#EU

Adieu Sandkasten Internet – wir werden erwachsen

von , 23.4.09


Das Handelsrecht hat schon lange reagiert – Vertragsbeziehungen und Transaktionen über das Internet haben bereits einen verlässlichen Rahmen und stehen auf einer Stufe mit den physischen Märkten – Ausnahmen bestätigen die Regel. Der Wirtschaftsraum ist weitgehend angepasst. Nun wird in immer mehr europäischen Staaten regulierend in die Verteilung von Inhalten und in die Inhalte selbst eingegriffen. Die Sanktionen reichen von exekutierten Strafrechtstatbeständen, von erdachten Aussperrungen renitenter User bis hin zu Kooperationen zwischen Staat und Providern.

Dies geschieht von EU-Mitglied zu EU-Mitglied unterschiedlich und auf unterschiedlichen Ebenen der Rechtssprechung. Ein klarer Rahmen des Kultur- und Kommunikationsraumes Europäische Union ist noch nicht auszumachen. Es vollzieht sich eine Bekämpfung von Symptomen wie Urheberrechtsverletzungen (Pirate Bay, „Heidelberger Apell“), Jugendschutzverstößen („Stop“; Unterbindung des Abrufs von kinderpornographischen Inhalten) sowie dem allzu unreflektierten Interpretieren der Meinungsäußerungsfreiheit (Volksverhetzung, Cyber-Mobbing) ohne stringente Konzentration auf die Ursächlichkeiten. Dies kann als das erste Kapitel zu einer Neuordnung des Kultur- und Kommunikationsraumes Internet verstanden werden. Reaktive Verordnungen bis hin zu einzelgesetzlichen Maßnahmen können der Aufgabe jedoch nicht gerecht werden.

Zur Gewährleistung von medien-unternehmerischer wie auch privater Rechtssicherheit und -freiheit ist ein Bemessen nach gleichem Rechtsverständnis auf die Dauer unabdingbar. Es kann für einen breiten gesellschaftlichen Konsens nur unerträglich sein, wenn in virtuellen Räumen, die von in konsistenten Rechtsräumen befindlichen Endgeräten von Bürgern der Gesellschaft abgerufen werden können, Rechtsverstöße lediglich teilweise oder gar nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Auf diesem Konsens aber existiert unsere Gesellschaft.

Als Beispiel für diese Unverhältnismäßigkeit kann, wenn nicht sogar muss, die in der ganzen Europäischen Union hochkomplexe Rundfunkregulierung genannt werden. Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für die freie Meinungsbildung im Rahmen der gültigen Gesetze wird der Zugang zum Rundfunkmarkt mit Hürden auf jeder Ebene der Geschäftsausübung versehen. Diese Hürden zu überwinden verlangt von den Antragstellern aufwendige Lizenzierungsverfahren zu durchlaufen – ohne Garantie auf Erfolg! Die Begründung der Verwaltung von Frequenzknappheit ist in diesem Zusammenhang nur eines von vielen Kriterien. Ein Fernsehsender mit volksverhetzenden Programminhalten findet keine Zulassung in der Europäischen Union. Die EU-Satellitenrichtlinie gilt nicht für Onlinemedien. Das Credo „im Internet darf jeder, was er will“ stellt zur regulatorischen Entwicklung anderer Verbreitungskanäle von Informationen wie Fernsehen oder Radio eine vergleichsweise lange Epoche dar, die jetzt ihrem unaufhaltsamen Ende entgegenschreitet.

Die Volksrepublik China ist (aus europäischer Perspektive zu Recht) dafür berüchtigt, ihr politisches als auch kulturelles Selbstverständnis kompromisslos durchzusetzen und hat über die Jahrtausendwende aus dem WorldWideWeb ein ChinaWideWeb geschaffen, dass den romantischen Vorstellungen von Weltbürgertum nachhaltig widerspricht. Was dem ‚westeuropäisch’ sozialisierten Internetnutzer und vor allem Medienbürger im 21. Jahrhundert als Absurdität und Ausdruck von Unrecht erscheinen mag, ist aus chinesischer Perspektive die erfolgreich implementierte Konvergenz zwischen totalitären Strukturen und Wirtschaftsliberalität, flankiert durch jeweilige Sicherheitsvorkehrungen, die unerwünschte Effekte zu vermeiden suchen. Letztlich müssen bei allem Befremden jedoch auch die kulturellen Aspekte dieser offensichtlichen Gegensätzlichkeit in dem Verständnis von Kommunikationsfreiheiten berücksichtigt werden. Was für die eine Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit und Überzeugung freier Entfaltungsmöglichkeiten wie auch Schutz ist, muss nicht zwangsläufig auch für andere Kulturen und deren Gesellschaften gelten.

Diese Form der Ex-Ante-Regulierung ermöglicht es jedoch – wenngleich mit hohem Aufwand – für einen Rahmen zu sorgen, der der dort gültigen Rechtsordnung entspricht. Ex-Post-Regulierungen, wie sie in der Europäischen Union heuer en Vogue erscheinen, hinterlassen dagegen einen politisch-rechtlichen Flickenteppich, der angesichts der Bedeutung des – sich immer noch in der Entfaltung befindlichen – Internets weiten Teilen des Alltags massiv widerspricht. Das aktuelle Regulierungsparadigma der EU und seiner Mitgliedsstaaten kommt einer Reservats-Politik gleich, die gemessen am selber zugeschriebenen Zivilisationsgrad westlicher Demokratien nur schwer nachvollziehbar ist. So liegt es nahe, auch und vor allem im Sinne des Kultur- und Kommunikationsraumes Europäische Union, eine Adaption und Abstrahierung des (VR-) chinesischen Weges auf Basis europäischer Verträge wie der EU-Grundrechte-Charta und dem Vertrag von Lissabon zu prüfen. Nur auf diese Weise kann dem Grenzen ignorierenden Internet als erster Schritt adäquat begegnet werden.

Ein EuropeanWideWeb (und in Folge um weitere Grundrechtskonstrukte optional zu erweitern) verstößt auf diese Weise gegen keine Grundrechtspositionen keines EU-Mitgliedstaates, es schützt sie sogar! Zudem bietet es die historische Chance, Vertrauen in europäische Politik abseits einzelstaatlichen Überwachungswahns und unübersichtlicher Regulierung zu entwickeln. Angesichts der Grundauffassung, dass westliche Demokratien über einen Wertekonsens verfügen, der anderen auf dieser Welt zum Teil und offensichtlich andauernd gegenübersteht und dass das Internet heute jeden mit allem verbinden kann, öffnet dieses Modell grundsätzlicher Auseinandersetzung den Raum. Es verlangt dazu unabdingbar nach einer Form der Verantwortung, die nur erwachsenen wie umsichtigen und unabhängigen Institutionen zugesprochen werden kann.

Der Welpenschutz des WWW ist abgelaufen.

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