorschläge von Varoufakis sind eher politisch. Er will den europäischen Investment Fonds (EIF) wiederbeleben, um ein groß angelegtes Investitionsprogramm anzuschieben. Ein solcher Plan, vergleichbar mit dem New Deal der USA in den 30er Jahren, wird von der herrschenden ökonomischen Orthodoxie mit allen Mitteln abgelehnt. Lieber lassen sie die Peripherie zu Armenhäusern verkommen und treiben die gesamte Eurozone in die Deflation, als einen Cent zu viel auszugeben. Man sollte daran erinnern, dass Deutschland in den 30er Jahren vor Hitler nicht etwa an Inflation litt, sondern an der Deflation der Brüning-Jahre. Erst das hat zu dem Stillstand, der Ausweglosigkeit und der Radikalisierung der politischen Lage geführt. Solche Bedenken scheinen jedoch weder die deutsche Regierung noch die Bürokraten in Brüssel zu stören. Deshalb ist auch Varoufakis’ vierter Vorschlag eines Notsolidarprogramms für von Armut bedrohte Menschen ein absolutes No-Go, nicht nur für die Vertreter der hiesigen christlichen Parteien.
Man muss sich ernstlich fragen, welche Idee von Europa in diesen Köpfen steckt. Allen äußeren Anzeichen nach geht es der deutschen Politik hier allein um Eigennutz. Solange der deutsche Export läuft und die hiesigen Unternehmen gut Geld verdienen, scheint alles in bester Ordnung. Von der mit dem Überschuss notwendigerweise einhergehenden Verschuldung anderer Staaten will man nichts wissen. Viel effektiver lässt sich die Idee einer Europäischen Gemeinschaft nicht untergraben.
Die Troika hat im Auftrag von Europa und IWF die Regierung Griechenlands dazu gedrängt, die wertvollsten Unternehmen des Landes zur verschleudern, die eigene Bevölkerung verarmen zu lassen, um am Ende in dauerhafte Schuldknechtschaft zu versinken, von ausländischen Statthaltern überwacht. Das gesamte Programm überhaupt als „Reform“ zu bezeichnen, ist Hohn. Trotzdem gibt es nicht wenige Politiker, die darauf pochen, die neue griechische Regierung solle mit dem selbstzerstörerischen Unfug weitermachen.
Der Egoismus der Stärkeren reicht kaum aus, um ein derartiges Vorgehen zu rechtfertigen. Aber letztlich hilft es natürlich den exportstarken Nationen, wenn der Euro dank der Krise der südlichen Peripherie schwach ist wie lange nicht mehr, allen voran Deutschland.
Der eigensüchtige Elefant im Herzen Europas ist Deutschland, mit keiner anderen Vision als dem Vorteil. Im Endeffekt verläuft die Konfliktlinie zwischen Import- und Export-Nationen, wobei die Exportüberschüsse auf der einen Seite als Schulden, auf der anderen als Profit erscheinen. Vernünftig wäre, wie von Heiner Flassbeck seit Jahren gefordert, eine Politik ausgeglichener Handelsbilanzen. Aber 200 Milliarden Euro Profit, wie kurzsichtig er auch immer erkauft ist, wollen sich die deutschen Unternehmer nicht nehmen lassen.
Mit ihrer strikten Ablehnung dieser Politik haben sich Tsipras und Varoufakis weit eher als weitsichtige und vernünftig denkende Europäer qualifiziert als die Finanz-Sadisten vom Schlage eines Schäubles.
Thomas Wright vom Brookings Institute weist auf das Signal hin, das der Erfolg von Syriza an die Wähler sendet. Aus dem Regime der Sparpolitik kann sich nur befreien, wer „kompromisslose Populisten“ wählt, wie er es nennt.
Wir gehen damit in Europa auf ein neues Parteiensystem zu. Neben den etablierten Technokraten der alten (Regierungs-)Parteien entstehen neue Protest-Bewegungen wie Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien, und die neuen und alten europafeindlichen Rechten, vom Schlage der AfD, Bepe Grillos oder Le Pens. Von der alten politischen Klasse und einem Großteil der alten Medien werden beide gerne unterschiedslos als Populisten diffamiert, ohne genauer zwischen rassistischen, fremdenfeindlichen und auf der anderen Seite sozial engagierten und ökonomisch fortschrittlichen Bewegungen zu unterscheiden.
Was kann als nächstes passieren? Es wird der EU nichts anderes übrig bleiben, als den vernünftigen Schritt zu tun, mit der griechischen Regierung zu kooperieren. Das ist das Beste, was sie tun können. Denn am Ende ist Syriza die einzige politische Kraft in Griechenland, die mit den verkrusteten Strukturen der alten Oligarchie brechen kann.
Dazwischen werden wir noch einigen Theaterdonner hören, wie das bei Verhandlungen üblich ist. Dazu gehört die Drohung des Bankrotts, von beiden Seiten. Doch auch nachdem die sogenannten Europäer, die keine sind, klein beigegeben und es als Niederlage Griechenlands verkauft haben, wird der neoliberale Flügel von Merkel bis Gabriel vom Spar-Dogma nicht ablassen, selbst wenn die Märkte ihnen das Geld hinterher schmeißen und die Zinsen von Staatsanleihen noch so weit unter Null sinken. Man kann also erwarten, dass sie alles tun werden, um die Arbeit der neuen griechischen Regierung zu sabotieren. Denn auf keinen Fall darf eine Politik gegen den Willen des Hegemons auch noch Erfolg haben.
Ob es dafür in Europa allerdings eine Mehrheit gibt, muss sich erst noch zeigen.
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