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Ein Freiluftmuseum des Versagens

von , 20.8.16

Am Leipziger Platz schließt sich ein Kreis – zumindest metaphorisch gesprochen. Auch die letzte Lücke des vom Zweiten Weltkrieg und der Teilung Berlins in eine traurige Ödnis verwandelten barocken Achtecks soll nun geschlossen werden. Die luxemburgische F 100 Investment AG, die das Grundstück 2011 erworben hatte, präsentierte Anfang Juli nach Jahren des Stillstands einen neuen Architekturentwurf. Wenn alles nach Plan verläuft, dürfte das Oktogon, das eigentlich bereits Anfang der 2000er Jahre hätte fertig sein sollen, 2019 endlich vollendet sein. Ein Grund zur Freude ist das jedoch nicht. Schon heute scheint gewiss: Der Leipziger Platz wird ein weiteres Symbol für die verfehlte Berliner Bau- und Stadtentwicklungspolitik der vergangenen Jahrzehnte werden. Einer Art Freiluftmuseum, in dem zukünftige Generationen exemplarisch nachvollziehen werden können, weshalb die Gestaltung des Berliner Stadtzentrums seit dem Fall der Mauer bereits heute als vertane Chance beschrieben werden muss. Und das ist noch höflich formuliert.

Bereits das Mosse-Palais, das 1996 als erstes Gebäude nach der Wiedervereinigung am Platz errichtet wurde, erlangte unrühmliche Aufmerksamkeit. Obschon von Architekturkritikern zerrissen, machte der „grobschlächtige Klotz mit applizierten Dekors aus dem Baugeschichtsbuch“ weniger durch seine Gestaltung von sich Reden, als dadurch, dass sein Investor die erlaubte Geschossflächenzahl derart großzügig zu seinen Gunsten auslegte, dass das Haus als „größter Schwarzbau Berlins“ in die jüngere Geschichte Berlins einging.

Ähnlich verhält es sich mit dem Eckgrundstück Leipziger Platz 18/19. Der aus einem Wettbewerb hervorgegangene Entwurf wurde teils wohlwollend, teils gleichgültig aufgenommen. Manch einer mag den von der Berliner Architektin Hilde Leon geplanten zehngeschossigen Büro- und Geschäftsbau aus Beton und Glas als konventionell bezeichnen. Architektur muss sich jedoch nicht immer zwanghaft neu erfinden, schon gar nicht hier. Auf einem anderen gestalterischen Niveau als die den Ort dominierende Traufkanten-Tristesse befindet sich der geplante Neubau allemal.

 

Leipziger Platz (Foto: Alexander Rentsch, CC BY-NC-ND 2.0)

Retro-Rendite-Urbanismus aus der Retorte: Der Leipziger Platz (Foto: Alexander Rentsch, CC BY-NC-ND 2.0)

 

Wie im Fall des Mosse-Palais sind es die Begleitumstände, die das Bauvorhaben fragwürdig erscheinen lassen. Der Grund: Der Berliner Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) hat den Investor von der Verpflichtung befreit, dort auch einige Wohnungen zu errichten. Begründet wurde dies mit der Lärmbelastung des Grundstücks. Dort gebe es keine lärmabgewandte Seite, weshalb man die Auflage des geltenden Bebauungsplans, dass mindestens 20 Prozent der Bauflächen am Leipziger Platz für Wohnungen ausgewiesen werden müssen, aufgehoben habe.

Der Bezirk Mitte jedoch hatte noch im Januar eine solche Befreiung abgelehnt. Nicht wenige Kommentatoren halten nun die Begründung, mit der sich Geisel anschließend über die Position des Bezirks hinwegsetzte, für vorgeschoben. Von Städtebauentwicklung nach Gutsherrenart ist die Rede, weil vor der Entscheidung nicht einmal ein Lärmgutachten eingeholt wurde und Aktenvermerke nahelegen, dass auch innerhalb Geisels eigener Behörde die Befreiung als „planungsrechtlich nicht möglich“ eingeschätzt wurde. Der Senator jedenfalls setzte sich vehement dafür ein und befand sich damit – Zufälle gibt’s! – auf einer Linie mit einem prominenten Parteifreund: seinem Amtsvorgänger Peter Strieder.

Strieder, der als Senator unter anderem die illegal errichteten Geschossflächen des Mosse-Palais rückwirkend genehmigte und 2004 im Zuge der Affäre um den Bau des Veranstaltungszentrums Tempodrom (eines anderen unrühmlichen Kapitels der Berliner Baugeschichte) zurücktreten musste, ist inzwischen Partner einer Kommunikationsagentur und berät den Investor. Hinsichtlich seiner Rolle bei der Entscheidung seines Nachfolgers, den Investor von der Wohnungsbaupflicht zu befreien und dadurch die Errichtung zusätzlicher, ungleich lukrativerer Büroflächen zu ermöglichen, zeigt er sich aber bislang auffällig wortkarg.

Die Bewertung der Geschehnisse fällt in jedem Fall wenig schmeichelhaft aus. Sollte sich der Verdacht erhärten, dass die Befreiung aus Gefälligkeit erbracht wurde, wird, nachdem der Bausenator bereits bei der Affäre um die gestückelten Partei-Spenden eines anderen Baulöwen nicht gut aussah, endgültig wieder über ein Revival des berühmt-berüchtigten Berliner Bausumpfs diskutiert werden. Sollte er dagegen aus Überzeugung gehandelt haben, kann sie als weiterer Beleg für die mitunter haarsträubende Gestrigkeit der Berliner Stadtentwicklungspolitik gewertet werden. Schließlich haben mehrere Bauexperten in den vergangenen Wochen das Argument, wonach die Lärmbelastung auf dem Areal einer Wohnnutzung entgegenstehe, als haltlos zurückgewiesen. Wenn dem so sei, „dürfte man auch an keiner Berliner Hauptstraße mehr neue Wohnungen bauen“, ließ etwa der ehemalige Senatsbaudirektor Hans Stimmann mitteilen. Ein Professor der Technischen Universität Berlin stellte fest, dass die Behauptung Geisels, dass „gesunde Wohn- und Lebensverhältnisse“ auf dem Areal nicht „sinnvoll möglich“ seien, schlicht nicht dem „Stand der Technik“ entspricht. Am wahrscheinlichsten – und auch deprimierendsten – dürfte sein, dass an beiden Deutungen etwas dran ist, die lukrative Befreiung also sowohl auf die für Berlin typische Hinterzimmer-Politik und Orientierung an Investoreninteressen als auch auf ein Stadtentwicklungsverständnis von anno Pief zurückzuführen ist.

 

Eine andere, den Potentialen Berlins besser gerecht werdende Politik wäre möglich. Sie ist machbar und – nicht zuletzt angesichts der Mammutaufgabe, das anhaltende Bevölkerungswachstum Berlins stadtverträglich zu organisieren – nötiger denn je.

 

Wie eine zeitgemäßere Stadtentwicklungspolitik aussähe? Sie würde auf dem festgelegten Wohnanteil insistieren, wegen des angespannten Berliner Wohnungsmarkts, aber auch, um den selbstformulierten Anspruch, ein lebendiges und gemischtes Quartier zu schaffen, zu verteidigen. Und sie würde die nicht zu leugnende Verkehrsbelastung vor Ort als Ansporn begreifen, endlich dem Beispiel anderer Städte wie Kopenhagen, New York oder London zu folgen und die nach wie vor ungebrochene Vorrangstellung des Autos zu durchbrechen. Es ist geradezu paradox: Kommunalpolitiker weltweit greifen unter häufig ungleich schwierigeren Begleitumständen zu immer radikaleren Maßnahmen, um den motorisierten Individualverkehr zurückzudrängen. Und was macht Berlins Landesregierung? Sie lässt ein ums andere Mal den Eindruck entstehen, auch in Zukunft an der Belastung der Innenstadt durch Lärm, Abgase und Blechlawinen nicht wirklich etwas ändern zu wollen oder ändern zu können. Die Kontroverse um das Bauvorhaben am Leipziger Platz ist hierfür nur ein Beispiel unter vielen.

Überhaupt lässt sich am Leipziger Platz hervorragend ablesen, weshalb der Berliner Senat bis heute eher als Bremsblock denn Motor einer fortschrittlichen Verkehrspolitik wahrgenommen wird. Mit der über den Platz verlaufenden Straßenbahnverbindung vom Alexanderplatz zum Kulturforum kommt sie nicht aus dem Quark; eine adäquate Infrastruktur für nicht suizidale Radfahrer sucht man vergeblich und von der Idee, auf der Leipziger Straße ein Tempolimit einzuführen, um den Verkehr leiser und sauberer werden zu lassen, hält man auch nichts. 
Wie der Leipziger Platz angesichts der durch seine Mitte verlaufenden Asphaltpiste mit Schnellstraßen-Charakter sich jemals, wie Peter Strieder es einst formulierte, mit Europas „großartigsten“ Plätzen vergleichen können soll, wissen allein die Auto-Apologeten von SPD und CDU. Vielleicht haben sie diese Hoffnung aber auch längst begraben. Es wäre ihnen in Anbetracht des jetzigen Zustandes nicht zu verdenken.

Seine Grünflächen sind zwar hübsch anzusehen, versagen hinsichtlich ihrer eigentlichen Bestimmung – Stichwort Aufenthaltsqualität – jedoch kläglich und den meisten der ihn flankierenden Gebäude ist deutlich anzusehen, dass ihre primäre Funktion darin besteht, möglichst hohe Gewinne zu erzielen. Die vielbeschworene architektonisch gehaltvolle Urbanität will sich allen Gestaltungsvorgaben zum Trotz nicht einstellen. Stattdessen überwiegt in rechte Winkel und schwere Steinfassaden gepackte Mittelmäßigkeit. Dafür verantwortlich waren nicht zuletzt die Spekulationsspielchen großer Investorengruppen und die Liegenschaftspolitik der öffentlichen Hand.

Sie haben einem Rendite-Urbanismus den Boden bereitet, an dem Berlin heute zusehends zu ersticken droht. Ein vorläufiger Höhe- beziehungsweise Tiefpunkt dieser Entwicklung lässt sich an der nordöstlichen Ecke des Platzes, am Standort des legendären Warenhaus Wertheim, besichtigen. Dort eröffnete 2014 die „Mall of Berlin“, ein überdimensioniertes Shopping Center von atemberaubender Banalität, das noch nicht mal betriebswirtschaftlich zu funktionieren scheint. Der Name des Entwicklers, „High Gain House Investments“, ist Programm. Michael Müller, damals Stadtentwicklungssenator, freute sich trotzdem wie Bolle. Auch heute, inzwischen regierender Bürgermeister, scheint er es kaum erwarten zu können, dass an anderen zentralen Orten der Stadt die nächsten Kommerz-Monolithen entstehen. (Zur Problematik innerstädtischer Malls in Berlin siehe auch mein Text hier auf CARTA).

Vor diesem Hintergrund fügt sich das neue Projekt der F 100 Investment AG nicht nur architektonisch vorzüglich in das bereits vorhandene Ensemble ein. Ein Ensemble, dass in kompakter Form veranschaulicht, wie Berlins Politik ihrem selbstformulierten Ziel, lebenswerte und lebendige Stadträume zu entwickeln, immer wieder selbst im Weg steht. Die Gründe hierzu sind komplex und sicher nicht nur auf die Parteien – oder Parteienkonstellationen – zurückzuführen, die die Stadt regieren. Und dennoch: Eine andere, den Potentialen Berlins besser gerecht werdende Politik wäre möglich. Sie ist machbar und – nicht zuletzt angesichts der Mammutaufgabe, das anhaltende Bevölkerungswachstum Berlins stadtverträglich zu organisieren – nötiger denn je.

Eine Voraussetzung dafür? Weniger Selbstgefälligkeit. Insbesondere die inzwischen seit über 15 Jahren regierende SPD versteht es bestens, Berlins Attraktivität als Metropole für sich zu beanspruchen und die Verantwortung für Probleme und Unzulänglichkeiten abzulehnen oder herunterzuspielen. Selten wird das so deutlich wie im Moment, im Wahlkampf, wo die SPD in stimmungsvollen Motiven mal wieder die eigene Politikvergessenheit zur Tugend erklärt. So geht ihr aktueller Kampagnenslogan „Berlin bleibt…bezahlbar“ nonchalant über die Tatsache hinweg, dass sich Berlins Wohnungsmarkt in Relation zum Einkommen schon längst auf dem Preisniveau anderer Großstädte befindet. Und er tut so, als seien die verbliebenen günstigen Wohnungen ein Verdienst sozialdemokratischen Regierens.

Sie sind es nicht, schließlich waren es die wenig vorausschauenden Privatisierungsexzesse der SPD, die wesentlich zur Verknappung von günstigem Wohnraum beigetragen haben. Genauso anmaßend ist es, die gegenwärtige Beliebtheit der Stadt als Wohn- und Arbeitsort sowie als Touristenziel für sich zu reklamieren („Berlin bleibt … erfolgreich“). Die Anziehungskraft Berlins liegt weniger im politischen Handeln seiner Regierenden begründet als in seiner vielseitigen, offenen und kreativen Stadtgesellschaft und den Räumen, die die Stadt ihr bot. Diese Räume werden weniger, und die Stadtentwicklungspolitik der vergangenen Jahre, das zeigt auch der bald formvollendet gescheiterte Leipziger Platz, ist für diese Entwicklung mitverantwortlich.

 

Lesen Sie auch:

Tear down this Mall. Eine Reisewarnung, CARTA, 28.9.2014

Smart City-Hype: Die Verdummung der Städte?, CARTA, 11.2.2015

 


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