von Thymian Bussemer, 27.4.14
Notorisch wird das Internet als Reich der gedanklichen Freiheit beschrieben. Dabei ähnelt es oft einer geistigen Strafkolonie. Denn regelmäßig schlägt die Freiheit im Netz in Bedrängung, Gruppenzwang und Drangsalierung um.
Es geht in diesem Text um die dunkle Seite der digitalen Freiheit, um das Potenzial des Netzes, aus der Anonymität heraus Massen-Erregungen zu erzeugen und diese in zerstörerischer Art und Weise gegen einzelne Personen oder Institutionen zu richten. Und es geht um den Daten-Schatten, den wir mit jeder Bewegung im Netz erzeugen und den wir auch dann nicht mehr loswerden, wenn er uns längst zur Last geworden ist.
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Bewusst sind uns diese Gefahren schon lange, doch im Zeitalter von voll entfalteten Social Media und Web 2.0 wird die Janusköpfigkeit des Netzes für jeden offensichtlich: Das vermeintliche Reich der Freiheit und der herrschaftsfreien Kommunikation lädt auch zu ungehemmter Triebabfuhr ein, was neue Typen von Erregungsexzessen und Skandalisierungen mit sich bringt.
Deren Hauptkennzeichen: Man muss nicht mehr prominent oder sonst wie hervorgetreten sein, um zum Opfer zu werden. Gleichzeitig wird – vor allem getrieben von Big Data – die Kontrolle im Netz immer engmaschiger. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist paradox: Während die Vorhersagbarkeit unseres Verhaltens exponentiell zunimmt, zieht ein neues Zeitalter der Unsicherheit herauf.
Die Macht der Algorithmen
Zwei aktuelle Bücher nehmen aus unterschiedlichen Perspektiven die tektonischen Verschiebungen in den Blick, die im Social-Media-Zeitalter die neuen Übergänge zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, zwischen Intimität und Preisgabe kennzeichnen: Während Bernhard Pörksen und Hanne Detel in ihrem Buch „Der entfesselte Skandal“ über das „Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter“[1] schreiben, beschäftigt sich Rudi Klausnitzer in seiner Studie „Das Ende des Zufalls“ mit der Frage, „wie Big Data uns und unser Leben vorhersagbar macht“[2].
„Ende des Zufalls“ und „Ende der Kontrolle“ – passt das zusammen?
Ganz offensichtlich ja. Liest man die beiden Bücher parallel, entsteht ein verwirrendes und dennoch gleichzeitig konsistentes Bild der dialektischen Veränderungen an der Nahtstelle von interpersonaler und Massenkommunikation: Während private Informationen im Zeitalter von Big Data zu Quellen der massenhaften Datenaggregation und einem damit verbundenen neuen Typus der sozialtechnischen Steuerung werden, erfolgt gleichzeitig eine Privatisierung der früher den professionellen Massenmedien vorbehaltenen Funktion der Öffentlichmachung und Skandalisierung.
Das Ergebnis ist paradox. Auf der einen Seite wird alles vorhersagbar: in welchem Stadtviertel und zu welcher Uhrzeit vermutlich ein Einbruch geschieht, wann und für wie lange eine dem eigenen Befinden nach gesunde Person zu einem bestimmten Zeitpunkt der Zukunft ins Krankenhaus muss, wer wo und in welcher Hotelklasse Urlaub machen wird, obwohl er noch gar nicht gebucht hat – Big Data macht durch statistische Korrelation erstaunlich zuverlässige Aussagen über unser zukünftiges Verhalten und markiert damit den Beginn eines Zeitalters der vollständigen Vermessung des Menschen.
Auf der anderen Seite gibt es, was die Zirkulation von Daten über uns angeht, einen beinahe totalen Kontrollverlust, der dann doch wieder in das Reich des Zufalls verweist: auf was für Fotos wir zufällig mit wem getaggt werden, in welchem Zusammenhang diese im Internet erscheinen, und in welche neuen Kontextzuweisungen diese Bilder durch andere Personen oder gar anonyme Algorithmen überführt werden.
Unsicherheit darüber, was andere mit unseren Daten machen, wird so zum Leitmotiv unseres Agierens im öffentlichen Raum.
Diese Dialektik von totaler Vorhersagbarkeit einerseits und ständig drohendem Kontrollverlust andererseits ist das zentrale Kennzeichen der Web-2.0.-Öffentlichkeit. Verursacht wird sie vor allem durch die Asymmetrie im Handeln von Menschen und Algorithmen: Während wir im Internet unterwegs sind, um Informationen zu sammeln, unterhalten zu werden oder soziale Bindungen zu pflegen, uns dabei aber selten absolut zielgerichtet bewegen, sind die Such- und Auswertungsprogramme von Big Data darauf programmiert, noch die kleinsten Datenspuren, die wir im Netz hinterlassen, zu clustern, auszuwerten und in größere Analyseraster einzuspeisen. Wir surfen also nach dem Prinzip des Zufalls, doch die Algorithmen erkennen das System dahinter und antizipieren unser künftiges Verhalten.
Die größte Fähigkeit des Algorithmus ist immer noch die des Erkennens von Masse, der großen Zahl. Und so wird die Zahl im Internet zum Fetisch – von der Summe der Freunde auf Facebook bis zu den Tausenden von Schmäh-Mails in einem durchschnittlichen Shitstorm. Die Logik lautet immer: Was viel geklickt wird, muss Relevanz haben, was andere gut finden, muss auch für einen selber gut sein, und wenn alle sich empören, empört man sich mit.
Wendet man dieses Gesetz der großen Zahl auf publizistische Inhalte im Internet an, so wird deutlich, dass hier eine neue Struktur von Öffentlichkeit entsteht: Nicht mehr professionelle Gatekeeper entscheiden entlang von jahrelang erlernten Nachrichtenfaktoren über Relevanz oder Irrelevanz einer Nachricht, sondern anonyme User, die mit ihren „likes“, „dislikes“ oder Kommentaren eine Meldung im Netz popularisieren und durch Weiterleitung erst zur allgemein wahrgenommenen Nachricht machen.
Die Algorithmen der mit aktuellen Neuigkeiten handelnden Netzportale erkennen diese virtuellen Themenkonjunkturen im Netz und passen ihre Inhalte entsprechend an. Schon jetzt gib es erste Nachrichten-Sites mit ausschließlich computergenerierten Meldungen.
Die daraus resultierenden Strukturveränderungen für unsere Öffentlichkeit sind gewaltig.
Aus einer vormals durch die Massenmedien klar strukturierten, im schlechteren Falle auch gelenkten Öffentlichkeit wird eine amorphe, sich oftmals spontanen Erregungswellen hingebende und kaum noch integrierte Crowd. Zwar bilden überregionale Zeitungen oder einige Fernsehprogramme wie die Tagesthemen oder das heute journal immer noch ein verbindendes Moment, das die Nation als Diskursraum zusammenhält, doch daneben existiert eine unüberschaubare Varietät von special interest-Öffentlichkeiten.
Diese Diversifizierung sowie die damit einhergehende Globalisierung von gesellschaftlicher Kommunikation machen die zentrale Nachrichtenlenkung, die Unterdrückung von Informationen und die Gleichschaltung der veröffentlichten Meinung zunehmend schwierig. Die Unmöglichkeit der Verhängung von Informationsquarantänen stellt Diktaturen heute vor allem aufgrund der Reichweite der elektronischen Medien vor große Probleme. Das ist die positive Seite.
Die negative Seite ist, dass die heute eben immer seltener von professionellen Journalisten für das Publikum anwaltschaftlich betreuten Medienforen im Internet nicht mehr nach Relevanz-, sondern nur noch nach Aufmerksamkeitskriterien funktionieren. Und da die self-made-Publizistik im Netz in einem Spannungs- und auch Konkurrenzverhältnis zum professionellen Journalismus steht, was zur Folge hat, dass dieser die Blogosphäre zwar stets argwöhnisch beobachtet, gelegentlich aber auch dreist imitiert, kommt es quasi durch die Hintertür zu einer Verschiebung des gesamten Gefüges.
Medienkommunikation wird strukturlos, dem öffentlichen Diskurs im Internet fehlen die Filter in Gestalt der Gatekeeper, die Diskursmoderatoren, und auch die zur Mäßigung mahnenden Stimmen sind ihm abhanden gekommen. Dort, wo professionelle Medien noch in Debatten eingreifen und diese strukturieren, werden sie immer häufiger zu reinen Verstärkern der digitalen Erregung, zu Resonanzräumen für Themen und Wertungen, die Trolls, Blogger oder Netzaktivisten in den Diskurs eingespeist haben.
Der Skandal im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
Beobachtet werden kann diese Veränderung der Medienkultur vor allem am Beispiel von Skandalen, deren Auslöser, Verlaufsformen und Folgen sich im Online-Zeitalter massiv transformiert haben. Die beinahe epidemische Zunahme von Skandalen ist ohnehin eines der markantesten Kennzeichen hoch beschleunigter Mediengesellschaften.
Im Digitalzeitalter kommt noch eine qualitative Veränderung hinzu: Früher hatte ein Skandal fast immer mit dem Fehltritt einer hochgestellten oder bekannten Persönlichkeit zu tun, meist wurden entlang von ihm zentrale Werte und Anschauungen einer Gesellschaft neu verhandelt. Heute dagegen kann es jeden treffen, und es geht auch nicht mehr darum, ob ein Tabubruch vorliegt oder moralische Grenzen neu vermessen werden, sondern nur noch um die Frage, welches Erregungs- und auch Delektierungspotenzial ein Skandal bietet.
Ein diachroner Blick auf drei selektiv ausgewählte Skandaltypen soll dies verdeutlichen.
(1)
Den Jenninger-Skandal von 1988 kann mal als klassischen Moral-Skandal des alt-bundesrepublikanischen Feuilletons lesen.
Im November 1988 hielt der damalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome im Bundestag eine Rede, deren Leitmotiv die Frage war, was die Anziehungskraft des Nationalsozialismus ausgemacht hatte und wer der heute Lebenden dieser wohl zu widerstehen gewusst hätte. Jenninger zufolge stellte sich für die Deutschen zur Zeit der so genannten Reichskristallnacht
„nicht einmal mehr die Frage, welches System vorzuziehen sei. Man genoss vielleicht in einzelnen Lebensbereichen weniger individuelle Freiheiten; aber es ging einem persönlich doch besser als zuvor, und das Reich war doch unbezweifelbar wieder groß, ja, größer und mächtiger als je zuvor. – Hatten nicht eben erst die Führer Großbritanniens, Frankreichs und Italiens Hitler in München ihre Aufwartung gemacht und ihm zu einem weiteren dieser nicht für möglich gehaltenen Erfolge verholfen? Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt – so hieß es damals –, die ihnen nicht zukam? Mussten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden? Und vor allem: Entsprach die Propaganda – abgesehen von wilden, nicht ernstzunehmenden Übertreibungen – nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen und Überzeugungen?“[3]
Während Jenningers Rede bei heutiger Lektüre vollkommen unproblematisch wirkt und sich mit dem deckt, was die historische Forschung über die Massenattraktivität des Nationalsozialismus herausgearbeitet hat, löste sein mündlicher Vortrag im Deutschen Bundestag 1988 einen Skandal aus, der zu Jenningers unmittelbarem Rücktritt führte. Dem Bundestagspräsidenten wurde einhellig vorgeworfen, sich nicht ausreichend vom Nationalsozialismus distanziert zu haben.
Dass dieser Vorwurf ungerechtfertigt war, machte der spätere Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, lgnatz Bubis, übrigens auf eigene und subtile Weise deutlich: Er übernahm ganze Passagen aus Jenningers Rede in seine eigenen Texte – und niemand nahm daran Anstoß.
In der alten Bundesrepublik gab es zahlreiche weitere vermeintliche NS-Skandale, die ähnlichen Popularisierungsmustern wie der Fall Jenninger folgten. Dazu zählen die von Frank Schirrmacher kunstvoll in der F.A.Z. inszenierte Walser-Bubis-Debatte und, Jahre später, die Enthüllung, dass die linksliberalen Intellektuellen Günter Grass und Walter Jens in ihren Jugendjahren Mitglied in NS-Organisationen gewesen waren.
Stets wurde der mediale Sturm effektvoll in Szene gesetzt, ebbte aber bald wieder ab.
(2)
Neben diesen Typ des klassischen politisch-moralischen Skandals traten schon im Vor-Internet-Zeitalter und ungefähr parallel zur Durchsetzung des Privatfernsehens neue Formen der Skandalisierung, in deren Zentrum immer seltener Politiker und politische Vorgänge standen. Nicht mehr das hohe Amt war entscheidend, um Objekt eines Skandals zu werden, sondern ein besonderes Verhalten oder Geschehen, welches es den Medien erlaubte, Aufmerksamkeitsexzesse zu inszenieren um die Medienkonsumenten zu starker emotionaler Involvierung – ganz gleich, ob zustimmender oder ablehnender Art – einzuladen.
Es entwickelte sich ein Muster der emotionalen Vereinnahmung, das bis heute auch die Erregung in den Social-Media-Welten leitet. „Gefühlsjournalismus“ nannte der Autor Roland Kirbach diesen neuen Blick auf Menschen und ihre persönlichen Kalamitäten in der Zeit [4] und meinte damit ein Inszenierungsmuster, das auf die ständige Steigerung menschlicher Dramatik aus ist, auch hoch politische Situationen nur unter dem Gesichtspunkt von persönlichem Sieg oder Niederlage interpretiert und mittlerweile das Muster für fast jede Art der Medienproduktion abgibt.
Als Beispiel führte Kirbach die Quizshows im Fernsehen an: Während zu den Zeiten des Alt-Entertainers Hans-Joachim Kulenkampff die Bewunderung für den „enzyklopädischen Alleswisser“ im Mittelpunkt des Spannungsbogens einer Show stand, seien diese Sendungen heute so inszeniert, dass sich vor allem der Stress der Situation, die enorme Anspannung der Kandidaten auf die Zuschauer übertrage, die diesen Kitzel wohlig erschauernd und oft mit besserwisserischer Attitüde auf dem heimischen Sofa goutieren.
„Ein Volk von Voyeuren ist so herangezogen worden, das vor allem eines sehen will: Sieger und Verlierer. Und ein Heer von Exhibitionisten stellt sich nur zu gern zur Verfügung. Geltungsbedürfnis, der Wunsch, wenigstens für einige Momente prominent zu sein, drängen den ‚kleinen Mann’ vor die Kamera – und sei es als Loser oder Taugenichts.“[5]
Deswegen häuften sich im Fernsehen bald die selbst-exkulpierenden Sendungen, in denen Peinliches, Privates und Prekäres mit der Aura der inszenierten Authentizität preisgegeben wurde. Den Kitzel solcher bis heute verbreiteteten Sendungen bilden künstlich inszenierte Spannungs-Peaks, wie das plötzliche Auftauchen des ärgsten Feindes, den die Redaktion heimlich eingeladen hat, die Konfrontation mit einer dreisten Lüge aus der Vergangenheit, oder einfach eine Publikumsbefragung zur medialen Live-Performance des Studio-Gastes, die diesen endgültig moralisch vernichtet.
Auch Politiker werden im Fernsehen übrigens so betrachtet. Die Kameras rücken ihnen ganz nahe, heben persönliche Facetten hervor, die sonst nicht beobachtbar sind. Gerade die TV-Duelle vor Bundestagswahlen, aber auch so manche politische Talkshow folgen einem ähnlichen Voyeurismus wie die Quizsendungen: Man sieht die Politiker um eine Antwort ringen, kann beobachten, wie ihnen der Schweiß ausbricht und die Stimme versagt.
Wer nicht schnell genug reagiert, wird als Versager abgekanzelt, wer mit zu vielen Fakten aufwartet, gilt als Streber. Haltung, Körpersprache und Aussehen werden zu den primären Erfolgskriterien, wer angesichts des grellen Studiolichts nervös ist, hat schon verloren. Kurz: Politischer Inhalt wird hier nur noch entlang der Kriterien medialer Performance bewertet.
(3)
Mit dieser Analyse sind die Funktionsmuster des heutigen Social-Media-Skandals schon gut beschrieben, denn genau dieser Mechanismus ist es, der auch den Aufmerksamkeitsexzess im Netz leitet.
Gewöhnliche Menschen können im Zeitalter allgegenwärtiger Publizität wegen kleiner Verfehlungen oder Peinlichkeiten so stigmatisiert werden, dass ihnen danach kein normales Leben mehr möglich ist. Das hat vor allem mit der Windeseile zu tun, mit der sich heute Gerüchte und auch Klatsch über den Globus verbreiten.
Weltweite Berühmtheit hat im Jahr 2005 das so genannte „Dog Shit Girl“ durch die Mutter aller Shitstorms erlangt. Es handelte sich dabei um eine junge Koreanerin, deren kleiner Hund einen U-Bahn-Zug voll kotete. Die Koreanerin weigerte sich auch nach der Aufforderung durch andere Fahrgäste, den Kot zu entfernen. Ein Passagier machte daraufhin Fotos von ihr und dem Hund und stellte diese auf eine viel besuchte koreanische Web-Site. Von dieser wurden die Bilder millionenfach heruntergeladen und weitergeleitet. Bald war die Hundebesitzerin auch namentlich identifiziert und wurde als Dog Shit Girl zum Freiwild. Auf der Straße wurde sie regelmäßig mit Müll beworfen, ein Unbekannter schaffte es sogar, in ihre Wohnung einzudringen und die Badewanne mit Hundekot zu füllen. Was das Dog Shit Girl heute macht und wo es lebt, ist nicht bekannt.[6]
Triebabfuhr auf Knopfdruck
Die Gefahr der öffentlichen moralischen Vernichtung infolge eines unbedachten und von anderen beobachteten Moments droht uns allen. Durch die Allgegenwart von Handy-Kameras, Internet-Zugängen und Social-Media-Plattformen ist eine mediale Hyper-Präsenz entstanden, in der wir nicht mehr kontrollieren können, ob wir gerade gefilmt oder fotografiert werden, ob jemand über uns schreibt oder gar private Informationen von uns preisgibt. Damit kann jeder zum Gegenstand negativer Aufmerksamkeit werden.
Unsere eigene Kontrolle über diese Vorgänge ist gering, ein Zustand ständiger Unsicherheit die Folge. Selbst kleinste Ausrutscher werden im Zeitalter von allgegenwärtiger Publizität zum Existenz-Trauma, wenn wir das Unglück haben, im falschen Moment von anderen beobachtet zu werden.
Wütende Mobber können uns im Netz auch dann attackieren, wenn ihre Informationsbasis falsch oder fragil ist. Menschen äußern sich zu Dingen, die sie entweder nichts angehen oder zu denen sie nichts Sinnvolles beizutragen haben.
Auf den amerikanischen Psychologen John Suler geht der Begriff der „toxischen Enthemmung“ zurück: Menschen verlieren im Internet jede Form von Zurückhaltung und pöbeln in rüdester Form in Blogs und Online-Kommentarforen. Das Fehlen des unmittelbaren persönlichen Kontakts, die Mühelosigkeit des elektronischen Postings, die erwartete Sanktionslosigkeit derartiger Attacken und die das Setting prägende Virtualität scheinen das Aufbrechen kulturell erlernter Scham- und Höflichkeitsregeln im Netz zu begünstigen.
Dieses mittlerweile beinahe omnipräsente Marodeurstum kann nicht ohne Rückwirkung auf diejenigen bleiben, an die es meist gerichtet ist: Personen, die sich beruflich in der Öffentlichkeit bewegen.
Ein öffentliches Amt zu bekleiden verlangt heute automatisch die Bereitschaft, sich ununterbrochen einer Vielzahl von Schmähungen und Beleidigungen auszusetzen. Wer zum Beispiel Spitzenpolitiker sein möchte, muss bei der Sichtung seiner persönlichen Korrespondenz viel Langmut mitbringen. Denn was sich täglich an Zuschriften in elektronischen und realen Postkörben findet, ist mit dem Begriff Zumutung meist noch freundlich umschrieben.
Beschimpfungen, Drohungen und Beleidigungen finden sich dort auch an normalen Tagen gleich dutzendfach, nach besonderen Ereignissen kann die Schmähkorrespondenz mit dem geballten Volksunmut leicht auf mehrere tausend Zuschriften anschwellen. An sich gut gemeinte Websites wie „Abgeordnetenwatch.de“ zwingen Parlamentarier, auch noch zu den obskursten politischen Fragen Stellung zu nehmen, Paketsendungen, die gebrauchte Haarbürsten („Mindestlohn“), verrostete Münzsammlungen („Euro-Krise“) oder schlicht Hausmüll („kommunale Gebühren“) enthalten, sind an der Tagesordnung. Das Verhältnis von sinnvollen, die Regeln des Umgangs beachtenden Zuschriften zum bloßen Kommunikationsschrott beträgt in der Regel 1:10.
Die Schamlosigkeit, mit der in Blogs, Online-Kommentaren und E-Mails Politiker – ganz gleich, welcher Partei sie angehören – angegriffen und niedergemacht werden, müsste eigentlich jedem Menschen mit ein bisschen Kinderstube die Schamesröte ins Gesicht treiben. Die Schmähungen beziehen sich auf alle Teile des Politiker-Körpers, auf vermeintlich gemachte Aussagen (gerade nach Fernsehsendungen stellt sich immer wieder heraus, dass die vom Volkszorn inkriminierten Sätze gar nicht gefallen sind), auf die persönlichen Lebensumstände und natürlich auch auf die politische Verortung eines Amtsträgers. Da ist regelmäßig von „endlich die hässliche Fresse operieren“ die Rede, Aufforderungen wie „Maul halten“ sind noch höflich, und Hinweise darauf, dass sich die Privatadresse „leicht herausfinden“ lässt, absolut normal.
Es handelt sich bei dieser Art der Kommunikation nicht um bewusste, rationale Einflussnahme auf politische Willensbildungsprozesse – die gibt es auch –, sondern um psycho-pathologische Aussetzer, die ein Ventil suchen.
Besonders intensiv werden derartige Diffamierungen nach großen Fernsehauftritten. Offenbar verschaffen sich nicht unerhebliche Teile des Fernsehpublikums dadurch Triebabfuhr, dass sie sich direkt nach der Sendung an den Rechner setzen, um dort in E-Mails so richtig Luft abzulassen. Regelmäßig setzen die Verfasser derartiger Botschaften ultimative Fristen zur Beantwortung ihrer Eingaben – selbst dann, wenn sie weder eine Frage gestellt, noch eine in irgendeiner Form kommentierbare Aussage gemacht haben.
Allerdings rechnen die Verfasser in der Regel mit gar keiner Antwort. Sie wollen ignoriert werden, um so ihren Zorn über die abgehobenen Politiker weiter zu steigern – und sind dann stets erstaunt, wenn ihnen Menschen aus Fleisch und Blut antworten und sie unter Umständen sogar ob ihres Tonfalls zur Rede stellen.
Dahinter steckt ein Phänomen, dass die Kommunikationswissenschaft „parasoziale Interaktion“ nennt: Medienkonsumenten haben den Eindruck, in unmittelbaren Kontakt mit einem Politiker zu treten, wenn dieser per Fernsehbild in ihrer Wohnung erscheint. Gleichzeitig gibt es aber ein tieferes Bewusstsein für die Irrealität dieses Kontakts. Prototypisch hierfür ist der Fernsehzuschauer, der auf Thomas Roths stereotypes „Guten Abend, liebe Zuschauer“ mit einem freundlichen „Guten Abend, Herr Roth“ antwortet.
Wechseln die TV-Konsumenten dann vom Fernseher an ihren PC und schreiben an einen Politiker, wird aus einkanaliger Massenkommunikation plötzlich interaktive Individualkommunikation – freilich oft, ohne dass die Leute den Wechsel des Kommunikationsmodus’ überhaupt erkennen, denn ihre empörten Zuschriften richten sie ihrem subjektiven Gefühl nach nicht an eine lebende Person, sondern an einen abstrakten Rollenträger irgendwo in der virtuellen Welt des Internets, dem man mal so richtig die Meinung sagen kann.
Die immer ungehemmtere Triebabfuhr auf Knopfdruck ist nicht nur ein Indiz dafür, dass das politische System an Legitimität verliert, es ist auch ein Zeichen für den Niedergang der persönlichen Autorität von Politikern. Niemand würde seinem Arzt, seinem Bankberater und erst recht nicht seinem Chef solche Beleidigungen an den Kopf werfen, wie ein – der Quantität derartiger Zuschriften nach zu urteilen, nicht vollkommen unerheblicher – Teil der Bevölkerung dies gegenüber seinen gewählten Repräsentanten tut.
Politiker werden so zu Opfern des demokratischen Postulats, dass politische Repräsentanten für das Volk erreichbar sein müssen. Denn erreicht werden sie zunehmend von den Falschen. Die Lektüre und Bearbeitung derartiger Korrespondenz nimmt einen erheblichen Teil der Zeit von Amtsträgern und ihren Mitarbeitern in Anspruch und kann zudem nicht ohne Einfluss auf ihr Weltbild bleiben, sie begegnen hier ja einem schmalen, aber hochgradig präsenten und fordernden Teil ihres Elektorats.
Trotzdem sind die quälenden Bürgerzuschriften ein tabuisiertes Thema, über das auch Politiker untereinander kaum reden – schon deshalb, weil solche Briefe das Selbstbild destabilisieren und man sie deswegen am liebsten verdrängt.
Öffentlich thematisiert haben die beständige Bedrängung durch öffentliche Schmähung kürzlich erstmals die Piraten-Politikerinnen Julia Schram und Marina Weisband. Julia Schramm schrieb in der Süddeutschen Zeitung:
„Es ist üblich geworden, Menschen die in irgendeiner Form aus dem Brei der (Netz-)Menschen herausstechen, anzugreifen. Jede sichtbare Person wird bekämpft, beleidigt und beschimpft.“
Gemessen an den epidemischen Ausmaßen derartiger Attacken, sind die Reaktionen erstaunlich zurückhaltend: Gelegentlich wird ein besonders schlimmer Brief zur Erstellung einer Gefährdungsanalyse an das BKA weitergeleitet, Strafanzeigen sind die absolute Ausnahme. Vielmehr bemühen sich die persönlichen Büros von Politikern, alles an Zuschriften zu beantworten, was auch nur irgendwie antwortfähig ist. Das sorgt zumindest in einem Teil der Fälle für Beruhigung an der Oberfläche. Und abstellen lassen sich solche Attacken offenbar nicht. Vielmehr sind sie mittlerweile zu einem fast normalen Bestandteil hoch erregter Öffentlichkeiten geworden.
Verfliegt der Rausch der Vernetzung?
Die hier kurz durchmusterten Phänomene zeigen: Die Öffentlichkeit ist seit einigen Jahren in einem rauschhaften Zustand, und die Droge der universellen Vernetzung tut ihr nicht gut. Zeit zum Nachdenken bleibt kaum noch, denn eine Erregungswelle jagt die nächste, und jeder hat die Chance, daran teilzuhaben, indem er einen Skandal anprangert oder einen Shitstorm entfacht.
Die Doppelbewegung, die jede anklagende, verleumdende oder desinformierende Äußerung im Internet mit sich bringt, ist dabei den wenigsten Menschen bewusst: Denn wer im Netz pöbelt, trifft nicht nur denjenigen, auf den er zielt, sondern verrät auch Dinge über sich selbst. Dem Reich der scheinbar grenzenlosen Freiheit, das zur vermeintlich folgenlosen Triebabfuhr einlädt, steht eine immer rigidere und perfektioniertere Kontrolle gegenüber, die auch das prekäre Anonymitätsversprechen von temporären E-Mail-Adressen und tarnenden User-Namen zur Farce werden lässt.
Der Schatten, den unsere eigenen Daten werfen, ist viel länger als wir es vermuten. Ob dies freilich zu Verhaltensänderungen führt, bleibt abzuwarten.
Hoffnung sollten wir eher darauf setzen, dass das Spiel beginnt, langweilig zu werden: Wie Skandalisierungen funktionieren, wird im Big-Data-Zeitalter immer leichter voraussagbar. Und nur noch, wen es dann trifft, liegt außer dem Bereich der Kontrolle.
Gleichzeitig werden die uns umgebenden Erregungswellen immer fadenscheiniger, ihre Folgenlosigkeit mit jedem Mal offensichtlicher. Denn wenn ein Shitstorm auch vorgibt, einen Missstand anzuprangern und damit ein politisches Instrument zu sein: in der Regel verändert er nicht die Welt, sondern beschädigt nur die Reputation einer Person oder Organisation.
Auch das kann ein politischer Akt sein, doch nachhaltig ist dieser in den seltensten Fällen. Eine echte Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse ist viel komplizierter als das berühmte „click here to safe everything“, es suggeriert und verlangt zumindest ein duales Vorgehen in Netz- und realer Lebenswelt. Wenn die Verbesserung der Welt per Knopfdruck steuerbar wäre, würden wir in anderen Verhältnissen leben.
Bleibt noch die Frage der Moral.
Zunehmend regt sich im Netz so etwas wie schlechtes Gewissen. Dass hinter der Belustigung, Empörung und Erregung menschliche Schicksale stehen, spricht sich in dem Maße herum, in dem immer mehr Menschen von Skandalisierung betroffen sind. Auch dies trägt dazu bei, dass der Rausch der Vernetzung verfliegt.
Es ist an der Zeit für das Umschalten von Resonanz auf Relevanz. Barack Obama hat am 13. Januar 2011 bei der Trauerfeier für die Opfer des Amoklaufs von Tucson einen bemerkenswerten Satz gesagt: „In Zeiten eines sehr polarisierten Diskurses sollten wir wieder in einer Art und Weise miteinander reden, die heilt und nicht verletzt. Ich bin überzeugt, wir können es besser.“[1]
[1] Pörksen, Bernhard & Detel, Hanne (2012): Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter, Köln.
[2] Klausnitzer, Rudi (2013): Das Ende des Zufalls. Wie Big Data uns und unser Leben vorhersagbar macht, Salzburg.
[3] http://www.mediaculture-online.de/fileadmin/bibliothek/jenninger_rede/jenninger_rede.pdf
[4] Roland Kirbach (2005): Zum Abschuss freigegeben; in: Die Zeit Nr. 24 vom 9.6.; http://www.zeit.de/2005/24/Medienopfer.
[5] Ebd.
[6] Vgl. Bergmann, Jens u. Pörksen, Bernhard, Hg. (2009): Skandal. Die Macht öffentlicher Empörung, Köln, S. 14f.
[1] Zit. n. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 14.1.2011, S. 1.
Literatur
- Hachmeister, Lutz (2007): Nervöse Zone. Politik und Journalismus in der Berliner Republik, München.
- Kirbach, Roland (2005): Zum Abschuss freigegeben; in: Die Zeit Nr. 24 vom 9.6.; http://www.zeit.de/2005/24/Medienopfer.
- Klausnitzer, Rudi (2013): Das Ende des Zufalls. Wie Big Data uns und unser Leben vorhersagbar macht, Salzburg.
- Pörksen, Bernhard u. Detel, Hanne (2012): Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter, Köln.
- Bergmann, Jens u. Pörksen, Bernhard, Hg. (2009): Skandal. Die Macht öffentlicher Empörung, Köln.
Überarbeitete Fassung einer Rede im Rahmen des 5. Medienkongresses Villingen-Schwenningen am 4.4.2014