#Populismus

Diesseits des Populismus: Wir leben in pluralen Gesellschaften

Was nun als Populismus (Ethnochauvinismus, Ethnonationalismus, Tribalismus) bezeichnet wird, kommt nicht von irgendwo, sondern ist das Ergebnis vererbter Denkmuster.

von , 20.5.19

Darf ich in zwei Teilen auf Àgnes Heller antworten? Der erste ist eine allgemeine Erörterung des metaphorischen Terrains, der zweite ist ein wenig persönlicher, und dazwischen liegen mehr Fragen als Anregungen. Zunächst, ein Geständnis. Die Position, aus dem ich mich dem Thema annähere? In einem Wort: Schadenfreud’sch.

Warum?
Der Ort, der Raum und die Zeit, die das Thema hervorbrachten; die Tatsache, dass man ein Geschöpf aus einer jener nachaufklärerischen, von der Welt erdachten Alteritäten ist, der Orte, deren tatsächliche Existenz- und Bedeutungsnarrative überschrieben und dann anderswo beharrlich neugestaltet worden sind, mit einer auferlegten Sprache, die nicht von ihnen stammt, deren Lebenserfahrungen als »exotisch« oder »absurd« behandelt werden, deren Erleben des sogenannten „Populismus“ als menschliche Anomalien abgetan wurden und nicht als Anzeichen dafür, was sich in jeder menschlichen Gesellschaft und zu jeder Zeit entfalten kann; deren Bevölkerung zu lange endlose Predigten von mehrheitlich europäischen oder amerikanischen weltlichen Missionaren erduldet hat, die ihnen die Vorzüge einer säkularen Dreifaltigkeit aus »Demokratie«, »Menschenrecht« und »Rechtsstaatlichkeit« darlegten, und die in vergeblicher, zorniger Hilflosigkeit zusehen musste, wie jene unheilige Dreifaltigkeit Ländern wie Irak, Libyen oder Afghanistan von ähnlich gesinnten Predigern gewaltsam auferlegt worden ist und das ohne jedes Verständnis für die Ironie, dass Millionen Menschen dabei den Tod fanden und finden … nun, da ich von so einem Ort stamme … bin ich zutiefst erstaunt über die Vielfalt des menschlichen Widerstands, der sich gegen das, was einst als Zustand einer »progressiven«, »normalen« Weltordnung verstanden wurde, regt.

Es muss sich eine philosophische oder theologische Bestätigung dafür finden, dass es eine Grenze gibt, bis zu der der menschliche Geist Heuchelei ertragen kann, bevor er nach einem Ausweg sucht und jedem beliebigen Menschen folgt, der ihm diesen neuen Weg verspricht.

Wie dem auch sei, nun zum Thema Populismus.

Zunächst einmal, warum sind wir hier? Nein, nicht »wir«, die flüchtige digitale Gemeinschaft von Ideen, sondern Wir, die Menschheit? Ja, ja, ich werde jetzt ein wenig ontologisch. Um es noch komplizierter zu machen, widme ich mich auch noch der Axiologie: Was wertschätzen wir? Was halten wir für besser? Ferner, wenn ich »wir« sage, gehe ich dann davon aus, dass »unser« aller Empfinden und Wahrnehmen von und Denken über bestimmte Werte, Prinzipien und Ideale gleich ist? Was ist mit denen unter uns, die sich mehr und mehr der Ansicht einer »Pluriversalität« verschreiben (wie sie etwa Franz Hinkelammert, Enrique Dussel, Raymundo Pannikar und natürlich Walter Mignolo nahelegen, also im Wesentlichen der Auffassung, die die Vorstellung des vermeintlich »Universalen« ablehnt)? Sollte der derzeit einen Teil unseres Pluriversums beherrschende »Populismus« uns überhaupt interessieren? Warum sollen wir uns mit etwas auseinandersetzen, das in jedem Ausmaß und zu jedem Zweck lediglich eines von einer Reihe verstörender Phänomene ist, die dieses scheinbar apokalyptische Zeitalter prägen? Ist das derzeitige Unbehagen über den Populismus in Anbetracht dessen gerechtfertigt, dass er schließlich der kollektiven Menschheitserfahrung keineswegs fremd ist? Was genau liegt diesem Unbehagen der kollektiven Seele zugrunde? Die Angst vor der Rückkehr und dem Aufmarsch eines nur allzu vertrauten ruhelosen Geistes oder die unterdrückte Trauer über den Verlust scheinbarer Gewissheiten?

Dem allgemeinen Verständnis nach ist der Populismus unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass sich zu irgendeinem Zeitpunkt ein Demagoge auf ein Podium schwingt und im Namen »des Volkes« zumeist rechtswidrige Parolen schreit. Das »Schreien« ist ein Thema an sich und muss gesondert betrachtet werden. Es scheint, als ob der schnellste Weg des politischen Aufstiegs selbst in Europa und Amerika darin bestünde, den Glaubenssätzen und Prinzipien der politischen Korrektheit eine lange Nase zu drehen.

Da muss man sich fragen, ob ein Teil der Ausbreitung dessen, was heutzutage in der liberalen Presse als Geschwür wahrgenommen wird, der Abwesenheit von Foren geschuldet ist, in denen man sich direkt äußern kann, ohne vorherige Prüfung auf Anzeichen allgemeiner Unruhestiftung. Es ist einfacher, sich zur Menge derer zu gesellen, die ihre Liebe zur »Demokratie« verkünden, als dem inneren Verlangen nachzugeben, von einem Caudillo regiert zu werden, besonders wenn der, der dieses Verlangen hegt, ebenfalls ein gebildeter Mensch ist.

Als afrikanische Weltenbummlerin, die sich in verschiedene Räume menschlicher Begegnungen vorwagt, augenscheinlich freundlich gesinnt ist und für niemanden Partei ergreift, sah ich einige in der Öffentlichkeit getragene Masken im privaten Umfeld fallen. Vor zwei Jahren speiste ich mit einem Evolutionsbiologen, der später in sarkastischem Tonfall gestand, er habe Mr. Donald John Trump gewählt und wünsche dem 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten ein langes Leben. Das hätte er nie gefahrenlos in der Öffentlichkeit oder gegenüber Gleichgestellten einräumen können. Er wusste, dass er dann diffamiert, abgestempelt und ausgebuht worden wäre und anschließend seine Stelle verloren hätte. Aufgestauter Druck wird ein Ventil finden, selbst wenn er dadurch eine schreckliche Explosion auslöst, oder etwa nicht? Nun stellt sich eine weitere Frage: Trägt so etwas dazu bei, die Vorstellung von »Demokratie« zu begrenzen? Und ist ebendies denn nicht der Samen für eine Auflehnung gegen Einschränkungen, ist es nicht das, was in »Populismus« (oder Ethnochauvinismus, Ethnonationalismus, Tribalismus) umschlägt?

Jenseits des Anspruchs, jenseits von dessen Synonymen, welch verstörende Frage lauert da im menschlichen Kollektivbewusstsein? Was fürchten die Menschen so, dass jeder falsche Prophet nicht nur Gehör, sondern auch eine Wählerstimme findet? Was hat eine Gesellschaft, die sich vom Populismus gestört fühlt, als Gegennarrativ oder Erkenntniskritik zu bieten, die machtvoll und inspirierend genug sind, um diese Energie zu zerstreuen? Und die Betrachtung dieser Fragen birgt eine weitere Wahrheit in sich, die ans Tageslicht kommen muss – nämlich unsere beständigste Menschheitsangst, die Angst vor dem Fremden. Die Angst, die unsere wundervolle Welt an den Abgrund geführt hat. Der bescheidene Umfang dieses Briefes gestattet es mir nicht, mich in und durch die Wunden der Menschheit zu graben und zu deren Ursache vorzudringen, zur Wurzel, aus der sich die derzeitige Existenzkrise speist, der Vorstellung von Regierungshandeln und der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit damit. Seine Ausprägung unterscheidet sich je nach Kontext. Im angloamerikanischen Raum fallen die aggressivsten Reaktionen mit dem Zustrom derer zusammen, die als »fremd« betrachtet und in schöner Regelmäßigkeit verzerrt dargestellt werden. Aber warum ist das so? Welchem Erkenntnissinn entspringt dieser Impuls? Wenn sich das herausfinden ließe, könnte man dann direkt benennen, welches »Unbehagen« das Symptom im Menschen verursacht, das wir heute als »Populismus« kennen? Und welchen Sinn hätte das? Was ist das beste zur Verfügung stehende »Angebot«, das es aus sich heraus vermag, die positiven Sehnsüchte jener zu wecken, die nun auf der Suche nach volksverhetzenden Erlösergestalten sind, die ihren Träumen (und anderer Leute Albträumen) Ausdruck verleihen? Ist das überhaupt möglich?

Dennoch ist es faszinierend zu lesen, wie sich Absicht und Bedeutung des Populismus schneller als die Versprechen eines kenianischen Politikers gewandelt haben, seit der Begriff erstmals 1891 bei der Gründung der Populist Party in den USA auftauchte. Seine Existenz wurde von innerem Tribalismus, Rassismus und Exklusivismus korrumpiert – plus ça change, plus c‘est la même chose (Was sich auch ändert, es bleibt doch alles gleich). Das machte ihn dafür anfällig, dass andere jederzeit und auf jede Art von ihm Besitz ergriffen. Seine Kernbestandteile werden noch immer durch die Unzufriedenheit des Volkes aufgerüttelt, durch empfundene Ungleichheiten, er spricht die heimlichen Sorgen der Menschen an, ihre Müdigkeit angesichts des Verlustes von »Werten« und das starke Gefühl, das System sei »manipuliert«, die Angst vor dem »Fremden«, ergänzt durch eine demagogische Führerfigur, die eine Vision für die Wiederherstellung oder Realisierung eines Ideals bietet. 

Ein Freund, der Schriftsteller Binyavanga Wainaina, saß in einem Café in Nairobi und kritisierte einen ersten Entwurf meines Buches Der Ort, an dem die Reise endet. Ich war unverzüglich dorthin einbestellt worden, nachdem er mir am Telefon ohne Vorwarnung mit ziemlich ernster Stimme verkündet hatte: »Yvonne, das ist Mist.«

Unter den vielen seiner Vorschläge, um die Geschichte in Gang zu bringen und den Text zu ordnen, befand sich dieser (und ich umschreibe ihn völlig): Triff den Kern der Situation. Triff das Wesen eines Wortes. Das Wort »Biest« ist wirksamer und vermittelt das, was du in diesem Kontext ausdrücken willst, viel besser als das Wort »Tier«. Authentizität, betonte er. Wenn du über den Abgrund schreiben willst, dann spring gefälligst hinein, sieh dich dort um und gib ihm dann den ehrlichsten Namen – Hölle. Und dann schreib, zum Teufel, darüber.

Es ist etwas an dem Wortschatz, etwas an den Worten, mit der wir eine Situation umschreiben. Man ist vorsichtig damit, mit welchem Wort man sich auf ein für einen bestimmten Raum typisches Phänomen bezieht: Wenn es in Subsahara-Afrika auftritt, ist es »Tribalismus«, in Osteuropa ist es »Ethnonationalismus«, in Westeuropa oder Amerika ist es »Populismus«, in Asien ist es häufig »Ethnochauvinismus«, richtig?

Warum?
Was will man damit bezwecken?
Will man das Groteske hierarchisieren?
Wer ist daran schuld? Ist es der noch immer heiliggesprochene Charles Darwin, sein »Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein« und seine Apostel? Ist dieser Sprachgebrauch dann sinnbildlich für die Menschheitskrise, die im Mittelpunkt dieser … Erscheinung steht? Würde die Einigung auf eine gemeinsame Sprache im Umgang mit dem geteilten Übel etwas für diejenigen ändern, die gern hoffen und andere Träume haben würden?

Agnes Hellers messerscharfe Erörterung dieser Widersprüchlichkeiten lenkte meine Aufmerksamkeit auf das Konzept des »Languaging« und welche Wege es eröffnet, versperrt oder kanalisiert.

»…. Ich würde stattdessen eher von einer Art Refeudalisierung sprechen. Diese ethnonationalistischen Parteien behaupten nicht einmal, das ›Volk‹ zu unterstützen; sie unterstützen die ›Nation‹. Sie nehmen für sich in Anspruch, die Nation gegen all deren Feinde […] zu verteidigen.«   
Agnes Heller (2019)

Diktator. Tribalist. Ethnochauvinist. Man kann Mr. Trumps drastische antimexikanische, antimuslimische Statements mit jeder der Äußerungen aus dem Kabinett unserer widerlichsten heimischen Demagogen in Zusammenhang bringen. Das Nützlichste, was man über das Groteske wissen kann, ist, dass es die Realität und die Menschheit mehr oder weniger auf gleiche Weise verzerrt, ganz gleich, wo es auf der Welt auftritt. Und daher bin ich nun für Wörter, die ins Mark schneiden, egal, wer auf dem Seziertisch liegt, denn wir suchen nach einem Gegenmittel, falls das überhaupt möglich ist. 

Was man mittlerweile versteht, zumindest wenn man Schlüsse aus der großen Datenbank der Geschichte zieht, ist, dass ein aufbrandender Populismus wie ein Kanarienvogel in einem Bergwerk ist und darauf hindeutet, dass Gase aus einer gewöhnlich unausgesprochenen, unabgebildeten, unartikulierten, großen Existenzkrise der Menschheit aufsteigen. Es ist dieser undurchdringliche Schatten der Existenzkrise, die Benennung des Unbehagens in Herz und Seele, die nach einer lückenlosen Sprache verlangt, damit wir tatsächlich erkennen können, welche Wege aus dem Abgrund sich durch Wahrhaftigkeit herausschürfen lassen. (Euphemismen, selbst die bequemsten, scheiden dabei aus).



Dieser Beitrag ist Teil einer Medienkooperation von CARTA mit dem Goethe-Institut.Im Projekt »Diesseits des Populismus« stellen wir in globalen Gesprächen zwischen Budapest, Kairo, Brasilia, Nairobi, Moskau, Salzburg und Zürich gängige Erzählungen der Populisten in unterschiedlichen Ländern zur Debatte: Hat die »Elite« tatsächlich den Kontakt zum »Volk« verloren? Was bedeutet es wirklich, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen? Was verbirgt sich hinter der Floskel »Das muss man doch noch sagen dürfen«?

Der Beitrag von Yvonne Adhiambo Owuor ist zuerst auf goethe.de/zeitgeister erschienen. 

Der Aufruf zum Projekt »Diesseits des Populismus« von Jonas Lüscher und Michael Zichy ist ebenfalls auf goethe.de/zeitgeister erschienen.


Weitere Beiträge in der Reihe »Diesseits des Populismus«:

Ágnes Heller: »Refeudalisierung ist der treffendere Begriff«

Michael Zichy: »Wer ist Bürger? Und wer nicht?«

Carol Pires: »Über den (Miss-)Erfolg von Bolsonaro«

Maria Stepanova: »Haben die Intellektuellen versäumt, Alternativen zum Ressentiment anzubieten?«

Naren Bedide: »Populismus ohne Volk«

Carol Pires: »Bolsonaro und der tropische Protofaschismus«

Yvonne Adhiambo Owuor: »Die Seuche, die Populisten und wir«

Youssef Rakha: »Wir, die Populistinnen und Populisten«

Yvonne Adhiambo Owuor: »Die Seuche, die Populisten und wir (II)«

Naren Bedide: »Indien ist die Pandemie«

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