#Populismus

Diesseits des Populismus: Über den (Miss-)Erfolg von Bolsonaro

Wie antworten wir dann auf sie, ohne wie sie zu klingen? Wie können wir Vorschläge formulieren, Zuspruch gewinnen und Sichtbarkeit erlangen, trotz des schwindelerregenden Tempos unserer Zeit?

von , 24.6.19

»Sind die Welt und die politischen Zusammenhänge so schnell, so komplex und so unübersichtlich geworden, dass die allermeisten, die doch im Grunde einfach nur ihr Leben meistern wollen, damit heillos überfordert sind?« (Michael Zichy)

Ich werde Michaels Frage aufgreifen und ein bisschen darüber erzählen, was in Brasilien seit dem Amtsantritt von Jair Bolsonaro im Januar 2019 geschehen ist. Doch zunächst muss ich wohl denen, die nicht mit der brasilianischen Politik vertraut sind, erklären, wie es überhaupt dazu kam. 

Für mich liegen die Wurzeln von Bolsonaros politischer Schwungkraft in den sechs vergangenen traumatischen Jahren, die die Brasilianer erdulden mussten. Ausgangspunkt waren die Proteste im Jahr 2013, die die Parteienlandschaft Brasiliens verändert haben und für die es bis heute keine vollständige Erklärung gibt.

Acht Jahre hatte Luiz Inácio Lula da Silva volksnah und patriarchalisch regiert. In dieser Periode führten seine Sozialprogramme 30 Millionen Menschen aus der Armut und machten sie zu Konsumenten, was auch von der Wirtschaftselite wohlwollend aufgenommen wurde. Lula da Silva war so populär (und ich weiß nicht recht, ob ich ihn als Populisten bezeichnen würde, auch wenn er definitiv populistische Züge aufwies), dass das Volk seine Wunschkandidatin Dilma Rousseff, eine nahezu unbekannte Technokratin, 2010 zu seiner Nachfolgerin wählte. Rousseff machte ihre Sache gut, bis die Wirtschaft zu stagnieren begann. Aus dieser Situation heraus kam es zu den Unruhen im Jahr 2013. Zunächst handelte es sich um eine linke Studentenbewegung, die gegen die steigenden Busfahrpreise protestierte, doch bald wurde die aufgeheizte Stimmung von den Rechten gekapert und gegen die Präsidentin gerichtet.

Bei den Wahlen im Jahr 2014 entstand eine Polarisierung zwischen der Arbeiterpartei von Lula da Silva und Rousseff, die seit 2002 an der Macht war, und den Sozialdemokraten unter Aécio Neves, die die vierte Wahlniederlage in Folge fürchteten. Zu Beginn des Wahlkampfes starb der Präsidentschaftskandidat der Sozialisten, der für einen dritten Weg gestanden hätte, bei einem Flugzeugabsturz. Seine Nachfolge trat Marina Silva, Lula da Silvas ehemalige Umweltministerin, an. Obwohl sie die Arbeiterpartei in der Amazonas-Region unterstützt hatte, wurde sie in deren Wahlkampagne hart attackiert. Es gab keinen Platz für Trauer. Als Folge davon gewann Rousseff mit dem knappsten Ergebnis, das es je bei einer Wahl gegeben hatte, und das Land wurde in zwei unversöhnliche Lager geteilt.

Dort sehe ich die ersten Anzeichen dafür, dass die politischen Gegner aufhörten, sich mit gegenseitigem Respekt zu begegnen, Macht und Einfluss missbrauchten und sich über die Spielregeln der Demokratie hinwegsetzten. Der Kandidat der Sozialdemokraten Aécio Neves akzeptierte das Ergebnis nicht und verlangte eine Neuauszählung. Und als das Oberste Wahlgericht das Ergebnis bestätigte, forderte er die Amtsenthebung von Rousseff. 

Derweil förderte die Operation Lava Jato (Autowäsche) – das umfassendste Ermittlungsverfahren gegen Korruption in der Geschichte Brasiliens – ein Korruptionssystem im öffentlichen Dienst zutage. Die ermittelnde Behörde inhaftierte die Verdächtigen auf unbestimmte Zeit und bot ihnen dann eine Verständigung im Strafverfahren an, wenn sie die Namen anderer wichtiger involvierter Personen preisgaben. Das Ergebnis dieser Verständigung und abgehörte Telefonate sickerten täglich an die Presse durch. Das sorgte dafür, dass die Operation ohne weitere Prüfung in die Schlagzeilen geriet. Für die Öffentlichkeit war das, wie einen Politthriller zu verfolgen: aufregend, aber anstrengend und ärgerlich. Es heißt, es hätten sich Paare getrennt und Familien wegen der Politik zerstritten. Zum ersten Mal erlebte ich, dass die politischen Missstände die persönlichen Beziehungen der Brasilianer beeinträchtigten, die ihre politische Meinung um des lieben Friedens willen davor gewöhnlich für sich behalten hatten.

Die Operation Lava Jato brachte zwei Ergebnisse. Zum einen wurden wirklich mächtige Unternehmer und Politiker eines Vergehens bezichtigt, inhaftiert und mussten die Millionen Dollar, die sie sich erschlichen hatten, zurückzahlen. Um einige Beispiele anzuführen, wurden der ehemalige Präsident der Abgeordnetenkammer, einige der reichsten Männer Brasiliens sowie alle ehemaligen Gouverneure von Rio de Janeiro verhaftet. Als der Politthriller seinen Höhepunkt erreichte, kam auch der ehemalige Präsident Lula da Silva in Haft (unter dem berechtigten Vorwurf der Bestechlichkeit im Amt und wegen aggressiver Behinderung der laufenden Ermittlungen). 

Zum anderen erweckten die vielen Inhaftierungen und Verständigungen im Strafverfahren in der Bevölkerung den Eindruck, dass Politik an sich ein Verbrechen ist. Was eine Operation gegen Korruption hätte sein sollen, geriet letztendlich auch zu einer Operation gegen die Politik. Die Unruhen auf den Straßen wurden immer radikaler. Einige der Protestierenden begannen, die Rückkehr der Militärdiktatur herbeizusehnen. Die Demonstrationen nahmen frauenfeindliche Züge an, etwa in Form von Autoaufklebern, auf denen unsere erste Präsidentin die Beine um den Einfüllstutzen eines Kraftstofftanks spreizte. Der respektlose Umgang unter Politikern spiegelte sich im Benehmen der Wähler wider: Sie weichten die Definition von deviantem Verhalten auf.

Frau Rousseff, ein in der Gefangenschaft gefoltertes, ehemaliges Mitglied einer Guerillaorganisation, wurde im August 2016 ihres Amtes enthoben mit Unterstützung von Kongressabgeordneten. Einer von ihnen stimmte während der Abstimmung einen Lobgesang auf Oberst Brilhante Ustra an, dem berüchtigtsten Folterknecht der brasilianischen Militärdiktatur. Dieser Abgeordnete, Jair Bolsonaro, ist der nunmehrige Präsident Brasiliens. Und Sérgio Moro, der Ermittlungsrichter der Operation Lava Jato, ist Justizminister in seinem Kabinett.

Diese Schilderung der Begebenheiten – die wir in atemberaubender Geschwindigkeit miterlebten –, gestattet es mir, Michaels Frage in einen Aussagesatz umzuwandeln.

 »Die Welt und die politischen Zusammenhänge sind so schnell, so komplex und so unübersichtlich geworden, dass die allermeisten damit heillos überfordert sind.« (Michael Zichy)

Wenn also jemand wie Bolsonaro solchen Menschen einfache, oberflächliche Lösungen für die drängendsten Probleme des Landes anbot, erreichte er damit natürlich ihre Herzen. Und mich bringt es zu der Einsicht, dass wir die Diskussion seelischer Erschütterungen in der Politik ernster nehmen sollten.

Bolsonaro ist ein Populist, wie er im Buche steht. Obwohl er 27 Jahre lang als Kongressabgeordneter diente und drei seiner älteren Söhne ebenfalls in der Politik sind (ein Stadtrat, ein Kongressabgeordneter und ein Senator), äußert sich Bolsonaro kritisch über die politische Klasse. Er behauptet, das Volk zu vertreten, aber er ist antielitär und antipluralistisch. Er sagt, die Quilombolas (die Nachkommen schwarzer Sklaven in Brasilien, die noch in den Siedlungen ihrer Vorfahren leben) sollten sich nicht fortpflanzen, er würde seinen Sohn lieber tot als homosexuell sehen, der Abschaum der Erde wandere nach Brasilien ein und den wenigen indigenen Einwohnern sei zu viel Land zugestanden worden. Die Liste dieser Ungeheuerlichkeiten ist lang.

Zudem stellt Bolsonaro seine politischen Gegner – vor allem aus dem linken Lager – und jeden, der ihm widerspricht, als unmoralisch und korrupt dar. Während des Wahlkampfes forderte er die Menge auf, Unterstützer der Arbeiterpartei zu erschießen. Um die Populisten-Checkliste zu vervollständigen, beschuldigt er alle wichtigen Nachrichtenagenturen Brasiliens, Falschmeldungen zu verbreiten.

Ágnes merkte an, dass »sich die neuen Ethnonationalisten von heute von denen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dahingehend [unterscheiden], dass ihre Ideologie negativ ist. Sie versprechen keinen Landgewinn, keine Gesellschaft, die frei von Fremden ist, nicht Glück für alle oder gar Größe und Erhabenheit. Sie versprechen Schutz.« Wo würde sie Bolsonaro einordnen, jemanden, der Chaos sät, um dann die Wiederherstellung der Ordnung anzubieten, sich nicht nur gegen Migranten und die Einmischung in unsere Innenpolitik, sondern gegen die Brasilianer selbst richtet: gegen die Linken, die Minderheiten, die indigene Bevölkerung und jeden, der seine Meinung nicht teilt?

Eine für Brasilien ungewöhnliche Welle trug Bolsonaro zur Macht und hat vier Ursachen: 1) das Militär und dessen Unterstützer (Man darf nicht vergessen, dass Brasilien nie den Folterknechten und Henkern der Diktatur den Prozess gemacht hat und damit eine Generation von Brasilianern schuf, die diesen Teil der Geschichte ignoriert.), 2) neoliberale Wirtschaftler und Unternehmer (die glaubten, er würde sich für sie einsetzen, obwohl Bolsonaro eine Vergangenheit als Befürworter eines starken Staates hat), 3) rechtskonservative Prominente der sozialen Medien (darunter viele Anhänger des konservativen, selbsternannten Philosophen Olavo de Carvalho) und 4) eine Menge Wähler, die seinen harten Kurs in der öffentlichen Sicherheit befürworteten (einschließlich eines allgemeinen Rechts auf Waffenbesitz). Außerdem muss man die wachsende Abneigung gegen die Arbeiterpartei mitberücksichtigen. Die Menschen waren müde nach 13 Jahren der Regierung von Lula da Silva und Rousseff, die von Korruptionsvorwürfen gegen engste Verbündete überschattet war.

Diese Gemengelage in Brasilien machte ihn zwar zum Präsidenten, aber funktioniert nicht als Regierungsweise. Um seine Befürworter zufriedenzustellen, die die Zerschlagung des Systems fordern, kritisiert Bolsonaro immer wieder den Kongress und die »politische Klasse«. Im Gegenzug hat er bei den Kongressabgeordneten nicht einen wichtigen Sieg errungen, eine Tatsache, die Liberale daran zweifeln lässt, ob er überhaupt eine sinnvolle Reform durchsetzen kann. Morgens attackiert er den Kongress und den Obersten Gerichtshof, am Nachmittag bringt ihn jedoch jemand dazu, sich zu entschuldigen. Sein Umfragewert ist auf 32 Prozent gesunken – der schlechteste Wert für einen brasilianischen Präsidenten aller Zeiten.

Das Militär, das zuvor als größter Feind der Demokratie galt, fungiert nun – überraschenderweise – als mäßigender Faktor und bittet um Respekt für die Institutionen, die Bolsonaro fortwährend angreift. Als Folge beschuldigt Bolsonaros Sohn Carlos, der für die Online-Kampagne seines Vaters zuständig ist, das Militär neurotisch, den Präsidenten stürzen zu wollen. Diese Situation führt zu noch mehr Instabilität.

Auch für jene, die sich einen Fortschritt im Kampf gegen die Korruption erhofft hatten, ist Bolsonaro eine Enttäuschung. Eine Ermittlung gegen Flávio, seinen ältesten Sohn, brachte ihn mit einem Korruptionsfall und mit paramilitärischen Gruppen in Verbindung. Sein Nachwuchs unterminiert sein Amt effektiver als jede Oppositionspartei.

Kürzlich gestand Bolsonaro 19 Millionen Brasilianern das Recht auf Waffenbesitz zu, um seinen treuesten Anhängern einen Gefallen zu erweisen. Sein Dekret wirft jedoch verfassungsrechtliche Bedenken auf und seine Wirksamkeit ist fragwürdig, da Brasilien bereits die meisten Todesfälle durch Waffengebrauch weltweit zu verzeichnen hat. Die Arbeitslosenquote des Landes ist derweil auf einen neuen Rekord von zwölf Prozent gestiegen.

Ohne vorzeigbare Ergebnisse nimmt der Präsident nun den Kampf gegen die Kultur auf: Er betitelt Studierende, die gegen Kürzungen im Bildungssektor protestieren, als »Idioten«, behauptet, öffentliche Universitäten seien voller Kommunisten, postet pornografische Videos auf Twitter, um zu verdeutlichen, dass der brasilianische Karneval eine korrupte, kulturelle Veranstaltung sei und greift zu Tweets und Livevideos auf Facebook, um seine eingefleischten Fans von seinen Verschwörungstheorien zu überzeugen und »das System« für seine Tatenlosigkeit verantwortlich zu machen. Wie bei allen Populisten sind Schuldzuweisungen sein liebstes Hobby.

Die zuvor beschriebenen Entwicklungen werfen die Frage auf, ob diese engstirnigen Demokratien aufrechterhaltbar sind, besonders solche unter Führung von Menschen wie Bolsonaro, einem Geschöpf der sozialen Medien.

Dennoch glaube ich in Bezug auf Yvonnes Frage, dass der »Populismus einiger weniger« uns interessieren sollte. Bolsonaro vermochte es zwar nicht, die Politik zu Gesetzesänderungen zu bewegen, hat aber alles in seiner Macht Stehende per Dekret durchgesetzt: Seine Regierung ließ mehr als 150 Pestizide zu und torpedierte Initiativen zum Schutz des Regenwalds am Amazonas. Also ja, ich glaube, jeder Populist stellt eine Bedrohung für die ganze Welt dar.

Was mich zu Yvonnes nächster Frage führt: »Was ist das beste zur Verfügung stehende ›Angebot‹, das es aus sich heraus vermag, die positiven Sehnsüchte jener zu wecken, die nun auf der Suche nach volksverhetzenden Erlösergestalten sind, die ihren Träumen (und anderer Leute Albträumen) Ausdruck verleihen?«

In »The People vs. Democracy« (Der Zerfall der Demokratie) schreibt Yascha Mounk, man sei geneigt, zu glauben, dass Wähler, die durch ein der Wahl nachfolgendes Chaos angemessen bestraft würden, deshalb noch einmal der alten politischen Klasse ihr Vertrauen schenken würden. Aber gewöhnlich sei dem nicht so. Die Lösung, sagt Mounk, beruhe darauf, dass die Bürger eher hoffnungsvoll als fatalistisch gestimmt werden. Nur, wenn sie den Glauben daran zurückgewännen, dass moderatere Politiker für sie kämpften und tätig würden, änderten sie ihr Wahlverhalten.

Es scheint, als ob wir (oder zumindest wir, diese elitäre Gruppe von Denkerinnen und Denkern) bereits wüssten, woran man Populisten erkennt. Nun, wie antworten wir dann auf sie, ohne wie sie zu klingen? Wie können wir Vorschläge formulieren, Zuspruch gewinnen und Sichtbarkeit erlangen, trotz des schwindelerregenden Tempos unserer Zeit?

Übersetzung: Christiane Wagler



Dieser Beitrag ist Teil einer Medienkooperation von CARTA mit dem Goethe-Institut. Im Projekt »Diesseits des Populismus« stellen wir in globalen Gesprächen zwischen Budapest, Kairo, Brasilia, Nairobi, Moskau, Salzburg und Zürich gängige Erzählungen der Populisten in unterschiedlichen Ländern zur Debatte: Hat die »Elite« tatsächlich den Kontakt zum »Volk« verloren? Was bedeutet es wirklich, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen? Was verbirgt sich hinter der Floskel »Das muss man doch noch sagen dürfen«?

Der Beitrag von Carol Pires ist zuerst auf goethe.de/zeitgeister erschienen. 

Der Aufruf zum Projekt »Diesseits des Populismus« von Jonas Lüscher und Michael Zichy ist ebenfalls auf goethe.de/zeitgeister erschienen.


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