von Stefan Schulz, 15.5.15
Journalismus nach dem Text. Handelt es sich bei diesen Satz noch um eine Prognose? Oder erleben wir jetzt schon Journalismus ohne Text? Man kann es nicht genau sagen, muss man auch nicht. Die Frage stellt sich allerdings und es gilt: Auch bevor Marcel Reich-Ranicki sich nicht mehr dagegen wehren konnte, Autoren, über die auf seinen Literaturseiten in der FAZ berichtet wurde, mit einem Porträtbild abzubilden, gab es zu keiner Zeit einen reinen Textjournalismus. Die Bleiwüste war immer nur ein Angebot unter vielen. Vor dem großen Erfolg der Zeitungen gab es das Radio, das Gespräch auf Marktplätzen gab es und es verschwand nicht, es wanderte nur ab auf die Flure der Arbeitsorganisationen, illustrierte Bücher sind auch älter als die Zeitungen und dasselbe gilt für das Kino. Und der große Erfolg der Zeitung war sowieso im Vergleich immer nur ein kleiner: Heute sprechen wir von einer Zeitungskrise, in den 70er Jahren haben aber noch weniger Leute als heute Zeitungen gelesen.
Der Text, wie wir ihn in Zeitungen spaltenweise geschrieben kennen und heute auch im Internet finden, besetzte im Journalismus eigentlich immer nur die Nische. Erst recht im Vergleich zum Fernsehen, das immer weitverbreiteter und in den privaten Haushalten immer viel präsenter war und das auch geblieben ist. Vom Internet, das uns heute überall hin, bis unter die Bettdecke begleitet, ganz zu schweigen. Es kommt uns heute geradezu wie eine Verschwendung vor, auf einem Bildschirm, der alles kann, nur Text anzuzeigen. Und kein Inhalte-Anbieter ist so waghalsig, diese Reduktion der Möglichkeiten auf gerade einmal 26 Buchstaben heute noch zu versuchen. Vielmehr hat sich die vermeintlich unumstößliche Erkenntnis durchgesetzt, dass das größte Problem des Papiers seine Limitierung war, die nun mit digitalen Papier, dem Bildschirm, endlich überwunden wurden. Auf ein Bildschirm passt unendlich viel Text, wenn auch nicht gleichzeitig, und man kann ihn nicht nur einmal bedrucken, sondern 60 Mal pro Sekunde. Warum also sollte man all die neuen Möglichkeiten nicht auch nutzen? Warum soll man den Journalismus, der uns die Welt vermittelt, weiterhin auf das Medium Text beschränken, um Sachen zu erklären, die viel schneller und viel tief gehender mit anderen Methoden dargestellt werden können? Diese Frage hat sich auch der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg gestellt – und beantwortet. Er sagte vor zwei Jahren: „Das Ziel ist eine perfekte, personalisierte Tageszeitung für 1 Milliarden Menschen zu entwickeln.“ Seine Methode war der Newsfeed, die chronologische Auflistung aller Ereignisse, die Menschen interessieren. Sei es ein Erdbeben in Nepal, die Geburt einer englischen Prinzessin, die Urlaubsreise einer nahen Freundin oder der erfolgreiche Schulabschluss von der Cousine einer Freundin, die man noch nie im Leben gesehen hat und auch nie sehen wird. Als Facebook diesen Newsfeed 2006 einführte, der all diese Informationen an einem Ort bündelte und anzeigte, protestierten 10 Prozent aller damaligen Facebook-Nutzer dagegen. Facebook war jung, gerade zwei Jahre alt. Heute wissen wir aber, die Idee war revolutionär und die massenhafte Kritik ist verstummt. Wir haben uns daran gewöhnt, selbst Nachrichtenwert für andere zu haben und über das Leben anderer informiert zu werden. Facebook macht uns diesen neuen Platz in unserer Gesellschaft schmackhaft.
Wenn wir Facebook öffnen, steht an erster Stelle eine persönliche oder gar private Meldung. Jemand den Sie kennen teilt etwas mit, für das sie sich interessieren. Und an dieser Meldung hängt ein Bild. Der erste Blick auf den Facebook-Newsfeed verrät jedem Nutzer, dass es hier um ihn geht. Dann folgen die Sachen, die Facebook so wichtig sind: Facebook versorgt seine Nutzer mit Nachrichten. Wenn Sie sich fünf Minuten bei Facebook aufhalten, erfahren Sie alles was sie interessiert über die Welt und über ihren Platz in der Welt. Facebook hat einen sehr guten Mittelweg gefunden: Anders als eine Zeitung, informiert sie Facebook nicht nur darüber, was hinter dem Horizont passiert. Und anders als Gespräche unter Freunden, Tratsch in Klassenzimmern und am Arbeitsplatz, informiert sie Facebook auch darüber was hinter dem Horizont passiert. Dieses Kunststück gelang einem 26-jährigen, Greg Marra, der das Entwicklerteam des Newsfeeds leitet und der wahrscheinlich jünger ist als jeder deutsche Volontär. Wobei die meisten Zeitungen schon keine mehr haben, die Frankfurt Allgemeine Zeitung beispielsweise bildet schon keine Journalisten mehr aus. Dieser junge Mann und seine gerade mal 16 Mitarbeiter haben den Kampf gegen alle Zeitungen der Welt aufgenommen und wie wir heute absehen können – gewonnen. Will man etwas darüber erfahren, wie wir uns die Welt vergegenwärtigen, wie wir uns darüber informieren, was uns betrifft, welches Bild wir uns von der Gesellschaft und ihre Zukunft machen, müssen wir auf Facebook achten. Die Rolle und die Funktion des Journalismus in der Gesellschaft wird heute von Facebook geplant. Facebook weiß, welche Funktion der Journalismus künftig übernehmen kann – und soll. Wie so viele Entwickler aus dem Silicon Valley, äußert sich auch Greg Marra nicht zu seiner Arbeit, zumindest nicht öffentlich. Der eine Satz, den er auf seinem Facebook-Profil zu seiner Arbeit sagt, ist allerdings sehr aussagekräftig. Er schreibt: „Ich helfe Menschen dabei, die Welt durch die Augen ihrer Freunde zu sehen.“ Nur hat Facebook primär natürlich ganz anderes im Sinn, als uns über die Welt zu informieren in der wir leben. Diese Aufbereitung und Zugänglichmachung von Wissen ist lediglich das Mittel für den eigentlichen Zweck dieses sozialen Netzwerks, nämlich sich in der Aufmerksamkeitsökonomie gegen Konkurrenten durchzusetzen.
Die Webseiten der großen Zeitungen könnte man im Grunde nun auch abschaffen.
Der Auftrag, den sich Facebook selbst stellt, ist ganz profan: Es geht darum Werbeplätze zu erschließen und sie so vielen Menschen wie möglich schmackhaft zu machen. Facebook hat dafür eine gute Strategie gefunden: Die Entwickler schauen sehr genau hin, wie Menschen Medienangebote nutzen. Und sie achten darauf, wann Menschen besonders hohes Engagement in der Rezeption zeigen. In der Aufmerksamkeitsökonomie gilt die alte Logik: Zeit ist Geld. Und auch das Rezept ist relativ bekannt: Wer die Instinkte bedient, gewinnt im generellen Kampf um Aufmerksamkeit. Und wer dann geschickt die Emotionen bedient, stellt die Aufmerksamkeit auf Dauer. Facebook hat die ganze Bandbreite an Angeboten zur Verfügung, um mithilfe dieses Rezept eine leicht verträgliche Nachrichtendiät für seine Nutzer zu entwickeln. Egal welchen der mehr als eine Milliarde Nutzer man nun nimmt, ein Aspekt gilt für alle: Der journalistische Text ist wahrscheinlich die unattraktivste Form, um Aufmerksamkeit zu erregen, und zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung zu motivieren. Das gilt nicht für Texte allgemein, sondern eben für den journalistischen, der nicht an uns speziell adressiert ist, der deswegen auch nur selten wirklich eilt und von dem wir, schon bevor wir ihn lesen, wissen, dass ihm wohl nichts Konkretes folgt – vor allem nicht hinsichtlich einer Änderung unseres Verhaltens.
Wenn Menschen lesen und gerne lesen, sind es vor allem private Nachrichten. Facebooks Erkenntnisse schlagen sich in besonderer Weise in der finanziellen Strategie des Unternehmens nieder. Für WhatsApp, den SMS Dienst, bezahlte Facebook 19 Milliarden Dollar Für Instagram, das soziale Netzwerk, das nur mit Bildern funktioniert, bezahlte Facebook eine Milliarde Dollar, zu einer Zeit, als diese eine Milliarde noch wahnwitziger klang als die 19 Milliarden für WhatsApp. Aber beide Investitionen haben sich offenbar gelohnt. Facebook hat einen enormen Vorsprung in der Ausbeutung von Aufmerksamkeit. Insbesondere auf Handybildschirm schlägt Facebooks Wachstum alles, sogar Googles gigantische Verbreitung. Facebook hat viel Geld und es investiert viel Geld, der Journalismus bekommt davon allerdings nichts ab. Facebook beginnt gerade damit Texte der New York Times bei sich zu hosten. Und zwar aus ganz nahe liegenden Gründen: die Menschen, die diese journalistischen Texte lesen, kümmern sich nicht darum, wo sie herkommen. Ob sie ihn auf der Webseite der New York Times lesen oder direkt bei Facebook macht keinen Unterschied. Abgesehen von einem sehr kleinen: Der Leser spart einen Klick. Ist ein Text bei Facebook nur verlinkt, muss man eben diesen Link klicken, um lesen zu können. Gibt es den Text direkt bei Facebook, kann man ihn gleich lesen. Das klingt, als ginge es mir hierbei etwas zu sehr ums Klein-Klein des Medienwandels. Aber der Stand der Dinge ist: Facebook optimiert seine Position im Kampf um Aufmerksamkeit gerade im Hundertstel-Sekunden-Bereich. Das Papier wurde ja schon abgeschafft. Die Webseiten der großen Zeitungen könnte man im Grunde nun auch abschaffen. Warum soll man Texte nicht bei Facebook lesen? Nur in seltenen Fällen interessieren sich Leser dafür, wer einen Text geschrieben hat und wo er ursprünglich publiziert wurde. Das, was die Leser heute am meisten interessiert, ist, wer ihnen den Text empfohlen hat. Wir haben es mit der De-Institutionalisierung des Journalismus in vollem Gange zu tun. Wenn sich die nächsten fünf Jahre so entwickeln wie die vergangenen fünf Jahre, interessieren sich 2020 nur noch Journalismus-Studenten dafür, dass es noch Zeitungen wie die Süddeutsche Zeitung oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung gibt. Weil sie sich dann immer noch darüber freuen werden, wenn sie in diesen Blättern ihren ersten Text publizieren. Und sie werden ernüchtert feststellen, dass es sonst niemanden mehr interessieren wird.
Es stellen sich zwei Fragen: Was bedeutet dieses Verschwinden der journalistischen Institution? Und wer ist an ihrem Verschwinden schuld? Ich beginne mit der zweiten Frage. Aus der Sicht eines deutschen Verlegers, ist am gegenwärtigen Zustand des Journalismus ganz allgemein das Internet und im Besonderen Facebook schuld. Es gibt in den Redaktionen allerdings etliche Journalisten, die es besser wissen. Frank Schirrmacher schrieb mit „Payback“ und „Ego“ zwei Bücher, die sich mit den Grundlagen des Strukturwandels befassten. Die Frage, was noch auf uns zukommt, beantwortet derzeit niemand so gut wie Christoph Keese in seinem Buch „Silicon Valley“. Und das Buch der ehemaligen und derzeitigen (Vize)-Chefredakteure von Spiegel und Stern, Stefan Aust und Thomas Ammann, heißt „Digitale Diktatur“. Ihre Werke haben niemanden so wenig beeindruckt, wie die deutschen Verlagschefs. Nur ein kleiner Einblick: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung stemmt sich gerade gegen die Entwicklungen und plant für die kommenden Jahre einen Abonnementpreis von 1000 Euro im Jahr. An die Rettung der Institution im alten Stil wird in Frankfurt noch geglaubt, derzeit mit der Hilfe von Roland Berger. Tatsächlich ist längst dokumentiert, wohin die Reise geht, und worum es den Redaktionen gehen sollte. Es gibt insbesondere ein Dokument, das kürzlich alle aufschreckte. Im Mai 2014 veröffentlichte die New York Times unabsichtlich ein 100-seitiges Dokument, in dem sich Mitarbeiter des Hauses mit dem Zustand ihrer Zeitung beschäftigten. Sie führten dafür mehrere Dutzend Interviews und schauten sich die ökonomischen Kennzahlen ihres Geschäfts genau an. Eine der wichtigsten Erkenntnisse betrifft auch alle deutschen Zeitung: Zwischen den Jahren 2011 und 2013 sank die Zahl der Leser, die die New York Times über die Homepage der Zeitung besuchte, um die Hälfte. Statt 160 Millionen Leser, kamen nur noch 80 Millionen, um sich auf der Startseite im Nachrichtenangebot zu bedienen. Tatsächlich wurden es aber nicht weniger Leser. Nur kamen die Leser eben nicht mehr über die Startseite, die die Redaktion zusammenstellte. Sondern die Leser kamen, weil sie Empfehlungen in sozialen Netzwerken folgten. Sie sahen also tatsächlich nur den einzelnen Artikel, auf den sie hingewiesen wurden und dann gingen sie wieder. Eine überwältigende Mehrheit der Leser ist nur noch Laufpublikum. Diese Zahlen der New York Times sind inzwischen schon wieder zwei Jahre alt. Die Zahlen sagen: Die Leser interessieren sich noch für die Inhalte der Zeitungen, aber ihre Treue gilt heute Facebook. Für die deutschen Zeitungen verlief es ganz genauso. 2014 wurden rund ein Drittel aller Leser von Facebook vermittelt. Das bedeutet für die Zeitungen im Detail: Wer eine Nachrichtenseite direkt aufruft, bleibt rund viereinhalb Minuten und klickt bis zu 25 Seiten an. Wer dagegen einem Social Media Link folgt, bleibt nur eineinhalb Minuten und klickt nur rund fünf Seiten an. Das ergab eine Erhebung von Comscore, einem amerikanischen Unternehmen für Marktforschung, das diese Zahlen für das Pew Research Center erhoben hat. Ähnliche regelmäßige und intensive Forschung für Deutschland gibt es nicht. Das Problem für die Zeitungen ist nun, dass sie dieses Spiel mitspielen müssen. Da die gedruckte Zeitung als Umsatz- und Gewinnbringer ausfällt, wird nur in die digitale Zeitung investiert. Diese wird nicht mehr am Stück vertrieben, sondern jeder Text muss sich einzeln in der Aufmerksamkeitsökonomie bewähren.
Die Zahlen sagen: Die Leser interessieren sich noch für die Inhalte der Zeitungen, aber ihre Treue gilt heute Facebook.
Eigentlich ist die Zeitung schon längst abgeschafft. Wie sehr die Zeitung schon umgebaut sind, bekommt man als Leser im Grunde nicht mit. Auch die Mitarbeiter in den Redaktionen übersehen den Strukturwandel. Was man bemerkte, ist, dass das Feuilleton der FAZ in einem Jahrzehnt von 12 auf 4 Seiten schrumpfte und das wieder häufiger schwarz-weiß gedruckt wird. Von allem anderen bleibt jedoch nur ein diffuser Eindruck der Veränderung. Aber es gibt zumindest eine Geschichte die ich hier erzählen kann, die es ein wenig verdeutlicht. Anfang 2014 schrieben zwei Kollegen und ich einen großen Recherchetext, der ohne Diskussion die gesamte Seite 1 des Feuilletons einnahm. Es ging um den digitalen Wandel in Europa, die Gesetzgebung und Lobbyeinflüsse. Und natürlich sollte dieser Text auch auf der Internetseite der FAZ prominent publiziert werden. Nur stellte sich die Onlineredaktion an diesem Morgen quer. Es gab nämlich etliche andere, und attraktivere Themen als unser 600-Zeilen-Stück. Der Konflikt auf der Arbeitsebene zwischen dem Feuilleton und der Onlineredaktion spitzte sich dann so zu, dass am Ende Frank Schirrmacher als Herausgeber entscheiden musste, damit dann auch für alle klar war, dass es sich jetzt um eine verbindliche Entscheidung handelte. An diesem Tag erfuhr Schirrmacher das erste Mal, wie es in der Onlineredaktion zugeht. Wie in jeder großen Onlineredaktion in Deutschland wird der Tag nämlich von einer Software geplant – Chartbeat. Chartbeat ist wahrscheinlich das weitverbreiteste Werkzeug, um Leserströme auf Webseiten zu analysieren. Die Software verfolgt jeden Leser auf Schritt und Tritt. Die Daten über das Leseverhalten lassen sich dann übersichtlich anzeigen, man kann live beobachten wie die Leser lesen. Es gibt dann beispielsweise Tachonadeln, viele Tabellen, Balkengrafiken und all das, womit man sich große Datenberge darstellbar macht. Die Redakteure können sich das Leseverhalten allerdings auch auf der Webseite direkt anschauen. Redakteure im Dienst sehen dann ihre Seite, wie sie sie ihren Lesern präsentieren, nur bekommen Sie an jedem Text einen kleinen Hinweis. Am Text klebt dann eine kleine Blase, die farblich anzeigt ob dieser Text gerade besser oder schlechter im Vergleich zu anderen Texten auf der Seite und zu vorherigen Texten an derselben Stelle liegt. Wenn Sie durch eine Onlineredaktion laufen, sehen sie wahrscheinlich auf sehr vielen Bildschirmen die Webseite der Redaktion mit diesen grünen, grauen und roten Lämpchen an den Texten. Und wenn es rot leuchtet ist das eine Handlungsaufforderung. Rot markierte Texte laufen beim Publikum nicht gut. Ist man an der Reichweite der eigenen Webseite interessiert – und das ist das Einzige, was die Redaktion heute noch interessiert – müssen Sie diese Texte austauschen. Dass es diese Software gibt und dass sie in der eigenen Onlineredaktionen den Alltag bestimmt, überraschte Schirrmacher. Er rief daraufhin verantwortliche Feuilleton-Redakteure und diensthabende Online-Redakteure zu sich, um grundsätzlich zu klären, dass die Linie der Zeitung von ihren Herausgebern festgelegt wird und nicht von einer Software. Nun ist Frank Schirrmacher der gewesen, der sich wie kein zweiter mit dem digitalen Wandel befasste. Sie können erahnen wie wenig andere leitende Journalisten in Deutschland wissen was in ihren Häusern vor sich geht und wie sich die Funktion des Journalismus in der Gesellschaft verändert. Sie wissen es nicht. Sie können sich alle über Google und Facebook aufregen. Aber ihren eigenen Zulieferer-Status kennen sie nicht.
Die privatwirtschaftlichen Zeitungen und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkhäuser werden jetzt zehn Jahre leiden und dann werden sie verschwinden. Betritt man diese Organisationen, fällt als Erstes auf, dass sie selbst nicht darüber Auskunft geben können, warum es sie gibt.
Trotz des hehren Anspruchs, eine Säule der Demokratie zu sein und trotz des unerschütterlichen Glaubens, dem Publikum ein alternativloses Angebot von Relevanz zu machen, haben sich die journalistischen Institutionen selbst den Boden unter ihren Füßen weggerissen. Die Verlage haben ihre Zeitungen schon der neuen Internetlogik geopfert, als es Facebook noch gar nicht gab. Nun sind sie dem Unternehmen ausgeliefert, weil nur Facebook noch Zugänge zu neuen Lesern bietet. Laut einer zwei Jahre alten Erhebung des Pew-Research-Centers erhält ein Drittel aller Amerikaner seine Nachrichten über Facebook. 16 Prozent der 5000 Befragten sagte, sie gingen gar nicht wegen der Nachrichten dort hin. Aber 78 Prozent sagen, sie stolpern bei Facebook über Nachrichten, die sie sonst nie erreicht hätten. Verlage, die ihr Medienangebot fürs Internet aufbereiten, müssen sich an Facebooks Logik orientieren: Sie brauchen Inhalte, die niemanden überfordern, die emotional ansprechend sind, die das Publikum mit etwas Konkretem beschäftigen. Vier Fünftel der Inhalte, die durch Verlage zu Facebook gespielt werden, werden dort wieder aussortiert. Facebook möchte nicht – Zitat von Facebook: „dass Nutzer etwas verpassen, für das sie sich wirklich interessieren“. Das würde nämlich angeblich passieren, sagt Facebook, wenn Facebook-Nutzer ihre Nachrichten selbst sortieren. Über die Frage, wie Facebook die Inhalte sortiert und ganz direkt Einfluss auf politische Diskussionen nimmt und beispielsweise Wahlen beeinflusst, müsste extra gesprochen werden. Für jetzt soll nur angemerkt sein: Facebook greift in den Newsfeed seiner Nutzer ein und sortiert ihn nach mehreren 100 Kriterien, die natürlich niemand kennt außer Facebook. Als die Verlage, lange vor Facebook, damit begannen, ihre Inhalte auch online zu publizieren, saßen sie einem Irrglauben auf. Ihre Rechnung funktioniert nicht: Die Relevanz einer gedruckten Zeitung und die Reichweite eines Onlineangebots addieren sich nicht. Stattdessen fiel der Reichweite die Relevanz zum Opfer. Die Webseiten der großen Zeitungen haben im Internet ungefähr zehnmal so viel Leser wie auf Papier. Bei dem reichhaltigen Online-Angebot nimmt aber kein Leser mehr die finanzielle Hürde einer gedruckten Zeitung. Als ich im August 2011 zu FAZ kam wurde sie jeden Tag 462.000 mal gedruckt. Bei meiner letzten Konferenz im Dezember 2014 bereitete Günter Nonnenmacher die Feuilletonredaktion darauf vor, dass die Gesamtauflage nun unter 300.000 fällt. Ich zitiere das hier etwas indiskret, weil diese Zahlen inzwischen bekannt sind. Auf der anderen Seite fallen die Preise der Onlinewerbung ins Bodenlose. Warum soll noch jemand 80.000 Euro pro Tag dafür bezahlen, bei Spiegel Online werben zu dürfen, wenn es ohnehin niemanden interessiert, dass es sich um die Seite von Spiegel Online handelt?
Die Printredaktionen sind mitten im Schrumpfungsprozess und die Onlineredaktionen müssen jetzt alles auf Reichweite trimmen. Wie die Stimmungen in den Redaktionen sind, muss man niemandem beschreiben. Arbeit lässt sich nicht mehr auf Hospitanten abwälzen, weil es kaum noch welche gibt. Volontäre wird es auch nicht mehr geben. Neueinstellungen in die Redaktionen sowieso nicht. Die Zeitungen vergreisen. Zeitung wie die Süddeutsche Zeitung oder die FAZ haben Jahresumsätze von mehreren hundert Millionen Euro, dafür, dass rund 100 Menschen täglich eine Zeitung schreiben. Wie kann eine Rechtfertigung dafür künftig aussehen? Oder der öffentlich-rechtliche Rundfunk: Rechnerisch, das sind die Budget-Zahlen für 2015, könnte die ARD, das ZDF und das Deutschlandradio – aus den drei Häusern besteht das Institutionengefüge des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – 89.000 Journalisten ein Jahresgehalt von 100.000 Euro bezahlen. Warum sollte man nicht jedem Journalisten sagen: „Hier hast du 100.000 Euro, kauf dir eine Kamera, ein Mikrofon und einen Computer, tu dich mit Kollegen zusammen und berichte uns einmal pro Woche etwas spannendes aus der Welt. Nächstes Jahr bekommst du die nächsten 100.000 Euro“. Das aktuelle Budget für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk würde ausreichen, 89.000 Journalisten auf solche Jahresmissionen zu schicken. Dafür, dass mehr als 90 Prozent dieses Geldes, derzeit mit Journalismus recht wenig zu tun haben, gibt es heute nur noch komplizierte, juristisch – aber keine vernünftige Rechtfertigung mehr. Die privatwirtschaftlichen Zeitungen und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkhäuser wissen das eigentlich. Sie werden jetzt zehn Jahre leiden und dann werden sie verschwinden. Mir sind noch keine Mittel eingefallen, die das Leiden lindern oder die gar das Verschwinden aufhalten könnten. Tatsächlich ist es schlimmer. Betritt man diese Organisationen, fällt als Erstes auf, dass sie selbst nicht darüber Auskunft geben können, warum es sie gibt. Wenn sich FAZ-Redakteure morgens treffen, wissen Sie, dass es einer ihrer Tagesordnungspunkte ist, eine Glosse für Seite 1 zu finden. Aber sie suchen sie nur aus Tradition. Es gibt keinen allgemeinen Grund dafür, diese kleinen Meinungsstücke rechts oben in die Ecke der ersten Seite zu schreiben. Es gibt auch keine Rechtfertigung dafür, weshalb es pro Tag nur eine und nicht beispielsweise drei Glossen gibt. Und so wird Tag ein, Tag aus morgens gefragt: „Haben wir schon eine Glosse?“ Und wenn man ein hat, ist alles gut.
Die Probleme der journalistischen Institutionen lassen sich im Detail beschreiben aber nicht lösen. Und würde man einfach Facebook zum Schuldigen erklären, wäre das ein Fehler. Es wäre viel zu leicht, Facebook und das Internet einfach so miteinander zu verwechseln, auch wenn diese Unternehmen das selbst gerne tun und obwohl diese Unternehmen wie Parasiten die Möglichkeiten des Internets ausbeuten, was natürlich nicht ohne direkte Effekte, auch auf die Institutionen der Massenmedien, bleibt. Die Verlage dachten, das Internet sei nur ein weiterer Verbreitungsweg. Nicht zu erkennen, dass sich das Netz technisch darüber weit hinaus weiterentwickelte – das ist der Fehler, der nun nicht mehr zu revidieren ist. Nun zu der zweiten noch offenen Frage: Was bedeutet diese Entwicklung für uns und unser Bild von der Gesellschaft in der wir leben? Es gibt einen Hoffnungsschimmer, schließlich hängt unser Schicksal nicht an einzelnen orientierungslosen Organisationen. Gerade was die Massenmedien betrifft, fällt nämlich eine Unterscheidung sehr leicht und das ist die Unterscheidung zwischen Organisationen und Institutionen.
Die Republica ist einmal als Bloggerkonferenz gestartet, jetzt ist sie eine Konferenz für Bild, Ton und Videovermittlung – in der Textproduktion und Textvermittlung eigentlich keine Rolle mehr spielt. In der Suche nach einer guten Zukunft spielt der geschriebene Text eine sehr untergeordnete Rolle. Darin könnte der Fehler liegen. Wollte man tatsächlich über das demokratische, verlässlichste und zukunftsträchtigste Medium etwas sagen – muss man über Schrift sprechen. Und zwar ganz bewusst darüber, was die geschriebene Sprache eigentlich vom gesprochenen Wort unterscheidet, unabhängig davon ob man in einer Kneipe ein Gespräch führt, per Skype eine Konferenz abhält oder per Periscope lifestreamt, was man gerade erlebt. Denn all diese altbekannten und neuen, technologiegestützten Formen, Gespräche zu führen, bleiben doch bloße Interaktionen. Wer an diesen Gesprächen teilnimmt, muss sich auf einen vorgegebenen Rhythmus einlassen. Und man kann auch nicht dulden dass mehr als ein Thema gibt, über das kommuniziert wird. Sprecher müssen anwesend oder zumindest sichtbar sein und die Überzeugungskraft eines Sprechers hängt recht häufig davon ab, wie laut er werden kann. Die Schrift, der geschriebene Text, erlaubte schon vor Jahrhunderten viel mehr. Autoren von Schrift werden beispielsweise in Ruhe gelassen. Es gibt einen deutlichen und wichtigen zeitlichen Unterschied zwischen der Formulierung und der Publikation eines Gedankens. Für die Leser gilt, dass sie diesen Gedankengängen im eigenen Rhythmus und in selbst gewählter Reihenfolge folgen können. Beim Lesen ist der Autor abwesend, vielleicht sogar unbekannt. Keine seiner persönlichen und sozialen Eigenschaften spielt beim Lesen eine Rolle. Geschriebene Texte, die überzeugen sollen, können nur inhaltlich überzeugen. Außer dem Inhalt eines Textes steht dem Leser schließlich nichts zur Verfügung, was ihm dabei hilft, die Glaubwürdigkeit eines Textes zu bewerten. Das macht die Qualität eines Textes aus. Er muss verständlich sein, anspruchsvoll und unterhaltsam. Das gilt insbesondere für den journalistischen Text, der sich stets an ein unbekanntes Publikum richtet. Texte, die wir nicht mit einem Eilvermerk vom Chef bekommen, haben es immer schwer zu begründen, warum wir sie lesen sollen. Diese hohe Hürde, die heute so oft als Problem erkannt wird, ist aber die eigentliche Grundlage für unsere moderne Gesellschaft.
Die Menschheit hatte in den vergangenen 500 Jahren Schrift und Buchdruck zur Verfügung. Jetzt hat sie mehr und deswegen fällt sie wieder zurück in die Zeit vor dem 15. Jahrhundert.
Die Schrift befreite die Kommunikation von den strengen sozialen Regeln einer Interaktion – und setzte neue Kapazitäten frei. Es gilt ja zu Recht als unhöflich, in einem Gespräch abgelenkt zu sein, beispielsweise durch Blicke aufs Handy. Es ist aber völlig normal, an einer Kommunikation mit einem Autor nackt teilzunehmen, weil man gerne in der Badewanne liest. Es widerspricht auch keiner sozialen Regel, 3:00 Uhr nachts ein Buch zu lesen. Telefonate mit dem Autor wären zu dieser Zeit sehr schwer. Das sind die Allerwelts-Argumente. Hinzu kommen die, über die Niklas Luhmann ausführlich schrieb: Kollektives Erinnern ist nur mithilfe von Schrift möglich. Gleiches gilt für die kollektive Auseinandersetzung mit dem, was hinter dem Horizont passiert. Ohne Schrift, schreibt Luhmann in „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, gab es nur zwei Wege, sich darüber zu informieren, was dort passiert wohin man nicht einfach so mit eigenen Augen schauen kann. Entweder man fand einen Mutigen, der die Reise auf sich nahm und magische Geschichten mit zurückbrachte, oder man bediente sich eines Schamanen, der in Ekstase außerweltliche Erfahrung machte. Kriterien dafür, ob die Geschichten des Mutigen letztlich mehr der Wahrheit entsprachen, als die Geschichten des Schamanen, gab es aber nicht. Man konnte eben nur spontan darüber diskutieren. Nur die Schrift konnte das Wissen über die Welt mehren, Erfahrungen festhalten und Erwartungen ausbilden. Wer sich ihr bedient, weiß nicht, mit wem er letztlich kommuniziert. Also galt es, sich eine Universalsprache zu bedienen. Die Schrift wurde dadurch das erste integrative Medium. Durch die Schrift konnte die Welt jenseits des Horizonts der Magie entrissen werden. Dort lebten nämlich plötzlich auch nur Menschen, auch wenn sie mit unbekannten Dialekten über unbekannte Themen sprachen. Die Positivierung des allgemeinen Rechts, das Organisieren von Unternehmen und Parteien oder die Planung einer Infrastruktur erfordert schriftliche Kommunikation. Ganz egal wie leistungsfähig unsere Computer sind und auch unabhängig davon wie sensibel all die Sensoren sind, die wir heute ständig um uns haben, um das gesprochene Wort weltweit vermitteln zu können. Verbindlich macht die bloße Vermittlung das Wort allerdings nicht. All das bringt Luhmann in einem einfachen Satz unter: „Schrift leistet mehr, als durch sie mitgeteilt wird.“ Es geht nicht nur um Inhalte, sondern um Formen der Kommunikation, die nur mit Schrift möglich sind: Gerichtsverhandlungen, Businesspläne, Wahlprogramme und so weiter. Eigentlich verwunderlich, dass man diese Allgemeinplätze heute noch mal wiederholen muss.
Der Journalismus ist nicht der einzige Bereich, in dem die Schrift zur Seite gedrängt wird. Denken Sie an die Piratenpartei, die glaubte, sich allein durch Gerede auf Parteitagen organisieren zu können. Der Satz, dass sie kein Programm habe, wurde legendär. Und er stimmte selbst dann noch, als die Piraten sich auf einen Text einigten, weil es wiederum keinen Text gab, in dem geregelt wurde, wie verbindlich das geschriebene Programm jetzt eigentlich sein sollte. Ohne Text gelingt die Institutionalisierung nicht – deswegen ist diese Partei schon wieder Geschichte. Im Journalismus wird es künftig so weitergehen: Bei Facebook werden Videos radikal bevorzugt. Die Playtaste hat Facebook schon abgeschafft, die Videos laufen einfach los, sobald sie in den Blick der Nutzer geraten. Google fördert Projekte mit lustigen Namen wie „Ground Truth“, Informationen werden auf Zahlen reduziert und direkt auf Landkarten angezeigt, um Sachverhalte zu erklären. Googles hat im April einen 150-Million-Euro-Fond gegründet, um Medienhäuser darin zu unterstützen, neue Technologien zu benutzen und Apps zu entwickeln. Die großen Zeitungsverlage haben das Angebot gerne angenommen. Und Google wird sich gewundert haben, dass sie die De-Institutionalisierung der Medien nun direkt in den Redaktionen vorantreiben können. Der nächste Wahlkampf in Amerika wird per Livestream entschieden. Das nächste große Ding im Journalismus ist nicht mehr die Dokumentation und Reflexion, sondern das Miterleben und Mitfühlen. Die Technologie setzt direkt an unseren Sinnesorganen an und kommt vorzugsweise in Form einer Brille daher. Google hat mit seiner Brille noch nicht viel Erfolg gehabt. Facebook allerdings hat sich die Schlüsseltechnologie schon einverleibt, als es für mehr als eine Milliarde Dollar das Unternehmen hinter Orculus Rift, einer Brille für virtuelle Realität, gekauft hat. Ähnliche Technologien haben inzwischen alle großen IT-Unternehmen im Angebot. Journalismus wird nicht mehr eine Sache der Erkenntnisse und Inhalte sein, sondern eine Sache der Eindrücke und der Gefühle. Inzwischen gibt es nun auch schon die ersten Studien, die ermittelt haben, dass Menschen Facebook und Google weit mehr Vertrauen entgegenbringen, als Medienhäusern. Objektivität ist jetzt ein Qualitätsmerkmal der technologischen Plattformen. Fragt man Google, ist der im eigenen Haus, von den eigenen Ingenieuren entwickelte Such- und Sortier-Algorithmus, ein Naturphänomen, wie von Gott gegeben. Die meisten Menschen teilen diese Einschätzung. Journalismus ist nur noch ein Informationsangebot unter vielen. Umso mehr er sich auf das vermeintlich sichere Fundament der Seriosität zurückzieht, desto mehr macht er sich zu Recht lächerlich. Der MIT-Professor Thomas Pettitt vor, nicht die Zukunft zu beklagen, sondern sich über die Vergangenheit zu wundern. Er spricht von der Gutenberg-Parenthese – von einem historischen Einschub. Die Menschheit hatte in den vergangenen 500 Jahren Schrift und Buchdruck zur Verfügung. Jetzt hat sie mehr und deswegen fällt sie wieder zurück in die Zeit vor dem 15. Jahrhundert – als das Schicksal der Gesellschaft in einzelnen Interaktionen verhandelt wurde. Die Gesellschaft hat sich in der Auseinandersetzung mit sich selbst wieder vom Eigenrecht der Situation gefangen nehmen lassen. Wir werden so viel wie nie zuvor über die Welt wissen, in der wir leben. Aber die bisherigen Wege, uns mit dem zu befassen, was uns betrifft, werden versagen.
Dieser Text ist eine leicht modifizierte Fassung der Vorlesung „Journalismus nach dem Text“, die der Autor am 7. Mai im Rahmen von „Futur 3“ im Schmela-Haus der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW hielt. Die Rede wurde komplett bei www.sozialtheoristen.de veröffentlicht.
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