#Populismus

Diesseits des Populismus: »Indien ist die Pandemie«

Es war die Demokratie, wenn auch in ihrer rudimentärsten Form, die bei den Migrant*innen den Impuls auslöste, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und nach Verbesserungen zu streben. (...) Hätten die westlichen Ideale der Demokratie und der Menschenrechte tatsächlich versagt, wäre ich als Angehöriger einer niederen Kaste niemals in der Lage gewesen, meine Meinung kundzutun.

von , 25.11.20

Indien steht vor der wahrscheinlich schlimmsten Krise in seiner Geschichte. Ein desolates öffentliches Gesundheitssystem, massive Arbeitslosigkeit, politische Arroganz und, als ob das nicht schon genug wäre, eine globale Pandemie drohen, eine Gesellschaft zerbrechen zu lassen, die nie geeint war. Eine Medienkooperation mit dem Goethe-Institut.

Vor einigen Tagen war in einer führenden indischen Zeitschrift die Meldung zu lesen, dass 78 Prozent aller Covid-Patient*innen nur über Kontakte und Einflussnahme ein Bett auf der Intensivstation erhalten würden. Vor dem Coronavirus wurden mehr als vier Fünftel aller Gesundheitsausgaben privat finanziert. Dies bedeutet, dass es im Grunde kein wirkliches »staatliches« Gesundheitssystem gab. Seit März waren schließlich alle verfügbaren staatlichen Gesundheitseinrichtungen derart überlastet, dass sie für die Armen und Unterprivilegierten noch schwerer zugänglich waren.

Das Virus spaltete die indische Gesellschaft auch in anderen Bereichen. Aus Marias Sicht waren die Arbeitsmigranten »schon vor der Pandemie […] faktisch rechtlos«. Dies bringt eine Situation auf den Punkt, die in Indien ganz besonders drastische Züge annimmt. Durch den Lockdown verloren mehr als ein Drittel der indischen Beschäftigten – hoffentlich nur vorübergehend – ihren Arbeitsplatz. Und das sind nur vorsichtige Schätzungen. Zum überwiegenden Teil sind davon Arbeiter*innen betroffen, die zwischen den Bundestaaten zu- und abwandern.

Eine Mehrheit von ihnen befand sich, wie über 90 Prozent aller indischen Arbeitnehmer*innen, in informellen Beschäftigungsverhältnissen. Die meisten dieser Tagelöhner*innen verfügen über keinerlei Leistungsansprüche, Absicherungen oder Sicherheitsnetze. Sie arbeiten als Hausmädchen, Köche, Bauarbeiter aller Art, Fahrer, Ordner und Wachleute, als Maler, Diamantenschneider, Kellner, Köche, Landarbeiter*innen und in Millionen anderen Formen der Lohnsklaverei. Für sie war der Lockdown von Armut, Dürre, Überschwemmungen, Arbeitslosigkeit, Hunger, Gewalt gegen Angehörige tieferer Kasten und all die anderen, um ein Vielfaches verstärkten Katastrophen geprägt.
 
Ohne Jobs, Ersparnisse und Hoffnungen für die nähere Zukunft traten viele von ihnen die Heimreise an. Sie gingen zu Fuß, weil es keine anderen Transportmöglichkeiten gab: keine Busse, Züge oder Flugzeuge (die sie sich ohnehin nicht hätten leisten können). Ganz gleich, ob dieses Zuhause 500 oder 1500 Kilometer entfernt lag. Auf diese Weise setzte im März 2020 die größte bisher bekannte Migrationswelle in der Geschichte der Menschheit ein. Der Marsch dauerte bis Juni 2020 an, als die Zentralregierung und die Regierungen der Bundesstaaten erneut einige Zug- und Busverbindungen freigaben. Innerhalb dieses Zeitraums begaben sich nach unterschiedlichen Schätzungen insgesamt 20-40 Millionen Menschen auf den Fußmarsch.

Es muss noch einmal betont werden, dass es in Indien Ereignisse wie die des Sommers 2020 – eine Migration von Millionen von Menschen innerhalb kürzester Zeit – nie zuvor gegeben hat. Eine Ausnahme bildet die Teilung Indiens als weiteres einschneidendes Ereignis, von dem in den späten 1940er Jahren etwa 14 Millionen Menschen betroffen waren. Und die Tragödie in Syrien ist zwar eines der jüngsten Beispiele, doch wenn die genannten Schätzungen zutreffen, dann haben sich durch die Pandemie in Indien mehr Menschen auf den Weg gemacht.

Der wichtigste Unterschied zwischen diesem Exodus und anderen Migrationsbewegungen bestand darin, dass die Menschen in diesem Fall nicht ihr Zuhause verließen, sondern es erreichen wollten. Sie hatten sich also schon einmal auf den Weg begeben, und viele von ihnen taten es als Saisonarbeiter*innen Jahr für Jahr. Wenn man davon ausgeht, dass hinter jeder Wanderbewegung eine unausweichliche Krise oder Katastrophe steckt, dann kannten diese Migrant*innen ihre Feinde nur zu gut und hatten gelernt, mit ihnen zu leben.

Das Leben in ihren indischen Heimatdörfern folgte schon immer einer strengen Ordnung, die jegliche Form der Individualität unterbinden sollte. Das Kastensystem unterteilt alle Menschen in Gruppen (in ganz Indien gibt es nahezu 6 000 Kasten und jeweils 200-500 in den einzelnen Bundestaaten) und fügt sie in eine Hierarchie ein, die von den herrschenden Kasten der Brahmanen und der Landbesitzer angeführt wird. Alle natürlichen Ressourcen, darunter auch Land und Wasser, werden nach der Rangordnung der einzelnen Gruppen oder Kasten oder Jati (was wörtlich übersetzt Geburtsgruppe bedeutet) vergeben.

Jegliche Form des Aufstiegs, beispielsweise durch Heirat, wird durch das Gebot der Endogamie unterbunden und durch klassenbezogene oder materielle Unterschiede – zwischen den oberen und den unteren Kasten – zusätzlich erschwert. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet auch die religiöse Ideologie, die um die Begriffe von Reinheit und Beschmutzung kreist. Auch laterale Bewegungen sind durch die archaischen Regeln der Endogamie streng verboten. Auf diese Weise wird jegliche Form einer grundlegenden sozialen Interaktion unterbunden.

Was Marx als Stagnation bezeichnete, beschrieb Ambedkar etwa ein Jahrhundert später als »Senkgrube«. Beide bezogen sich damit auf das indische Dorf und beide meinten damit, dass sich dort nur schwer soziale Veränderungen durchsetzen ließen. Nach Ansicht von Marx war eine »Akkumulation« hier nicht möglich, weil alle Überschüsse sofort abgeschöpft würden (eine Ansicht, die später bis zu einem gewissen Grad in Frage gestellt wurde). Ambedkar dagegen war der Auffassung, dass es sich bei der Aufteilung der Arbeit nach dem Kastensystem nicht nur um eine funktionale Aufteilung, sondern eigentlich um eine ‚Aufteilung der Arbeitskräfte‘ handelte, mit der sichergestellt werden sollte, dass sich die niederen Kasten nicht zusammenschließen konnten, um einen Umsturz der herrschenden Kasten herbeizuführen.
 
Heute, im Jahre 2020, sind die Wanderbewegungen der Arbeitsmigrant*innen (aus den Dörfern und in die Dörfer) wieder einmal ein Beleg dafür, dass Marx mit seinen scharfen Beobachtungen vor fast zwei Jahrhunderten und Ambedkar mit seinen Erkenntnissen vor etwa einem Jahrhundert richtig lagen.

Die Stärkung der ‚Immunität‘ hat sich in den vergangenen Monaten in ganz Indien und weltweit zu einem Mantra entwickelt. Wenn wir den Begriff (der Immunität) ein wenig über den Bereich der körperlichen Gesundheit erweitern und auf die indische Gesellschaft anwenden, dann erkennen wir, dass diese von Gefahren bedroht ist, die nicht wie die der Pandemie auf Zufall beruhen. Ihre Immunabwehr wurde durch das Kastensystem schon vor langer Zeit grundlegend geschwächt. Indien selbst ist die Pandemie, und das Coronavirus versetzt der schon lange schwächelnden sozialen Gesundheit der Unterschichten nur einen weiteren Schlag.

Vor fast hundert Jahren sagte Dr. B. R. Ambedkar zu Gandhi, der für die Unabhängigkeit von Großbritannien kämpfte: »Verehrter Gandhi, ich habe keine Heimat.« Während Gandhi die Interessen der Oberschicht (im Grunde der oberen Kasten) in der indischen Gesellschaft vertrat, setzte sich Ambedkar für die »Unberührbaren« und alle weiteren niederen Kasten ein, welche die Mehrheit der indischen Bevölkerung ausmachten.

Besonders vernehmlich scheinen Ambedkars Worte auf diesem Marsch der Wanderarbeiter*innen widerzuhallen. Die Migrant*innen bilden zwar nur eine kleine, aber bedeutende Gruppe und machen deutlich, unter welch prekären und belasteten Bedingungen die Mehrheit in den niederen Kasten Indiens lebt. In den vergangenen hundert Jahren haben die meisten von ihnen offenbar keine Heimat in ihren eigenen Dörfern gefunden. In vielerlei Hinsicht bringen die anderen Teilnehmer*innen in ihren Beiträgen zu dieser Debatte die Sache auf den Punkt, und doch gibt es in weitaus mehr Fragen offenbar deutliche Unterschiede.

Die Wanderarbeiter*innen hatten an ihren Heimatorten, wo die materiellen Bedingungen insgesamt nicht viel Spielraum für Veränderungen lassen, keine Möglichkeit, ihre Immunität zu stärken. An ihrem Arbeitsplatz in den Städten war eine solche Stärkung, die über eine Existenzsicherung hinausging, ebenfalls nicht möglich. Allerdings stellt der Wandertrieb an sich schon einen großen Fortschritt in ihrer Lebensrealität dar. Auf der einen Seite gab es also Veränderungen, auf der anderen Seite jedoch nicht.

Aus diesem Grund kann ich mich Michaels Enttäuschung über den Zustand der Demokratie und anderer Ideale der westlichen Welt nicht ganz anschließen. Denn es war die Demokratie, wenn auch in ihrer rudimentärsten Form, die bei den Migrant*innen den Impuls auslöste, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und nach Verbesserungen zu streben. Sich Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen zu verschaffen, sich endlich um grundlegende Bildung zu bemühen und eine Verbesserung ihrer Lebensumstände anzustreben.

Hätten die westlichen Ideale der Demokratie und der Menschenrechte tatsächlich versagt, wäre ich als Angehöriger einer niederen Kaste niemals in der Lage gewesen, ein Forum wie dieses zu nutzen, um meine Meinung kundzutun. Allerdings blieben die meisten Versprechen der Demokratie bisher unerfüllt. Darauf sind auch die Wanderbewegungen aus der und in die Heimat zurückzuführen.

In der Debatte über die Demokratie bleibt unberücksichtigt, dass die herrschenden Klassen außerhalb der westlichen Welt, insbesondere in Ländern wie Indien, die Techniken der Machtausübung (die ebenfalls aus dem Westen stammen) viel umfangreicher nutzten, als die niederen Klassen von ihren Rechtsmitteln Gebrauch machen konnten.

An dieser Stelle müssen wir verstehen, dass die Pandemie wesentlich zu einer weiteren Spaltung Indiens beigetragen hat, und auch hier wieder einen Zusammenhang zum Lockdown und zu den anschließenden Wanderbewegungen herstellen. Die Migrant*innen stammten mehrheitlich aus den Bundesstaaten im Norden und Osten, ihre Arbeitsplätze befanden sich dagegen vor allem in den Bundestaaten im Westen und Süden. In diesen – relativ betrachtet – wohlhabenderen Bundesstaaten gab es Arbeitsmöglichkeiten, höhere Löhne und bessere wirtschaftliche Möglichkeiten. Beispielsweise lagen die Pro-Kopf-Einkommen hier um das 3- bis 6-Fache über denen in den Herkunftsstaaten der Wanderarbeiter*innen. Wie überall auf der Welt trugen wirtschaftliche Bedingungen maßgeblich zu den Migrationsbewegungen bei.

Doch es gab noch einen weiteren wesentlichen Unterschied zwischen den Heimatstaaten und den Zielstaaten, der sich nicht vollständig mit wirtschaftlichen Maßstäben erfassen lässt. Die Heimatstaaten weisen bei allen Indizes der menschlichen Entwicklung – Alphabetisierungsrate, Gesundheit von Mutter und Kind, Geschlechterverteilung usw. – einen deutlichen Rückstand auf. In den Zielstaaten waren Urbanisierung und Industrialisierung zudem weiter fortgeschritten. Doch der Hauptunterschied war vor allem sprachlich begründet: Die meisten Migrant*innen stammten aus Bundesstaaten, in denen Hindi gesprochen wird, während in den Zielstaaten verschiedene ältere Sprachen geläufig sind. Dies sind sogar wesentlich ältere Sprachen mit eigenen kulturellen und historischen Wurzeln, die während der britischen Herrschaft oder des Mogulreichs nur begrenzt miteinander in Kontakt kamen.

Die Migrant*innen waren daher in jeglicher Hinsicht, mit Ausnahme des theoretischen Kriteriums ihrer Staatsangehörigkeit, Geflüchtete wie Menschen aus Afghanistan in Pakistan oder aus Somalia im Jemen. Möglicherweise sind die kulturellen, sozioökonomischen, historischen Unterschiede zwischen diesen Migrant*innen und den Menschen in den Ziel-/Aufnahmestaaten größer als beispielsweise die zwischen Syrien und Europa oder Kolumbien und den USA.

Während die ursprüngliche Migration vom Heimat- in den Aufnahmestaat von einer durch strenge Kastenregeln verschärften wirtschaftlichen Stagnation ausgelöst wurde, waren die Rückwanderungen auf das Streben des Kapitalismus nach Kosteneinsparungen zurückzuführen. Die Regierungen in den Bundesstaaten und zivilgesellschaftliche Gruppen versuchten zwar, die in Not geratenen Wanderarbeiter*innen zu unterstützen, doch einmal mehr gaben die kulturellen Unterschiede den Ausschlag, sodass sich die Geflüchteten gezwungen sahen, den langen Weg in ihre Heimat anzutreten.

Es war ihnen nicht möglich, gemeinsame Proteste zu organisieren, um ihre Rechte einzufordern und ihre verantwortungslosen Arbeitgeber an den Pranger zu stellen, weil dies ein Verständnis und eine Assimilation der lokalen Arbeiterklassen mit ihren Problemen vorausgesetzt hätte. Laut Ambedkar war dies in einer Kastengesellschaft nicht denkbar. Vor allem dann nicht, wenn eine bestimmte Kastengesellschaft in einer Sprache, einem Tonfall und mit einer Logik spricht, die sich vollkommen von der eigenen Kastengesellschaft in der Heimat unterscheidet.

Die Pandemie hat die tiefe Ohnmacht der indischen Bahujan (Mehrheit der niederen Kasten) in ihrer Heimat und in ihren Gaststaaten ans Licht gebracht. Ihre Möglichkeiten, dauerhaft die Aufmerksamkeit staatlicher Strukturen zu erlangen oder gesellschaftliche Maßnahmen oder Diskurse in nennenswerter Form zu beeinflussen, waren durch die auf dem Kastensystem beruhende traditionelle Gesellschaftsordnung und auf gesamtindischer Ebene durch das Fehlen einer umfassenden kulturellen Einheit schon immer begrenzt.

Sollten es die Bahujans schaffen, ihre Rechte auf Dorfebene geltend zu machen und die Kastenordnung auszusetzen, würden diese Errungenschaften auf Bezirksebene erneut zunichte gemacht; und wenn sie selbst diese Widerstände überwinden sollten, würden sie auf Ebene des Bundestaats zurückgewiesen. Sollten sie sogar diese Hürde nehmen können, würde die Zentralregierung (oder Bundesregierung) für eine Wiederherstellung der sozialen Ordnung sorgen. Kleine Erfolge bei der Verschiebung der Machtverhältnisse (die immer zugunsten der herrschenden Kasten ausgelegt sind, deren Stärke mit jeder neu erklommenen Stufe in der Machthierarchie wächst) an einigen Orten würden daher immer nur von kurzer Dauer sein. Auf diese Weise trägt die Indische Union zu einer Schwächung des kollektiven Immunsystems der Bahujan bei.

Erneut kommen mir Ambedkars Worte in den Sinn:

»… Die Menschen stellen eine Gesellschaft dar, weil sie bestimmte Dinge gemeinsam besitzen. Ähnliche Dinge zu haben, ist etwas völlig anderes als Dinge gemeinsam zu besitzen. Und der einzige Weg dahin zu kommen, dass Menschen Dinge miteinander gemeinsam besitzen, ist, dass sie sich miteinander verständigen. Dies ist nur ein anderer Ausdruck dafür, dass Gesellschaft fortbesteht durch Verständigung, eigentlich sogar in der Verständigung. Um es konkreter zu machen: Es genügt nicht, wenn Menschen in einer Weise handeln, die mit der anderer übereinstimmt. Paralleles Handeln, selbst wenn es gleich ist, reicht nicht aus, um die Menschen zu einer Gesellschaft zu machen. …« (Übersetzt aus dem Englischen von Sarini in: »Auslöschung des Kastensystems«, Draupadi Verlag, 2019)

Inder*innen aus verschiedenen Regionen oder Bundestaaten handelten schon immer parallel, häufig auch unterschiedlich (und inzwischen widersprüchlich), und bildeten niemals eine Gesellschaft. Entsprechend praktizierten nationale Parteien wie die Kongress-Partei in verschiedenen Regionen immer unterschiedliche Formen des Populismus und bezeichneten dies als »Einheit in Vielfalt«. Inzwischen hat sich die BJP der Sache angenommen und mit dem angeblichen Ziel aufgeräumt, für verschiedene Bevölkerungsgruppen sorgen zu wollen. Sie bestehen nun darauf, dass alle im Land Hindus sind (einschließlich aller Muslime, Christen und Sikhs) oder sich zumindest darum bemühen sollten, Hindus zu sein, weil dies der zeitlosen Wahrheit in Indien entspricht. Die Partei will eine ältere Form des Populismus verbreiten. Dies ist ein Punkt, in dem ich mit Youssef nicht übereinstimme.

Möglicherweise war dies eines der traurigsten Jahre meines Lebens, in dem ich aus nächster Nähe und aus der Ferne so viel Unglück miterlebte. Millionen von Menschen, die sich in der gnadenlosen Sonne Indiens und in tiefster Nacht auf den Weg machten. Männer, Frauen und Kinder, die ihr Hab und Gut in Saris oder Plastiktüten oder billige Koffer gestopft hatten. Ein Mädchen transportierte ihren verletzten Vater 1200 Kilometer auf dem Fahrrad. Ein Reisender starb nur wenige Meter, ein anderer nur wenige Kilometer von seinem Zuhause entfernt. Sie litten und starben an Hunger. Das meistverkaufte Lebensmittel war eine günstige Keksmarke – mehr konnten sich die meisten von ihnen nicht leisten.

Ich hatte keine Möglichkeit, dem Virus zu entkommen, meine Gedanken davon abzulenken. Um seinen Geist auszutreiben, muss man vermutlich die ganze Welt, die es umgibt, durch seine Augen betrachten.

Wohlhabende Verwandte sind gestorben, arme Verwandte waren ebenfalls betroffen. Es gab kein Krankenhaus, das die Wohlhabenden trotz ihres vielen Bargelds aufgenommen hätte. Und die Armen hofften inständig, dass ihre Kinder oder Ehepartner*innen nicht betroffen wären, damit sie keinen der unerschwinglichen Testes machen müssten, obwohl sie alle miteinander unter einem Dach lebten.
 
Die Menschen konnten nicht für die Begräbnisse ihrer Liebsten aufkommen. Leichname verschwanden, Patient*innen lagen unversorgt auf der Straße. Und die Regierungen der meisten Bundesstaaten machten sich die Tatenlosigkeit der Bürger*innen während des Lockdowns zunutze, um noch härter gegen Andersdenke aus allen Reihen vorzugehen.

Doch eines ist nach wie vor klar: Indien selbst ist die Pandemie. Die einzige Möglichkeit, diesen Zustand zu bekämpfen, besteht darin, die eigene Immunität im Heimatdorf zurückzufordern.

Aus dem Englischen von Kathrin Hadeler



Dieser Beitrag ist Teil einer Medienkooperation von CARTA mit dem Goethe-Institut. Im Projekt »Diesseits des Populismus« stellen wir in globalen Gesprächen zwischen Budapest, Kairo, Brasilia, Nairobi, Moskau, Salzburg und Zürich gängige Erzählungen der Populisten in unterschiedlichen Ländern zur Debatte: Hat die »Elite« tatsächlich den Kontakt zum »Volk« verloren? Was bedeutet es wirklich, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen? Was verbirgt sich hinter der Floskel »Das muss man doch noch sagen dürfen«?

Der Beitrag von Naren Bedide ist zuerst auf goethe.de/zeitgeister erschienen. 

Der Aufruf zum Projekt »Diesseits des Populismus« von Jonas Lüscher und Michael Zichy ist ebenfalls auf goethe.de/zeitgeister erschienen.


Weitere Beiträge in der Reihe »Diesseits des Populismus«:

Ágnes Heller: »Refeudalisierung ist der treffendere Begriff«

Yvonne Adhiambo Owuor: »Wir leben in einer pluralen Gesellschaft«

Michael Zichy: »Wer ist Bürger? Und wer nicht?«

Carol Pires: »Über den (Miss-)Erfolg von Bolsonaro«

Maria Stepanova: »Haben die Intellektuellen versäumt, Alternativen zum Ressentiment anzubieten?«

Naren Bedide: »Populismus ohne Volk«

Carol Pires: »Bolsonaro und der tropische Protofaschismus«

Yvonne Adhiambo Owuor: »Die Seuche, die Populisten und wir«

Youssef Rakha: »Wir, die Populistinnen und Populisten«

Yvonne Adhiambo Owuor: »Die Seuche, die Populisten und wir (II)«

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.
Topics: