#Big Data

Demokratiedämmerung

von , 31.5.14

Der Aufschrei in den Medien war wieder groß, genauso wie die allgemeine Verständnislosigkeit.

Rechtspopulistische und europafeindliche Parteien haben bei der letzten Europawahl ca. 20% der Stimmen erhalten. Wenn man den Aufstieg der Tea Party in den USA  mit einbezieht, muss man inzwischen feststellen, dass Parteien bzw. Gruppierungen, die sich rechts von traditionellen bürgerlichen konservativen Positionen befinden, inzwischen in fast allen westlichen Demokratien einen bedeutenden Teil der Bevölkerung hinter sich vereinen können.

Zudem haben diese Parteien großen Erfolg bei Jungwählern. Dies steht in eklatantem Widerspruch zu früheren Erfahrungen, diese Gruppe sei tendenziell eher links eingestellt und werde erst mit zunehmendem Alter konservativer.

 

Rechtsstaat auf dem Rückzug

Der Rechtspopulismus ist aber nur eine von vielen beunruhigenden Entwicklungen. Der demokratische Rechtstaat befindet sich global gesehen auf dem Rückzug.

Ob die Wahlfarce der russischen Separatisten auf der Krim bzw. in der Ostukraine, Militärputsche wie in Thailand oder Ägypten, die erschreckende Selbstdemontage des amerikanischen Regierungsapparates durch Budgetstreit und NSA-Skandal – all dies sind Symptome einer Aushöhlung der demokratischen Praxis.

  • In Schwellenländern verliert die Demokratie an Glaubwürdigkeit: Es gibt demokratische Mehrheiten für undemokratische Regierungen; zudem hat die Unfähigkeit zur Lösung der Schuldenproblematik in den europäischen/amerikanischen Volkswirtschaften den Ruf der Demokratie nachhaltig beschädigt.
  • Die Erpressung von Mehrheiten durch Minderheiten (Berlusconis Versuche, der Haft zu entgehen; das Verhalten der Tea Party im Budgetstreit; die Separatisten der Ostukraine) wird zunehmend zur akzeptierten politischen Vorgehensweise.
  • Die zunehmende weltwirtschaftliche Integration hat klare Verlierer in den früher führenden Nationen. Diese wehren sich zunehmend, indem sie rechtspopulistische Parteien wählen.
  • Regierungen und Konzerne – nicht nur in undemokratischen Staaten – gehen sehr unsensibel mit dem Thema Datenschutz um. Die NSA-Affäre ist hierbei nur die Spitze eines Eisbergs.

Leider machen sich auch die meisten Menschen nur ungenügend bewusst, wie eng ein funktionierender demokratischer Rechtsstaat mit wirtschaftlichem Erfolg verbunden ist, der auch zu breiterem Wohlstand für die allgemeine Bevölkerung führt.

 

Der diskreditierte Wohlfahrtsstaat

Nach dem zweiten Weltkrieg zerfiel die Welt in zwei konkurrierende Blöcke: den sozialistischen Osten und den kapitalistischen Westen. Allerdings war nicht nur das östliche, sondern auch das westliche Modell von den Idealen freier Marktwirtschaft weit entfernt.

Zum einen war die Wirtschaftspolitik sehr stark von den Ideen keynesianischer Nachfragesteuerung sowie eines sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates geprägt. Andererseits führte die Blockbildung zum vorübergehenden Erhalt kolonialistischer Strukturen in Entwicklungsländern, was nicht zuletzt zu einer Subventionierung des westlichen Lebensstils mit niedrigen Energiepreisen führte. Das böse Erwachen kam mit der Ölkrise in den Siebzigern – eine eskalierende Spirale von Inflation und Arbeitslosigkeit war die Folge.

Die Kehrtwende brachte die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik der angloamerikanischen Staaten, die nach und nach auf andere Länder überschwappte. Vor 25 Jahren erlebten wir zudem den Zerfall des Kommunismus und damit auch das offensichtliche Scheitern eines sozialistischen Wirtschaftssystems, das auf zentrale Planung und staatliche Steuerung setzte.

Die Kombination aus westlicher Demokratie und Marktwirtschaft erschien als Erfolgsrezept für eine globalisierte Welt. Lediglich China setzte als einziges großes Schwellenland auf Marktwirtschaft, ohne gleichzeitig demokratische Reformen zu ermöglichen.

Heue stehen wir vor einem Scherbenhaufen dieser Entwicklung. Probleme aussitzen oder so weit nach hinten schieben, bis die nächste Generation die Schäden ausbaden muss, scheint politischer Konsens geworden zu sein; zumindest, was unbequeme Aufgaben angeht, wie den Klimawandel, die Bedrohung durch Terrorismus, Bildung, Jugendarbeitslosigkeit oder Schuldenabbau.

Wirtschaftlich bedeutsam ist vor allem, dass die führenden Wirtschaftsnationen des Westens überschuldet sind und nicht in der Lage zu sein scheinen, diese Problematik zu lösen. Ohne die aggressive Geldpolitik von EZB, Bank of England und Fed würden fast alle entwickelten Staaten gegenwärtig von der Zinslast ihrer Schulden erdrückt.

Zudem hat das Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahrzehnten vor allem die schon vorher Wohlhabenden begünstigt, die Mittelschicht verliert in vielen Nationen kontinuierlich an Boden.

 

Wo Demokratie draufsteht …

In fast allen Schwellenländern sind nach wie vor korrupte Eliten an der Macht, demokratische Institutionen haben bei ihnen vor allem dekorativen Charakter. Insbesondere 2013 und 2014 haben sich dort die beunruhigenden Tendenzen weiter verstärkt:

  • Als im Juli 2013 die ägyptische Regierung von Präsident Mursi durch einen Militärputsch gestürzt wurde, war die Ratlosigkeit im Westen groß. Sollte man nun verurteilen, dass ein demokratisch gewählter Präsident entmachtet und ein Land mit ca. 80 Millionen Einwohnern an den Rand des Bürgerkrieges gedrängt wurde? Oder sollte man gut finden, dass ein Präsident entmachtet wurde, der die Wirtschaft drangsalierte und nach und nach versuchte, einen islamischen Staat zu errichten, bevor er noch größeren Schaden anrichten konnte? Und wie beurteilt man Thailand, wo vor wenigen Tagen eine zwar fragwürdige Regierung weggeputscht wurde, die aber die Unterstützung vor allem der Mehrheit der armen Landbevölkerung genoss?
  • Im Westen regt man sich derzeit über Russland und seinen Präsidenten Putin auf, weil er eine Politik verfolgt, die missliebige Nachbarländer wie die Ukraine destabilisiert, Minderheiten verfolgt und die Eigentumsrechte von Investoren missachtet. Was hier oft übersehen wird, ist, dass er mit dieser Politik eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich weiß. Wir mögen aus unserer Sichtweise seine Vorgehensweise als menschenrechtswidrig und selbstzerstörerisch ablehnen, tatsächlich stößt er damit bei seinen Wählern auf breite Zustimmung.
  • China lässt auf internationalem diplomatischem Parkett keine Gelegenheit aus, sich öffentlich über die Zukunft seines durch demokratisches Hickhack geschwächten Hauptschuldners USA zu mokieren. Natürlich ist die Botschaft vor allem innenpolitisch zu verstehen: Die eigene Bevölkerung soll vor den Gefahren der Demokratie gewarnt werden. Nun ist es im Propagandakrieg der politischen Systeme nichts Neues, dass man versucht, den Gegner schlecht zu machen. Doch während die Argumente der kommunistischen Propaganda gegen den Kapitalismus früher offensichtlich an den Haaren herbeigezogen waren, brauchen die Feinde der Demokratie diesmal nicht einmal mehr zu lügen. Das schmerzt.

Offensichtlich funktioniert unser Modell der parlamentarischen Volksherrschaft in den neuen Demokratien nicht, oder zumindest nicht so, wie wir es uns hier vorstellen.

 

Gibt es überhaupt noch ‘richtige’ Demokratie?

Aber funktioniert die Demokratie denn noch in ihren Kernländern? In fast allen größeren westlichen Staaten haben rechtspopulistische Parteien einen Anteil von ca. 10 – 20% bei Meinungsumfragen bzw. Wahlen. Nur in Deutschland – möglicherweise aufgrund der immer noch wachen Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit –, und in Spanien, wo man sich anscheinend noch gut an die erst 1975 beendete faschistische Diktatur erinnert, verläuft diese Entwicklung etwas langsamer.

Von der Presse und politischen Gegnern wird oft versucht, den Rechtspopulismus auf eine Sammlungsbewegung geistig Verwirrter und ewig Gestriger zu reduzieren. Wer so argumentiert, macht es sich aber viel zu einfach. Denn der Rechtspopulismus ist die politische Ausdrucksform der Verlierer der Globalisierung und des Wohlfahrtsstaates. Er wird von Leuten getragen, die ihre Besitzstände durch globalen Wettbewerb oder Umverteilung gefährdet sehen – Ängste, impliziert durch das Verhalten von Politik und Wirtschaft.

Das Gesellschaftsmodell praktisch aller westlichen Staaten ist derzeit eine Mischung zwischen globalem Kapitalismus und sozialdemokratischem Umverteilungsstaat. Mischungsverhältnisse und Effizienz sind von Land zu Land zwar sehr unterschiedlich, dennoch ähneln sich die Probleme sowie die Gewinner und Verlierer. Die Gewinner der heutigen Gesellschaftsordnung sind so unterschiedliche Gruppen wie multinationale Konzerne, Yuppies, Bildungsbürger, Mitarbeiter der Sozialbürokratie sowie Transferempfänger.

 

Gefährliche Verlierer

Der Rechtspopulismus hingegen gründet sich in so unterschiedlichen Ländern wie Dänemark, Großbritannien, Frankreich oder Österreich auf die Verlierer, die zu „Wutbürgern“ mutieren: mittlere Angestellte, kleine Gewerbetreibende, Jugendliche ohne Perspektive. Sie fühlen sich einerseits durch steigenden Wettbewerb in ihren Besitzständen oder Zukunftsaussichten bedroht, haben andererseits aber das Gefühl, mit ihren Steuergeldern einen chronisch verschwendungssüchtigen und ineffizienten Staat zu finanzieren.

Dieser Staat begünstigt Funktionseliten, die abkassieren oder völlig legal Steuern vermeiden können. Er wird zudem durch die zunehmende Verlagerung von Kompetenzen auf nationale und supranationale Institutionen immer abstrakter, weniger greifbar, effektiv kafkaesker. Die Ohnmachtsgefühle der einzelnen Bürger nehmen zu, nicht nur bei Rechtspopulisten.

Der fatale Charme populistischer Parteien liegt darin begründet, dass sie berechtigte Probleme wie soziale Schieflagen oder Steuerverschwendung aufgreifen, die von etablierten Parteien schamhaft unter den Teppich gekehrt werden, weil diese ihre Privilegien nicht gefährden wollen.

Den Populisten kommt dabei entgegen, dass die Dinge in der Realität komplex sind, also bieten sie ihren Anhängern radikale Komplexitätsreduktion als Lösung: Wir sind gut, die anderen böse. Wir sehen die Dinge richtig, die anderen 80 bis 90 Prozent sind selbstsüchtige Ignoranten. Irgendwer da draußen will uns was wegnehmen, dagegen hilft nur Ausgrenzung.

Eines der Probleme mit den Rechtspopulisten ist, dass sie die Komplexität der modernen Welt massiv unterschätzen und die von ihnen angebotenen Lösungen die Probleme nur vergrößern würden. Hinter ihren politischen Ideen stehen teilweise recht naive Vorstellungen von einer heilen Welt.

Da der demokratische Rechtsstaat mit seinen Institutionen es bisher nicht geschafft hat, diese utopische Welt zu schaffen, wird er grundsätzlich abgelehnt. Selbst wenn Rechtspopulisten also teilweise berechtigt Missstände aufgreifen, etwa die Verschwendung von Steuergeldern, ist ihre Konsequenz nicht, diese Missstände zu beseitigen, sondern das System an sich zu zerstören. Das macht sie gefährlich.

Denn sie stellen nicht nur unrealistische Forderungen, sondern sehen sich – als selbstempfundene Verlierer des herrschenden politischen Systems – auch nicht mehr an die Spielregeln dieses Systems gebunden. Während die Fähigkeit zum Kompromiss bei anderen politischen Richtungen als demokratische Grundtugend gilt, ist sie bei Rechtspopulisten als Zeichen der Schwäche verhasst.

Dass man möglicherweise mehr zerstört als gewinnt, wenn man das bisherige Staatswesen sprengt, wird von ihnen ignoriert. Damit ähneln sie in gewisser Weise kleinen Kindern, die ein Spielzeug, das ihnen nicht mehr gefällt, mutwillig zerstören. Hierfür war die Blockadepolitik der amerikanischen Tea Party-Bewegung im US-Haushaltsstreit 2013 symptomatisch. Die Forderungen zur Rückkehr zu den Vor-Euro-Währungen bei uns gehen in eine ähnliche Richtung.

 

Balance von Sicherheit und Freiheit? I wo

Im Sommer 2013 wurde aufgrund der Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden bekannt, dass westliche Geheimdienste zur Terrorbekämpfung weitgehende Überwachungsaktivitäten im Internet entfaltet haben und bis zum Kanzlerhandy alles Mögliche und Unmögliche abgehört haben.

Die Aufregung über die NSA hat leider eines völlig verdeckt: Die NSA ist nur einer von vielen legalen und illegalen Datensammlern, die uns mit Hilfe des Internets und von Auswertungsalgorithmen auf die Pelle rücken. Datenschutz und Transparenz bei der NSA mögen stark verbesserungsfähig sein, woanders interessiert man sich überhaupt nicht für das Thema.

Das Sammeln und Auswerten von leichtfertig hergegebenen Informationen ist bereits zum Geschäftsmodell vieler Internetkonzerne geworden. Die Datensammelwut ist auch in vielen Schwellenländerregierungen groß, nur dringen die Informationen hierzu nicht wie bei der NSA an die Öffentlichkeit.

Unser Wirtschaftssystem basiert auf klar definierten Eigentumsrechten an Gütern und Produktionsfaktoren. Die Sicherung von eindeutigen Rechten und die Festlegung von Pflichten ist eine grundlegende Errungenschaft des demokratischen Rechtsstaates. Sie ist zudem Kernvoraussetzung für eine funktionierende freie Marktwirtschaft.

Dies erscheint uns in den westlichen Demokratien inzwischen als so selbstverständlich, dass wir uns zumeist der grundlegenden Bedeutung nicht mehr bewusst sind. Dies kann fatal werden, nicht nur, was die Freiheitsrechte angehen. Denn Daten werden in unserer Informationsgesellschaft zunehmend zu wertvollen Produktionsfaktoren.

Durch Big Data werden diese Eigentumsrechte  zunehmend ausgehöhlt, da zunehmend unklar wird, wer über welche Informationen verfügt, ob diese richtig sind oder nicht und welche Fähigkeiten zu ihrer Verarbeitung notwendig sind. Die großen Internetkonzerne haben ihre Schlüsselstellung begriffen und tun deshalb im Moment alles, um ihre jeweiligen Märkte global zu monopolisieren.

Dabei erinnert ihre Vorgehensweisen an diejenigen der Rockefellers, Carnegies und Morgans, die Ende des 19. Jahrhunderts in den USA systematisch Wettbewerber ausschalteten und ihre Unternehmen in eine marktbeherrschende Trust-Struktur zwangen. Mit dem Sherman Antitrust Act von 1890 begann ein jahrzehntelanger Kampf gegen den Missbrauch von Marktmacht, der in der Entflechtung des Quasi-Erdölmonopolisten Standard Oil 1911 gipfelte.

Ein ähnlicher, ebenfalls jahrzehntelanger Kampf um Nutzerrechte, Datenschutz und mehr Wettbewerb im Internet scheint uns jetzt bevorzustehen – mit ungewissem Ausgang.

 

Demokratie ist kein Selbstzweck

Demokratie ermöglicht nicht nur allen erwachsenen Menschen gleichberechtigte Partizipation am politischen Leben. Sie lebt vom Wettbewerb als gestaltender Kraft, genau wie die freie Marktwirtschaft. Sie führt nicht unbedingt dazu, dass bessere und ehrlichere Politiker an die Macht kommen, sie erleichtert aber die Ablösung der unfähigen und ist damit unverzichtbar.

Nur die rechtsstaatliche Demokratie kann die dauerhafte Etablierung abzockender Wirtschafts- und Macht-Eliten verhindern.

Wenn jetzt Mogelpackungen wie der Rechtspopulismus zunehmend beliebter werden, die Demokratie in ihren Ursprungsländern immer stärker ausgehöhlt wird und auch anderswo nur noch als Fassade für Elitenherrschaft und Machtpolitik dient, so ist dies keine gute Tendenz. An den Entwicklungen in den Schwellenländern kann man wenig machen. An der Beliebtheit der Rechtspopulisten wahrscheinlich auch nicht, da viele ihrer Anhänger zu den Verlierern globaler sozialer Trends gehören, die man nicht ohne Weiteres abstellen kann.

Man kann aber versuchen, das Phänomen einzugrenzen. Ein erster Schritt wäre das Eingeständnis, dass die populistischen Bewegungen nicht nur ein Sammlungsbecken paranoider Querulanten und unbelehrbarer Faschisten sind. Stattdessen sollte man sie ernst nehmen, weil sie vom herrschenden System nicht grundlos enttäuscht sind.

Und man muss sich mit den Inhalten auseinandersetzen, dann wird man nämlich relativ schnell die logischen Widersprüche und fatalen Konsequenzen des angekündigten Handelns der Populisten aufzeigen können. Sonst besteht die Gefahr, dass ihre Systemfeindschaft tatsächlich einmal zur Sprengkraft für die Demokratie werden kann.
 
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