Die »Idee von Indien« war »vor allem eine europäische und keine lokale Erfindung, wie der Name selbst verdeutlicht. In keiner der indigenen Sprachen gab es den Begriff Indien oder ein Äquivalent. Die auf dem Fluss Indus beruhende griechische Wortschöpfung war eine derart exogene Bezeichnung für den Subkontinent, dass Europäer bereits im 16. Jahrhundert die Einwohner Indiens als ›alle Eingeborenen eines unbekannten Landes‹ definierten und somit die Einwohner des amerikanischen Kontinents als ›Indianer‹ bezeichneten.«
von Naren Bedide, 12.11.19
Bei der Lektüre dieser aufschlussreichen Gespräche und der Beiträge von Autor*innen aus aller Welt stellt sich mir die Frage, ob Indien eine liberale Demokratie mit einer repräsentativen Regierungsform ist, die in regelmäßigen Abständen von Populismusattacken heimgesucht wird? Doch noch davor muss ich fragen, ob Indien eine Nation ist – in derselben Form wie Brasilien oder Ägypten oder Ungarn – denn ist es nicht das, was alle Demokratien, über die in dieser Reihe diskutiert wird, implizit ausmacht? Wann auch immer ich anschließend versuche, mich mit den ersten Fragestellungen zu befassen, ich komme immer wieder auf die zweite Frage zurück.
Bei den ersten Parlamentswahlen in Indien siegte Nehrus Kongresspartei mit ihrem Programm gegen die Kolonialherrschaft und ihre einheimischen Kollaborateure ‑ die Grundbesitzer und die Geldsäcke. Es war eine Partei, die von Grundbesitzern und Geldsäcken unterstützt wurde. Bei späteren Wahlen in den Fünfziger und Sechziger Jahren erweiterte sich die Liste der Feinde des Landes zunächst um Pakistan und später um China. Großbritannien und die USA wichen nie von seiner Seite. In den Siebzigern wetterte Indira Gandhi gegen die Reichsten der Reichen, die den Getreidehandel, den Schwarzmarkt und das Schmuggelgeschäft kontrollierten. Während all dieser Zeit nahm die gerechte Empörung über die »Hand des Auslands» (womit ausländische Kräfte gemeint sind, die auf vielfach widerwärtige und hinterhältige Weise versuchen, »Indien zu destabilisieren«, indem sie Oppositionspolitiker*innen oder Verleger*innen oder zivilgesellschaftliche Gruppen bestechen oder Verteidigungs- oder Industrieprojekte sabotieren oder Aufstände schüren usw.) niemals ab.
Der Punkt ist, dass Wahlen in Indien schon immer populistisch geprägt waren, einige mehr, andere weniger. Es ging immer um die »Gareeb« (die Armen), die »Aam Aadmi« (die einfachen Leute) gegen die Reichen, die Feinde im In‑ und Ausland, die »terroristischen« Nachbarn und die von ihnen unterstützen »Terror«-Gruppen usw.
Warum gleichen die Wahlen immer wieder aufs Neue einem Melodram, das von unsachlichen Diskussionen zwischen Rival*innen und ihren Anhänger*innen geprägt wird und keinen Raum für Auseinandersetzungen über politische Inhalte lässt, sofern nicht Argumente aus der untersten Schublade gezogen werden?
Die Frage, warum Wahldebatten in Indien wie niemals enden wollende Familienstreitigkeiten anmuten, lässt sich damit beantworten, dass sie im Grunde genau das sind: Familienstreitigkeiten. Seit den allerersten Urnengängen besetzten die obersten Kasten, die etwa 15 % der Bevölkerung ausmachen, permanent 65-75 % der Sitze im Parlament. Wären nicht nahezu ein Viertel der Sitze den ehemals »Unberührbaren« und Stammesangehörigen und den indigenen Völkern in allen Regionen vorbehalten, läge dieser Anteil bei durchschnittlich 85-90 %.
Wenn diese Verhältnisse nicht bereits an die Ära der Apartheid in Südafrika erinnern, dann wird die zahlenmäßige Vertretung dieser Gruppe in den anderen »Säulen der Demokratie«, Justiz und Medien, endgültig überzeugen.
Beide Antworten mögen zynisch erscheinen. Doch nach 70 Jahren und 17 Parlamentswahlen scheinen wir uns in einem anhaltenden oder dauerhaften Dilemma zu befinden. Vor siebzig Jahren sagte der Gesellschaftsphilosoph, politische Reformer und Vater der Indischen Verfassung Bhirmrao Ramji Ambedkar:
»Die Demokratie in Indien bildet lediglich die oberste Schicht des indischen Nährbodens, der von Grund auf undemokratisch ist.«
Dr. B.R. Ambedkar, Annihilation of Caste
Dies scheint heute mehr denn je zuzutreffen. Und ich möchte noch einmal fragen, warum oder wie die oberen Kasten die nicht repräsentierte Mehrheit in diese Farce hineinziehen? Ihre Teilhabe kann nur auf einem Weg gewährleistet werden. Youssef Rakha fragt: Sind Populisten […] nicht im Grunde die Big Macs und Coca-Colas des politischen Marktplatzes?
Damit lässt sich die Situation in Teilen erklären. In der Regel gewinnt der Kandidat, der am überzeugendsten für sich werben kann. Eine weitere Erläuterung bietet die Tatsache, dass die Kandidat*innen der oberen Kasten und die indischen Wähler*innen der unteren Kasten auf Dorfebene eine Patronage-Klientel-Beziehung pflegen, die stark dem Verhältnis gleicht, das Feudalherr und ihre Leibeigenen in früheren Zeiten hatten. Die Kandidat*innen kümmern sich um die Versorgung einzelner Wähler*innen mit öffentlichen Dienstleistungen und bestechen andere ganz einfach mit Bargeld, Alkohol usw.
Das Einzige, was diesen Menschen staatlich zugesichert wird, ist ihre Stimme bei den Wahlen. Für alle anderen Leistungen müssen sie sich auf eine mittelalterlich anmutende Beziehung zu ihren gewählten Vertreter*innen aus den oberen Kasten verlassen. Je nach Bundesstaat oder Provinz gestaltet sich diese Situation anders. In Bundesstaaten, in denen öffentliche Dienste wie Bildung, Gesundheit und gewisse strukturelle Ungleichheiten wie die Landverteilung besser geregelt wurden, verspüren die Wähler*innen eine größere Selbstbestimmung und relative Freiheit von den Fesseln dieser ungleichen Beziehung.
Warum bemühen sich die Kandidat*innen der oberen Kasten um die Stimmen der Wähler*innen aus den unteren Kasten, wenn sie die Wahl sowieso gewinnen?
Weil eine hohe Geburt zwar eine grundlegende Voraussetzung bildet, inzwischen jedoch als Merkmal nicht mehr ausreicht, um den Sieg bestimmter Kandidat*innen sicherzustellen, was ein wenig auch der Demokratie zu verdanken ist. Ein*e Kandidat*in muss mit anderen Anwärter*innen aus den oberen Kasten um einen Posten konkurrieren. Aus diesem Grund müssen auch die Wählerstimmen und nicht wie in früheren Zeiten das Schwert zum Einsatz gebracht werden, um die eigene Position zu behaupten.
Die Demokratie wird, ungeachtet ihrer zahlreichen Schwächen, vor allem auf Ebene der Dörfer und Provinzen und weniger auf zentraler oder bundesstaatlicher oder nationaler Ebene gelebt. Dort verkommt sie eher zu einer sinnentleerten Übung in schrillen Zwischenrufen. Die Idee der Ram Mandir in Ayodhya stammt nicht aus einem Dorf, sie wurde in Delhi geboren. (Ayodhya sei der Geburtsort des mythischen Charakters, so brahmanische Fundamentalisten, die glauben, dass er ursprünglich einen Ram-Tempel beherbergte, der vom Mogulkaiser Babar zerstört wurde, um eine Moschee zu bauen; er ist in den letzten drei bis vier Jahrzehnten zu einem Mittelpunkt hinduistischer Mobilisierung und kommunaler Gewalt geworden.) Es liegt auf der Hand, dass die zynische Schlussfolgerung, einem Reich, das aus rivalisierenden Lagern von Familien der oberen Kasten besteht, das Antlitz einer Nation zu verpassen, die Hoffnung auf wirksamere demokratische Strukturen auf Ebene der Dörfer und Provinzen deutlich schmälert. Denn das Zentrum verfügt über deutlich mehr Mittel und Befugnisse. Nach der Unabhängigkeit wurde London als Herz des Empires durch Delhi ersetzt.
Die Ursache liegt letzten Endes darin, dass die indischen Herrscher 1947 ein Empire geerbt haben. Mark Twain schrieb dazu: Achtzig Völker, die achtzig Sprachen reden, bewohnen das Land, ihre Zahl beläuft sich auf dreihundert Millionen.
»Das Land« steht für Indien. Doch was ist das Land? Für den Großteil seiner Geschichte war es nicht mehr als eine Landmasse. Es war ganz einfach Hind, oder Indien, das Land jenseits des Sindh oder des Indus. Sogar dieser Name wurde nicht von Menschen geprägt, die auf dem Subkontinent lebten. Er geht laut zahlreichen Quellen auf die alten Perser oder Griechen oder Araber oder auf die Briten usw. zurück. Doch aus diesen verschiedenen Versuchen der nicht immer väterlichen Namensgeber können wir schließen, dass Indien für den überwiegenden Teil seiner Geschichte nur eine Landmasse ist oder war, wie bereits angemerkt. Hier konnte man achtzig Nationen oder achthundert, 600 Sprachen, 600 Kasten begegnen. Und zahlreichen Stämmen.
Der altgediente Menschenrechtsaktivität und Gelehrte der Dalit, Bojja Tharakam, hatte beobachtet, dass sich die Urheber der Verfassung für den neuen Staat Indien nicht auf einen Namen für das Land einigen konnten. Letzten Endes, so sagt er, wurde der Ausdruck »Indien, das heißt Bharat« angenommen. Für ihn sei es »sein merkwürdiger Gedanke, dass die Mitglieder (der verfassungsgebenden Versammlung) sogar zum Zeitpunkt der Namensgebung des Landes zwiegespalten waren. Nirgendwo in der Welt gibt es ein Land, das zwei Namen in einem einzigen Satz trägt«.
Zwei Namen: Einer davon, Bharat, der Name einer Figur aus der brahmanischen Mythologie, von dem die überwiegende Mehrheit der Inder noch nie gehört hatte, der andere, Indien, abgeleitet von Variationen der Bezeichnung für den Fluss Sindh, der in Tibet entspringt und mittlerweile durch Pakistan und nicht durch Indien fließt, bevor er in das Arabische Meer mündet.
Außerdem darf nicht vergessen werden, dass die Briten den herrschenden Klassen in Indien die Herrschaft (über ihr Empire) übertragen haben, was seit der Jahrhundertwende eines ihrer zentralen Anliegen gewesen war. Es gab nur das einzige Problem, dass sie nicht wussten, an wen sie die Herrschaft übertragen sollten. Welche Nation sollte in die Freiheit entlassen werden? Parallel dazu führten die oberen Kasten einen anhaltenden Disput darüber, welches gemeinsame Antlitz sie Indien geben könnten.
Der britische Historiker Perry Anderson sagt: In seiner heutigen Form bildete der Subkontinent in vormodernen Zeiten niemals eine homogene politische oder kulturelle Einheit. Über weiteste Strecken der Geschichte wurden seine Gebiete von unzähligen mittelgroßen Königreichen der unterschiedlichsten Häuser beherrscht.
Die »Idee von Indien«, so führt er weiter aus, war »vor allem eine europäische und keine lokale Erfindung, wie der Name selbst verdeutlicht. In keiner der indigenen Sprachen gab es den Begriff Indien oder ein Äquivalent. Die auf dem Fluss Indus beruhende griechische Wortschöpfung war eine derart exogene Bezeichnung für den Subkontinent, dass Europäer bereits im 16. Jahrhundert die Einwohner Indiens als ›alle Eingeborenen eines unbekannten Landes‹ definierten und somit die Einwohner des amerikanischen Kontinents als ›Indianer‹ bezeichneten.«
Nachdem die Briten das Land verlassen hatten, bestand es aus einer Ansammlung von 584 Fürstenstaaten (einschließlich Kaschmir), über die die Briten die Oberhoheit, jedoch keine direkte Herrschaftsgewalt hatten, sowie Provinzen, über die sie die direkte Herrschaftsgewalt ausübten. Wie sollte aus dieser politische Landschaft mit ihren zahlreichen Zentren eine einzige Nation werden?
Der Gesellschaftstheoretiker Gnani Aloysius beschreibt, wie die traditionellen Eliten während der Kolonialzeit und danach einen Nationalismus ohne Nation in Indien entwickelt haben.
In den von den Briten beherrschten Provinzen zählten die von den Brahmanen angeführten traditionellen oberen Klassen oder Kasten zu den ersten Kollaborateuren der Kolonialbewegung. Dagegen waren die herrschenden Klassen in den Fürstenstaaten, die von den Briten unterworfen, aber nicht annektiert worden waren, zu natürlichen Verbündeten geworden. Sie setzten sich auch hier aus Stämmen der oberen Kasten zusammen, die verschiedenen Glaubensrichtungen angehörten.
Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert initiierten diese einheimischen Eliten eine Art Reformkampagne in Politik, Gesellschaft, Kultur und Religion, die auch heute noch anhält, um das Narrativ eines zeitlosen Indien zu entwickeln, das von einem »Gefühl der Einheit» geprägt war. Um die »Idee von Indien« zu untermauern, beschworen sie unablässig die Tropen »Antike-Kontinuität, Vielfalt-Einheit, Massivität-Demokratie, Multikonfessionalismus-Säkularismus«, beobachtet Anderson.
»Die Briten schufen den Hinduismus«, sagt Aloysius. Ambedkar bemerkte Folgendes:
An allererster Stelle ist anzumerken, dass die Hindu-Gesellschaft ein Mythos ist. Der Name Hindu selbst ist eine ausländische Bezeichnung. Er wurde den Einheimischen von den Muslimen gegeben, um sich selbst [von ihnen] abzugrenzen. Vor der Invasion der Muslime taucht der Begriff in keinem Werk in Sanskrit auf. Ein gemeinsamer Name wurde nicht als Notwendigkeit empfunden, weil sie keine Vorstellung davon hatten, was es heißt, eine Gemeinschaft zu bilden. Die Hindu-Gesellschaft als solche gibt es nicht.
So wie die Bezeichnung Indien selbst war auch die Religion des Hinduismus exogenen Ursprungs. Bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts erfreute sich die Bezeichnung Hindu keiner großen Anerkennung und wurde auch nicht zur Beschreibung einer Religion verwendet. Orientalismus und Kolonialismus reichten den Brahmanen als Grundlage, um die Tausenden einheimischen Glaubensrichtungen zu kategorisieren, die von den unteren Kasten und Stämmen praktiziert wurden, verschiedenen Ausprägungen der neuen Religion mit dem Namen »Hinduismus«, und sich zu ihren Hütern aufzuschwingen. Hier wurde durch die enge Auswahl an Parametern, anhand derer die Europäer Religionen und Glaubensbekenntnisse beurteilten, eine kolossale Fehlentwicklung in Gang gesetzt.
Mit diesen und weiteren fehlerhaften Kategorisierungen unterstützten die Briten die einheimischen Eliten dabei, ihre kulturelle »Überlegenheit« und damit letztendlich auch ihre politische Vormachtstellung erneut zu behaupten. Eine Nation, eine Religion und eine Gesellschaftsordnung sollte die gängige Vorstellung von Indien fortan lauten. Die Frage, ob Indien jemals über eine gesellschaftliche Hierarchie verfügte, die dem Kastensystem der Varna vollständig entsprach, ist nach wie vor umstritten (d.h. Chaturvarnya, die gesellschaftliche Ordnung aus vier Varnas, die einigen Interpretationen zufolge nach dem »Wert« der Menschen gegliedert waren: Brahmanen, die Priester an der Spitze; gefolgt von Kshatriyas, den Kriegern, Vaishyas, der Handelsklasse, und Shudras, der Dienerklasse – heute gibt es das Kastensystem aus 4.000, manche sagen 6.000, Kasten oder Jatis, die nach der Herkunft der Menschen unterteilt sind). Allerdings haben sich die oberen Kasten der Brahmanen in den vergangenen zwei Jahrhunderten darum bemüht, eine solche ungleiche, hierarchische Gesellschaft aufzubauen.
Von Gandhi über Nehru und zahlreiche weiteren Persönlichkeiten der jüngeren Vergangenheit bis hin zu Amartya Sen und zahlreichen weiteren Persönlichkeiten der heutigen Zeit verkünden alle dieselbe Botschaft: Dass es ein Indien gab und auch immer geben wird. Und es sei erneut daran erinnert: So wie die Bezeichnung Indien von außen bestimmt wurde, ist auch das Bild von Indien als Nation, das von den ausnahmslos aus den oberen Kasten stammenden Herrschern, Literaten, Gelehrten usw. gezeichnet wird, vornehmlich für die Wahrnehmung durch das Ausland und für alle Inländer gedacht, die ihren Standpunkt nicht teilen.
Während die oberen Kasten in Indien allesamt ihr dringendes Bedürfnis zum Ausdruck bringen, als Nation anerkennt zu werden, weil sie im Zeitalter der Vereinten Nationen nicht als Reich der Vormoderne gelten wollen, schwankt die Mehrheit aus den niederen Kasten zwischen Phasen der Hoffnung und der Verzweiflung. Der Hoffnung, zu der Nation zu werden, von der Ambedkar sprach:
Für mich hängen wir mit unserem Glauben, eine Nation zu sein, einer großen Illusion an. Wie kann ein Volk, das in mehrere Tausend Kasten unterteilt ist, eine Nation bilden? Je früher wir erkennen, dass wir im gesellschaftlichen und psychologischen Sinne des Wortes noch keine Nation sind, desto besser für uns. Denn nur dann werden wir die Notwendigkeit erkennen, eine Nation aufzubauen, und uns ernsthafte Gedanken über die Mittel und Wege machen, mit denen wir dieses Ziel erreichen können.
Es war Ambedkar, der die Ideale der »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« als wichtigster Gestalter und Ideengeber in die Verfassung einfließen ließ. Mehr noch als Gandhi, Nehru und viele andere trat er in Indien für die egalitären Werte der Aufklärung ein, obwohl er sich nach eigenen Angaben eher von Buddha und seiner Sangha als von der Französischen Revolution und Europa inspirieren ließ. Ambedkar repräsentierte nicht nur die Ansichten und Bedürfnisse der ehemaligen »Unberührbaren«, da er selbst einer von ihnen war, sondern auch die der Mehrheit aller unteren Kasten. Sogar dann, als er den Verfassungsentwurf an allen großen und kleinen Hindernissen vorbeisteuern musste, die ihm »progressive Kräfte« aus den oberen Kasten in den Weg legten, die er als »soziale Tories und radikale politische Kräfte« bezeichnete.
Benötigt Indien eine »kulturelle Elite«?
Das Land verfügt bereits über eine Elite. Mit den Brahmanen hat es immer eine solche Elite gegeben, und in den vergangenen zwei Jahrhunderten wurden dank der von den Briten hauptsächlich zugunsten von 1-5 Kasten vorgenommen Verteilung von Landrechten in den einzelnen Provinzen (unter Missachtung von 200-400 Kasten in jeder Provinz) ebenfalls die frisch gebackenen oberen Kasten aus den einzelnen Regionen in diese »nationale« Elite aufgenommen. Überdies erscheint die Vorstellung von einer kulturellen Elite, die von der politischen und wirtschaftlichen Macht abgeschnitten ist, ausgesprochen gewagt.
Nach einem kurzen Blick auf die übrigen Beiträge und einem Vergleich der Begriffe Demokratie, repräsentative Regierung und liberale Werte kommen mir des Kaisers neue Kleider in den Sinn. Vor allem stellt sich die Frage: Ist Indien eine Nation? Nun, Indien ist vielleicht ein anderer Planet.
Naren Bedide (Kuffir)
Übersetzung aus dem Englischen: Kathrin Hadeler
Dieser Beitrag ist Teil einer Medienkooperation von CARTA mit dem Goethe-Institut. Im Projekt »Diesseits des Populismus« stellen wir in globalen Gesprächen zwischen Budapest, Kairo, Brasilia, Nairobi, Moskau, Salzburg und Zürich gängige Erzählungen der Populisten in unterschiedlichen Ländern zur Debatte: Hat die »Elite« tatsächlich den Kontakt zum »Volk« verloren? Was bedeutet es wirklich, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen? Was verbirgt sich hinter der Floskel »Das muss man doch noch sagen dürfen«?
Der Beitrag von Maria Stepanova ist zuerst auf goethe.de/zeitgeister erschienen.
Der Aufruf zum Projekt »Diesseits des Populismus« von Jonas Lüscher und Michael Zichy ist ebenfalls auf goethe.de/zeitgeister erschienen.
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