#Netzsperren

Im Maschinenraum der Zensursula-Kampagne

von , 7.10.10

Als Gerd Eist alias @erdgeist am frühen Morgen des 25. März den Begriff »Zensursula« in eine seiner Twitter-Mitteilungen einbaute, ahnte er wohl nicht, dass er damit das Online-Wort des Superwahljahres 2009 erfunden hatte. Die Kombination aus »Zensur« und »Ursula« wurde in den folgenden Monaten zum populären Kampfbegriff gegen die von der Ministerin vehement geforderten Internetsperren.

Erdgeists Kombination aus »Zensur« und »Ursula« wurde in den folgenden Monaten zum populären Kampfbegriff.

Der unverhohlene Verweis auf die Praxis der Zensur tauchte die Versuche der deutschen Politik, im Umgang mit kinderpornografischen Inhalten neue Wege einzuschlagen und unerwünschte Online-Inhalte zu sperren, in ein grelles Licht. Von der Leyens Sperrkampagne hatte schon im Januar 2009 begonnen, als auf Initiative des Familien­ministeriums eine Kooperation zwischen dem Bundeskriminalamt und fünf Internet-Providern zur Blockade von Online-Angeboten vereinbart worden war.

Stein des Anstoßes der Zensursula-Kritiker war dabei das technische Vorgehen, lediglich den Zugang zu den Angeboten zu blockieren, jedoch keine Löschung des Materials vorzunehmen:

»Die Sperren […] verhindern, dass die illegalen Seiten mit kinderpornografischem Inhalt durch Eingabe des Namens aufgerufen werden können. In der Regel erscheint dann eine erläuternde STOPP-Seite.«

Hierfür hatte das Ministerium einen Entwurf in der Form eines Stoppschildes vorgelegt, der im weiteren Verlauf der Kampagne zu einem wichtigen visuellen Motiv des Protestes avancierte.

Die plakative Gegenüberstellung »Löschen statt Sperren« hatte das Thema zunächst als eher technische Verfahrensfrage erscheinen lassen, weshalb die Kritik sich oft auf Hinweise zur Umgehung solcher Blockaden beschränkte. Erst durch den Perspektiv­wechsel auf den Vorgang der staatlich gesteuerten Unterdrückung von Internet-Inhalten auf einer unsicheren rechtlichen Basis und die Bezeichnung als »Zensurvorwurf« erhielt die Diskus­sion jene Dynamik, die sie zur bisher folgenreichsten netz­politischen Debatte der Bundesrepublik werden ließ.

Die Verhärtung der Diskussionsfront hatte jedoch auch für die Befür­worter der Internetsperren Vorteile. Aus deren Perspektive lief es nun auf die Vereinfachung hinaus, dass die Zensursula-Fraktion keine Schritte zur Eindämmung kinderpornografischer Inhalte einleiten wolle. Prominentestes Opfer dieser Auseinandersetzung wurde der SPD-Politiker Björn Böhning: Im Juni verlieh die BILD-Zeitung dem Berliner den zweifelhaften Titel »Verlierer des Tages«.

Vor allem aber entwickelte Zensursula ein erstaunliches Eigen­leben im Netz. Gerd Eists Tweet wurde zunächst zwar nur von wenigen Nutzern gelesen, verbreitete sich aber durch andere Twitterer sehr schnell. So notierte Tim Pritlove, ein vor allem für seine Online-Radiosendungen bekannter Medien­macher, in seinem Weblog The Lunatic Fringe:

»Dieser Tweet sprang mir später ins Gesicht und irgendwie gefiel mir die plastische Kopplung der beiden Wörter. Ich formte daraus selbst am späten Abend des selben Tages diesen wenig kreativen Tweet: Eine Zensursula findet statt.«

Pritloves Mitteilungen werden aufgrund seiner Online-Bekanntheit von vielen Menschen gelesen: Sein Twitter-Account @timpritlove hat aktuell mehr als zwölftausend Follower und rangiert damit unter den 50 meistgelesenen in Deutschland.

Damit lagen die Zutaten für ein klassisches »Internet-Mem« bereit. Gemeint ist damit zunächst einmal eine fixe Idee, die sich etwa mit einem Bild, einer Animation oder einem kurzen Video illustrieren lässt und fortan in hoher Frequenz durch das Internet weitergereicht wird. Zensursula gilt inzwischen als eines der erfolgreichsten dieser kleinteiligen Internet-Phänomene, die sich auf unterschiedlichen Wegen durch das Netz verbreiten.

Durch die erste Erwähnung bei Twitter folgte alsbald die Erweiterung des Begriffs um das Raute-Zeichen. Während der immer hek­tischer werdenden Online-Debatte um die Einführung von Internet­sperren diente der Hashtag #Zensursula nicht nur als abschätzige Äußerung über die Pläne von Parlament und Regierung oder als direkter Angriff auf Ursula von der Leyen, sondern auch als Erkennungsmarke, anhand derer man einzelne Diskussionsbeiträge wiederfinden und sammeln konnte. Nachträgliche Auswertungen zur Verwendung von #Zensursula erlauben es daher, Verlauf und Intensität der Online-Debatte darzustellen.

Der Höhepunkt der öffentlichen #zensursula-Auseinandersetzung laut Google Trends.

Der Höhepunkt der öffentlichen Auseinandersetzung lässt sich damit ganz präzise auf den Zeitraum vom 14. bis 21. Juni festlegen: In dieser Woche endete die Laufzeit der Online-Petition gegen die Internet­sperren (16. Juni), diskutierte und beschloss der Bundestag den Entwurf des Zugangserschwerungs­gesetzes (18. Juni) und es gingen in mehreren Städten Demons­trations­züge unter dem Banner »Löschen statt sperren« auf die Straße (20. Juni).

Die politische Echtzeitkommunikation spielte dabei aus mehreren Gründen eine wichtige Rolle, denn formelle Trä­ger oder Organisatoren der Kampagne gab es zunächst nicht. Die eifrige Verwendung des Begriffs Zensursula, die Weiter­leitung oder Kommentierung entsprechender Mitteilungen oder ­auch die Veränderung des Twitter-Profilbildes mithilfe eines »Zensiert!«-Schriftzuges sorgten für eine allmähliche Gruppenbildung ­und trugen zu einer virtuellen Identitätsfindung bei.

Dass sich ­durch die Nutzung verschiedener Techniken der Online-­­Kommu­ni­kation ein Kampagnennetzwerk formiert, das über einen längeren Zeitraum Bestand haben kann und schließlich bestimmte Leistungsrollen ausbildet, ist ein gängiges Muster bei informellen Online-Kampagnen ohne klares Aktionszentrum. Das kann die Ent­wicklung von Logos, Illustrationen oder anderer visueller Elemente sein, ebenso die Sammlung und Archivierung von Debatten­beiträgen oder auch die Online-Vorbereitung und Koordination von Offline-Events wie etwa Mahnwachen oder Demonstrationen.*

Im weiteren Verlauf der Kampagne wurde diese virtuelle Protestinfrastruktur immer enger an das sich formierende Netzwerk der Piratenpartei angebunden – damit begann die allmähliche Institutionalisierung des Widerstandes gegen die Internetsperren…

Dies ist ein Ausschnitt aus Christoph Biebers neuen Buch “politik digital. Online zum Wähler”, es erschien am 01.10.2010 im blumenkamp verlag und kann dort für 15 € bestellt werden.

Außerdem daraus auf Carta:

Christoph Bieber veröffentlichte auf Carta im Juni 2009 auch “Acht Thesen zu den Folgen der #zensursula-Debatte“.

*Ausführlich dargestellt werden diese Mechanismen in Bieber, Christoph (2010): “NoBailout und #Zensursula. Online-Kampagnen ­­in ­­der Referendumsdemokratie.” In: Kamps, K./Scholten, H./Schommer, G.­/­Seelig­müller, I. (Hg.): Politische Kampagnen in der Referendumsdemokratie. Wiesbaden, im Erscheinen. Eine hervor­ragende Übersicht zur digitalen Identitätsbildung liefert Costanza-Chock, Sasha (2003): “Mapping the Repertoire of Electronic Contention.” (PDF) In: Opel, Andy/Pompper, Donnalyn (Hg.): Representing Resistance. Media, Civil Disobedience, and the Global Justice Movement. Westport. S. 173-191.

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