von Christoph Bieber, 29.9.10
In meinem Buch “politik digital. Online zum Wähler” nehme ich eine Bestandsaufnahme der Entwicklungen im politischen Teil des Internet seit der US-Präsidentschaftswahl 2008 vor: Auf den “Obama-Effekt” folgten das deutsche Superwahljahr mit der Zensursula-Kampagne und dem Aufstieg der Piratenpartei.
Soziale Netzwerke und Echtzeitkommunikation gehören seitdem zum festen Bestandteil politischer Kommunikation – doch formiert sich dadurch wirklich eine neue politische Klasse? Sicher ist, dass die Auswirkungen nicht nur online spürbar sind: angesichts sinkender Mitgliederzahlen und einer zunehmenden Wahlmüdigkeit geraten zukünftige Entwicklungspfade der Parteien ebenso in den Blick wie Fragen nach einer mediengestützten Modernisierung des Wählens.
Auf Carta veröffentliche ich in den nächsten Tagen drei kurze Auszüge daraus: im Abschnitt “Parteien reloaded? Die Entwicklung in den USA” geht es um den sich vor den Midterm-Elections gerade voll entfaltenden Kampf zwischen “Online-Linken” und “Online-Rechten”. Im Mittelpunkt stehen dabei “Organizing for America”, die aus der Obama-Kampagne entstandene demokratische Vorfeldorganisation und die “Tea Party Patriots” als deren Gegenstück im konservativen Spektrum.
Der zweite Abschnitt ist der Einstieg in das Kapitel “Die neue politische Klasse“: Hier stelle ich mit Markus Beckedahl, Sascha Lobo und Constanze Kurz drei Vertreter der “digitalen Intelligenz” vor, die mittlerweile wichtige Akteure einer neuen politischen Öffentlichkeit geworden sind. Dieses Trio steht dabei für die möglichen Folgen der “Architektur der Partizipation”, die Tim O´Reilly in seinem Grundlagentext zum Web 2.0 skizziert hat.
Der dritte Auszug nimmt eine “historische Perspektive” ein. Die Passage “Im Maschinenraum der Zensursula-Kampagne” beschreibt die Entstehung des Hashtags “#zensursula” und damit den Beginn der gleichnamigen Kampagne. Profitieren konnte davon zunächst die Piratenpiratei, inzwischen ist auch deutlich geworden, dass an dieser Stelle das Politikfeld der “Netzpolitik” seine Wurzeln hat.
Hier nun der erste Auszug:
Parteien reloaded? Die Entwicklung in den USA
Dass die hierzulande in die Jahre gekommene Organisationsform vielleicht doch noch eine Zukunft hat, zeigt sich in den USA, wo Parteiorganisationen jahrhundertelang nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. In einer überraschenden Wendung scheint gerade dort die Zersplitterung politischer Öffentlichkeit im Verbund mit den Möglichkeiten individualisierbarer politischer Kommunikation und Beteiligung neue politische Vergemeinschaftungsformen hervorzubringen.
So ist aus den über die Website My.BarackObama.com registrierten Wahlkampf-Unterstützern die Vereinigung »Organizing for America« (OFA) hervorgegangen: eine Art Bürgerverband, der sich seitdem als eine zweite Parteibasis neben der klassischen Parteibürokratie der Demokraten im eher linken, progressiven politischen Spektrum etabliert hat. Oberstes Ziel der OFA ist die Begleitung der präsidentiellen Agenda, sichtbar zum Beispiel bei der Durchsetzung der Gesundheitsreform.
Immer wieder hatte sich Obama über das OFA-Netzwerk an die Unterstützer gewandt und um Rückhalt für seine Ideen geworben. Direkt aus dem Weißen Haus hätte der Präsident dies nicht tun dürfen – »Organizing For America« als im Wortsinn »virtuelle Parteibürokratie« fungiert hier im Sinne einer Hilfskonstruktion, die den Zugriff auf einen E-Mail-Verteiler mit einer Größenordnung im zweistelligen Millionenbereich möglich macht. Charles Homans, Autor für das Fachjournal Washington Monthly, hält die netzbasierte Unterstützerstruktur für so etwas wie die »Obama-Partei«.
Falsch ist diese Einschätzung sicher nicht. Im ganzen Land haben sich auch nach der Wahl Freiwillige gefunden, die in ihrem persönlichen Umfeld die Werbetrommel für den Präsidenten und seine Politik rühren. Es wird noch immer zu Nachbarschaftsabenden geladen, an Türen geklopft und zur Kontaktaufnahme mit Kongressmitgliedern aufgerufen. »Wir haben eine leistungsfähige und nachhaltige Infrastruktur aufgebaut, in jedem Bundesstaat, sogar in jedem Wahlbezirk des Kongresses gibt es Unterstützer«, betont Jeremy Bird, stellvertretender OFA-Direktor.
Die Unterorganisationen auf regionaler Ebene führen eigene Büros, pflegen ihre Facebook-Seiten oder versenden Nachrichten via Twitter. Gerade aus europäischer Perspektive scheint hier tatsächlich so etwas wie eine Präsidentenpartei zu entstehen, die sich der Begleitung und Durchsetzung der Politik des Weißen Hauses auf lokaler Ebene verschrieben hat.
Dass es sich dabei um ein zeitgemäßes US-amerikanisches Erfolgsmodell handelt, zeigen die Erfolge der rechtskonservativen »Tea-Party«-Aktivisten auf der anderen Seite des ideologischen Grabens im Vorfeld der Zwischenwahlen im November 2010. Nach einem ähnlichen Muster haben sich auch weit jenseits des progressiv-demokratischen Lagers lose miteinander verkoppelte Unterstützergruppen formiert, die ebenfalls massiv auf die Mittel der Online-Kommunikation setzen.
Anders als bei OFA fehlen bei der »Tea Party« allerdings die Fokussierung auf einen personellen Fixpunkt und ein zentrales Register als Rückgrat der Organisation. Zwar wird mit Sarah Palin immer wieder eine republikanische Hoffnungsträgerin als mögliche Integrationsfigur der Aktivisten genannt, doch ist der tatsächliche Stellenwert der ehemaligen Gouverneurin von Alaska im konservativen Ausrichtungsprozess nach der Wahlniederlage von 2008 noch unklar.
Bislang funktioniert die Unterstützung im Zeichen des Teebeutels vor allem auf lokaler und regionaler Ebene, oftmals in klarer Abgrenzung zu Themen und Personen aus dem Umfeld von Präsident Obama. Bisher das beste Beispiel lieferte die Wahl des Republikaners Scott Brown zum Senator in Massachusetts gegen die vom Präsidenten gestützte Demokratin Martha Coakley im Frühjahr 2010.
Die Zukunft der »Tea Party«-Bewegung ist vor allem an einen Dialog mit der republikanischen Partei geknüpft. Inhaltliche Standpunkte (Steuersenkungen, Bürokratieabbau, Marktradikalismus) werden bislang unabhängig von Parteiplattformen platziert, üben aber durchaus einen Einfluss auf die innerparteiliche Willensbildung und Programmentwicklung aus.
Noch ist aus der grundsätzlichen Ablehnung der Obama-Administration aber längst keine eindeutig pro-republikanische Strömung entstanden, sondern im Gegenteil haben die »Tea Party«-Anhänger in mehreren Fällen das konservative Lager gespalten und so zu Vorwahl-Erfolgen demokratischer Kandidaten geführt. Inwiefern es zu einer Homogenisierung der inner- und außerparteilichen Strömungen im konservativen Spektrum kommt, wird erst die zweite Hälfte der Amtszeit von Präsident Obama zeigen.
Schon jetzt aber wird deutlich, dass sich in den USA politische Beteiligung und Organisation nicht mehr allein auf die Zeit der großen Wahlkampagnen konzentriert, sondern dass gerade durch die produktive Nutzung digitaler, interaktiver Medienangebote eine neue, auf Dauer angelegte Beteiligungskultur möglich geworden ist.
“politik digital. Online zum Wähler” erscheint am 01.10.2010 im blumenkamp verlag und kann dort für 15 € bestellt werden.