von Katharina Nocun, 27.10.13
Dabei ist es die Doppelmoral der Regierenden, die beendet erklärt gehört: Doppelmoral in Bezug auf die “gerechtfertigte” Überwachung der Bevölkerung durch internationale Geheimdienste als “Maßnahme zu unserer eigenen Sicherheit”, und gleichzeitige Empörung über das Abhören der Kanzlerin. Doppelmoral im Hinblick auf die eigene Überwachungsinfrastruktur von Polizei und Geheimdiensten, die seit 2001 neue Zugriffsbefugnisse horten. Die Doppelmoral, die ein jeder Geheimdienst beim Abgreifen von ausländischen Datensätzen in der Praxis lebt.
Von dem Ideal eines gelebten Grundrechts auf Privatsphäre sind wir innerhalb Deutschlands wie auch international weit entfernt. Wenn das Recht auf Privatheit nun für einige Wenige verteidigt wird, aber für die überwachte Mehrheit unerreichbar bleibt, droht eine Zweiklassendemokratie.
Es zieht eine dystopische Zukunft am Horizont auf. Wissen war noch nie so sehr Macht wie in Zeiten der Kommunikationsgesellschaft. Das Luxusgut der vernetzten Zukunft wird Privatsphäre heißen. Die Freiheit, Selbstbestimmung und Souveränität von Menschen, Organisationen und Staaten in der Kommunikationsgesellschaft steht und fällt mit der Integrität und Vertraulichkeit unserer informationstechnischen Systeme. Die Voraussetzung für Demokratie wird kompromittiert, wenn wir zu Datenobjekten ohne Anspruch auf einen Schutzraum für Vertraulichkeit degradiert werden.
Ein entkernter Staat?
Es besteht die Gefahr, dass wir die Schwelle zu einer postdemokratischen Gesellschaft bereits überschritten haben. Grundrechte sind in ihrer Funktion als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat unverzichtbar: als Garanten für das Recht auf Widerspruch. Unverzichtbar auch für das Fundament des Rechtsstaats: die Unschuldsvermutung. Ein entkernter Staat kann weder Rechtsstaat noch Demokratie sein.
Unsere goldenen Käfige sind online wie offline engmaschiger geworden, wir stören uns nicht daran. Uns geht es gut, solange wir die Zukunft ausblenden. Dabei vergessen wir, dass Grundrechte als Abwehrrechte unerlässlich sind, um die Machtbalance zwischen Bürger, Staat und Wirtschaft zu wahren. Mit Sicherheit werden wir in Zukunft nicht sicher sein vor den Überwachern mit dem Schlüssel zu unserer digitalen Gedankenwelt.
Wege aus dem panoptischen Gesellschaftskonstrukt erscheinen kleinteilig und mühsam. Neue Techniken zu installieren, scheitert an unserem kollektiven Bequemlichkeitsdilemma. Internationale Abkommen erscheinen unrealistisch, wenn die Hauptprotagonisten unwillig sind und die Mehrheit der Betroffenen wegen eigener Verstrickungen kuscht. Wie sollen Unternehmen mit neuen Datenschutzgesetzen an die Leine genommen werden, die sich nicht bemüßigt fühlen, deutsches oder gar europäisches Recht anzuerkennen?
Die Antwort passt nicht ins Mantra der Selbstregulierung. Staatengemeinschaft und Wirtschaft werden sich ohne Sanktionen nicht bewegen. Es braucht eine Einsicht, dass Datenschutz in der Kommunikationsgesellschaft Machtpolitik ist und hier mit harten Bandagen gepokert werden muss. Die Karten werden neu gemischt im Verhältnis zwischen Bürger, Staat und Wirtschaft.
Einer großen Koalition, die Netzpolitik als Teil der Kulturpolitik verhandelt, fehlt diese Einsicht.
Regierung und Opposition haben ein Glaubwürdigkeitsproblem. Den kleinen Mehrheitsbeschaffern mangelte es sowohl unter Rot-Grün als auch unter Schwarz-Gelb an politischem Willen, beim Grundrechtsschutz die eigenen Wahlversprechen zu verteidigen. Den Liberalen ging die Bedeutung des Zusammenspiels zwischen privaten und staatlichen Datensammlungen ab. So ehrenhaft die scheidende Justizministerin die Vorratsdatenspeicherung blockierte, so sehr gab sie in Fragen des Machtgleichgewichts zwischen Bürger, Staat und Wirtschaft auf Seiten der Wirtschaft nach.
Rot-Grün stellte 2001 innenpolitisch die Weichen für die Aufweichung des Trennungsgebots zwischen Polizei und Geheimdiensten, für den Abbau anonymer Kommunikation und legte die gesetzliche Grundlage für anlasslose flächendeckende biometrische Datensammlungen. Das bedingungslose Grundvertrauen in den Staat wie in die Wirtschaft beim Umgang mit sensiblen Daten erweist sich nach Snowden als naiv.
Erdulden oder Gestalten?
Datensouveränität wird die zentrale Voraussetzung für freiheitliche Politik im digitalen Zeitalter sein. Wer dieses Ziel allzu bereitwillig auf dem Altar machtpolitischer oder ökonomischer Zwänge opfert, dem fehlt die Vision eines positiven Konzepts der digitalen Zukunft.
Was fehlt, ist der Gestaltungswille, auf diese hinzuarbeiten, statt sich vermeintlichen Zwangsläufigkeiten zu ergeben. Statt Technikaskese oder Post-Privacy können wir einen Dritten Weg wählen. Regulierung muss an der Wurzel ansetzen, statt Symptome in einem kaputten System zu bekämpfen, und darf weder Staat noch Wirtschaft ausnehmen, wenn die individuelle informationelle Selbstbestimmung Bestand haben soll.
Die Grundpfeiler eines Dritten Weges liegen in den liberalen Grundwerten der Selbstbestimmung und der Einsicht, dass Machtungleichgewichte zwischen Staat und Wirtschaft eines staatlichen Korrektivs bedürfen, ebenso, wie der Staat der Kontrolle durch die Bürger bedarf. Ein Vertrag mit einem Monopolisten wie Facebook ist nicht frei. Die ‘unsichtbare Hand des Marktes’ versagt in solchen Situationen strukturell.
Staaten, die für die Hintertüren in ihren Systemen auch noch zahlen und Bundestrojaner programmieren lassen, investieren nicht in Zukunftstechnologien. Staat und Wirtschaft gehören an die Kette, die Fäden müssen wieder beim Bürger zusammenlaufen. Technologischer Fortschritt kann – weise genutzt – auch Empowerment für die Vielen bedeuten.
Es braucht eine konsequente Umsetzung der Chancen neuer Technologien für Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Staatswesens, statt Abnicken der Risiken als vermeintlich unausweichliches Gesetz. Förderung unabhängiger, transparenter und nachvollziehbarer Datenverarbeitung mit freier Software und offenen Standards, statt im Wettrüsten für die digitale Unmündigkeit Milliarden zu versenken. Und wenn Geschäftsmodelle keinen Wettbewerb zulassen, dann muss das Kartellamt offene Standards erzwingen.
Internationale Ächtung von Überwachung umsetzen
Das sind alles Unterfangen von globaler Bedeutung. Denn die digitale Revolution macht nicht an Staatsgrenzen halt, sie lässt uns im Guten wie im Schlechten enger zusammenrücken.
Die große Erkenntnis, die wir aus diesem Überwachungsepos ziehen können: Es gibt keine einfachen und bequemen Lösungen. Dazu wurde zu lange nicht gehandelt, Entscheidungen und schmerzhafte Wahrheiten wurden verschleppt. Wir als Gesellschaft brauchen die Rückbesinnung darauf, welche positiven Effekte wir aus der technischen Revolution ziehen wollen, und müssen die Weichen danach stellen. Nur radikales Umdenken mit konsequenter Ausrichtung an dem positiven Konzept einer selbstbestimmten digitalen Gesellschaftsordnung kann uns vor der Dystopie bewahren.
Einen Kalten Krieg reloaded im Netz braucht kein Mensch. Wirtschaftsspionage und Abhören unter Freunden darf keine Entschuldigungen, sondern muss Sanktionen nach sich ziehen. Wer innenpolitisch wie international glaubwürdig sein will, muss einen mutigen Schritt gehen: die eigene Doppelmoral beenden. Es braucht Mut, denjenigen in Politik und Wirtschaft auf die Füße zu treten, deren Interessen denen der durchleuchteten absoluten Mehrheit entgegenstehen.
Es ist eben nicht alles gut, wenn Frau Merkel ein abhörsicheres Handy bekommt. Des Kaisers neue Kleider werden das Grundproblem nicht beheben – egal, wer es diesmal für beendet erklärt.
Katharina Nocun ist politische Geschäftsführerin der Piratenpartei und bloggt auf
¶ kattascha.