#Europäische Union

Ist das neue ungarische Mediengesetz ein Fall für die Europäische Union?

von , 23.12.10

Vor dem Hintergrund der traumatischen Erinnerungen an die staatliche Meinungs- und Informationslenkung durch den nationalsozialistischen Propagandastaat und durch den DDR-Unrechtsstaat nimmt der Grundsatz der Staatsfreiheit der Kommunikationsordnung einen herausragenden Platz innerhalb der grundgesetzlichen Kommunikationsverfassung ein. Auf den Erfahrungen mit Diktaturen gründet das in Deutschland tief verwurzelte Unbehagen gegen jede Form einer staatlichen Bewertung und Lenkung von Kommunikationsinhalten. Auch in Deutschland ist demokratische Freiheit nicht vom Himmel gefallen, sondern teilweise erstritten und erkämpft worden, also Ergebnis eines längeren Prozesses diskursiver Wertebildung im und für den demokratischen Staat. Während in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland demokratischer Protest gegen Regierungspolitik noch als staatsfeindliche Agitation stigmatisiert oder investigativer Journalismus als „Abgrund von Landesverrat“ öffentlich gegeißelt werden durfte, ist die Freiheit der Medien ein Konstitutionsprinzip der demokratisch geläuterten Bundesrepublik Deutschland.

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Kritik am neuen ungarischen Mediengesetz

Staatsfreiheit der Medien und Staatsfreiheit der Aufsicht über die Medien ist für einen demokratischen Staat schlechthin konstituierend. Die Medien können ihre Rolle als Kontrolleur des Staates nur dann wirksam wahrnehmen, wenn der zu kontrollierende Staat keinen bestimmenden Einfluss auf die publizistische Betätigung der Medien nehmen kann. Das neue ungarische Mediengesetz schafft eine Aufsichtsbehörde über öffentlich-rechtliche und private Medien, die weitgehende Kontrollbefugnisse besitzt und bei Verstößen Geldbußen von bis zu 750.000 Euro verhängen kann. Diese Aufsichtsbehörde rekrutiert sich aus fünf Regierungsvertretern. Der Sache nach handelt es sich um eine Staatsaufsicht über die Medien mit weitreichenden Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten. In der Bundesrepublik Deutschland wäre eine solche Organisationsstruktur evident verfassungswidrig. Die Aufsicht über den Rundfunk ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts staatsfern zu organisieren.

Nicht nur in Deutschland, sondern zuvörderst auf europäischer Ebene stößt das neue ungarische Mediengesetz auf Kritik. Der Vorgang hat auch deshalb besondere Brisanz, weil Ungarn ab dem 1. Januar 2011 für sechs Monate den EU-Ratsvorsitz übernimmt. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird auf europäischer Ebene Druck auf die Kommission ausgeübt, gegen Ungarn wegen seines „perfiden Gesetzes“ (Daniel Cohn-Bendit) vorzugehen. Die Kommission hat eine sorgfältige Prüfung zugesagt. Aber was kann sie machen?

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Ist Ungarn an die Grundrechtecharta und ihren Artikel 11 Absatz 2 („Freiheit der Medien“) gebunden?

Die Europäische Union ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern seit langem, seit den Maastrichter-Verträgen zu einer umfassenden Wertegemeinschaft gewachsen, in der politische und demokratische Freiheiten einen herausragenden Stellenwert haben. In Artikel 11 Absatz 2 der Grundrechtecharta bekennt sich die Europäische Union ausdrücklich zur Freiheit der Medien, wozu auch und gerade die Staatsfreiheit der Medien gehört. Zweifelsfrei sind die Organe der Europäischen Union an die Grundrechtecharta gebunden. Nur gilt dies auch für die Mitgliedstaaten der Union? Ist Ungarn an die Grundrechtecharta gebunden und kann deshalb das ungarische Mediengesetz gegen Artikel 11 Absatz 2 Grundrechtecharta verstoßen? Nur wenn Ungarn beim Erlass seines Mediengesetzes der Grundrechtecharta unterworfen ist, kommt die „Freiheit der Medien“ des Artikels 11 Absatz 2 Grundrechtecharta als Maßstab einer Kontrolle in Betracht.

Im Gegensatz zu den Organen der Europäischen Union, die uneingeschränkt der Bindung an die Grundrechtecharta unterliegen, sind die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ an die Grundrechte gebunden (Artikel 51 Absatz 1 Grundrechtecharta). Das Recht der Mitgliedstaaten ist also nicht uneingeschränkt an den Unionsgrundrechten zu messen, sondern nur bei Durchführung des Unionsrechts. Dies ist etwa beim Vollzug von EU-Verordnungen oder bei der innerstaatlichen Umsetzung von EU-Richtlinien der Fall. Um all dies geht es beim neuen ungarischen Mediengesetz nicht. Ungarn könnte nur dann an die Grundrechtecharta gebunden sein, wenn das neue Mediengesetz in eine Grundfreiheit (etwa Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit) des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) eingreifen würde. Es ist anerkannt, dass die Mitgliedstaaten der Bindung an die Unionsgrundrechte unterliegen, wenn sie Grundfreiheiten des AEUV beeinträch­tigen. Doch auch eine solche Beeinträchtigung von Grundfreiheiten dürfte vom neuen ungarischen Mediengesetz kaum ausgehen. Es begründet keine Diskriminierung von ausländischen Medienunternehmen, weil die vom neuen ungarischen Mediengesetz vorgesehene Staatsaufsicht für alle Medienunternehmen gleich welcher Herkunft gilt. Auch sind nichtungarische Medien durch das Gesetz faktisch nicht stärker, sondern in gleichem Maße wie inländische Medienunternehmen betroffen. Alles das spricht dafür, dass Ungarn mit dem neuen Mediengesetz nicht in Grundfreiheiten des AEUV eingreift und deshalb insoweit auch nicht an die Unionsgrundrechte gebunden ist.

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Conclusio: Das neue ungarische Mediengesetz ist kein Fall für die Europäische Union.

Unterliegt Ungarn beim Erlass seines neuen Mediengesetzes nicht der Bindung an die Unionsgrundrechte, ist das Gesetz demnach auch nicht an Artikel 11 Abs. 2 Grundrechtecharta („Freiheit der Medien“) zu messen. Dementsprechend sind der Kommission die Hände gebunden. Man mag dieses Ergebnis als politisch inakzeptabel betrachten. Es beruht jedoch auf dem Umstand, dass die Mitgliedstaaten nicht generell, sondern nur bei Durchführung des Unionsrechts an Unionsgrundrechte gebunden sind. Nicht jedes mitgliedstaatliche Problem ist ein Problem der Europäischen Union und sollte im Interesse der Souveränität der Mitgliedstaaten auch nicht Sache der Union sein. Ob dies indes im Bereich der Freiheit der Medien der Fall sein sollte, steht auf einem anderen Blatt.

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