#Abmahnrepublik

Der fliegende Gerichtsstand braucht ein Flugverbot. Teil V der Serie „Abmahnrepublik“

von , 14.6.10

Vor neun Jahren stellten die beiden Rechtswissenschaftler Gerhard Schricker und Frauke Henning-Bodewig in einer Untersuchung für das Bundesjustizministerium fest: “Das Problem der missbräuchlichen Abmahnungen scheint ein typisch deutsches zu sein. Da die meisten (EU-)Mitgliedstaaten der Abmahnung keine vergleichbare Bedeutung einräumen, insbesondere die Kosten dieser nicht geltend gemacht werden können, gibt es selbst in Ländern mit ähnlich weiter Aktivlegitimation keinen Anreiz zur Verfolgung von Bagatellverstößen.“

Aus dieser klaren Erkenntnis wurden aber bislang keine Konsequenzen gezogen. Ich habe deshalb vier Rechtsanwälte – Markus Kompa, Till Kreutzer, Christian Solmecke und Thomas Stadler* – gefragt, wie sie die Situation einschätzen und was nach ihrer Meinung dringend reformiert werden muss:

Die Fragen:

  1. Ist der deutsche Abmahnwahn von Brüssel diktiert oder geht Deutschland hier einen rigiden Sonderweg?
  2. Wenn Sie Gesetzgeber wären, welche Regelungen würden Sie abschaffen, ändern oder einfügen?
  3. Wenn Sie Politiker wären, welche Initiativen würden Sie ergreifen?
  4. Was sollten Internet-Nutzer tun, um sich nachhaltiger als bisher gegen den zunehmenden Abmahnmissbrauch zu schützen?

Ist der deutsche Abmahnwahn von Brüssel diktiert oder geht Deutschland hier einen rigiden Sonderweg?

Thomas Stadler: Der Abmahnwahn ist nicht von Brüssel diktiert, sondern ein eher deutsches Phänomen und in seinem Ausmaß wohl auch einmalig in Europa. Die zwei Hauptgründe für die deutsche Abmahnfreudigkeit sehe ich darin, dass man in Deutschland zumeist innerhalb von Tagen, notfalls sogar innerhalb von Stunden, eine einstweilige Verfügung bekommen kann, und die Abmahnungen im Urheberrecht und im gewerblichen Rechtsschutz auch für Anwälte sehr interessant sind, weil man in vielen Fällen mit überschaubarem Aufwand relativ hohe Gebühreneinnahmen erzielen kann. In anderen europäischen Ländern funktioniert der einstweilige Rechtsschutz nicht so einfach und zügig wie in Deutschland, weshalb auch der Druck, möglichst kurzfristig eine Unterlassungserklärung abzugeben, nicht so hoch ist.

Till Kreutzer: Es gibt keine europäische Vorgabe, die vorschreiben würde, dass Abmahnungen gegen Kostenerstattung durch die Nationalstaaten ermöglicht werden müssen.

Christian Solmecke: Ich vertrete etwa 300 Online-Shops, die alle schon einmal abgemahnt worden sind. Die Gründe dafür sind vielfältig. Meist ging es um die fehlerhafte Formulierung der Widerrufsbelehrung. Solche Formulierungsfehler können natürlich auch in anderen Ländern zu Abmahnungen führen. Deutsche Anwälte scheinen das System hingegen perfektioniert zu haben. Für den Abgemahnten sind die aus der Abmahnung resultierenden Anwaltskosten oft nur schwer nachzuvollziehen. Insbesondere wenn es um Kleinstverstöße wie z.B. das Abkürzen eines Vornamens im Impressum geht. Wie in einigen anderen Ländern Europas wird dann oft gefordert, dass die erstmalige Abmahnung kostenfrei bleiben soll. Doch auch das ist nicht ganz unproblematisch. Dem zu Recht Abmahnenden sind Kosten entstanden und die sollten ihm auch erstattet werden. Ansonsten würde dies das Aus für das deutsche Wettbewerbsrecht bedeuten.

Markus Kompa: Die Abmahnung hat sich in der deutschen Rechtspraxis entwickelt und sollte ursprünglich im gewerblichen Rechtsschutz zeitraubende Prozesse vermeiden, indem man die außergerichtliche Beilegung anbietet. Dabei wurde das Prinzip des deutschen Prozessrechts aufgegriffen, dass der Verletzer die Anwaltskosten tragen muss, während im Ausland meist jeder seinen eigenen Anwalt bezahlt, unabhängig davon, wer gewinnt.

Die Alternative zur Abmahnung wäre, ohne jede Warnung gleich vor Gericht zu gehen. Jedoch könnte ein überraschend Beklagter den Anspruch durch ein sofortiges Anerkenntnis einräumen und die Kosten als nicht notwendig zurückweisen, mit der Behauptung, er hätte das auch ohne Gericht anerkannt. Dieser Einwand kann durch eine vorherige Abmahnung abgeschnitten werden. Ein Verzicht auf vorherige Abmahnung wäre daher ein anwaltlicher Kunstfehler. Im Grunde ist es ja eine gerechte Sache, dass der Verursacher zahlen muss.

Dass man aber die im gewerblichen Rechtsschutz gewachsenen Verfahrensweisen 1:1 auf Privatleute anwendet und astronomische Streitwerte aufruft, war nicht im Sinne des Erfinders. Ein Abmahner kann nämlich vollmundig allerhand fordern und bluffen, was das Zeug hält, während man vor Gericht für jede zusätzliche Forderung ein unmittelbares Kostenrisiko tragen und gegebenenfalls den Beweis antreten müsste.

Wenn Sie Gesetzgeber wären, welche Regelungen würden Sie abschaffen, ändern oder einfügen?

Christian Solmecke: Das Hauptproblem für den Abmahnwahn unter den deutschen Online-Shops ist aus meiner Sicht der fliegende Gerichtsstand, auch „forum shopping“ (engl. “Gerichts-Einkaufsbummel”) genannt. Bei Verstößen, die im Internet stattfinden, kann sich der Abmahnende sein Gericht aussuchen. Es wird davon ausgegangen, dass die Verletzung bei Internet-Streitigkeiten in jedem Ort Deutschlands stattgefunden hat. Schließlich ist das Internet überall in Deutschland abrufbar. Das führt dazu, dass ich als Abmahnender ziemlich genau einschätzen kann, wie ein Gericht entscheiden wird. In den gängigen Urteilsdatenbanken ist z.B. nachlesbar, wie sich das Oberlandesgericht Braunschweig bei Google-Adwords-Abmahnungen verhält oder wie das Landgericht Köln in den Tauschbörsen-Verfahren entscheidet. Seit jeher gibt es Gerichte, die so genannte Mindermeinungen vertreten. Wenn eine solche Mindermeinung für den Abmahnenden gerade günstig ist, wählt er genau dieses Gericht und bekommt prompt Recht.

Ein weiteres Problem ist die “Googlebarkeit” von Rechtsverstößen. Dazu ein Beispiel: Die Formulierung “unfreie Sendungen werden nicht zurück genommen” wird von den meisten Gerichten als wettbewerbswidrig angesehen. Wenn ich nun genau diese Formulierung bei Google oder bei eBay in die Suchmaske eingebe, dann werde ich sehr schnell hunderte von Shops finden, die sich wettbewerbswidrig verhalten. Besteht ein Wettbewerbsverhältnis, können diese Shops leicht abgemahnt werden.

Schließlich beobachte ich auch einen inflationären Anstieg von einstweiligen Verfügungen. Diese Eilverfahren werden von den Gerichten meist durchgewunken, ohne den Gegner auch nur anzuhören. Eigentlich ist in der Zivilprozessordnung das Weglassen einer mündlichen Verhandlung nur in Ausnahmefällen vorgesehen. In der Praxis ist das bei den Eilverfahren aber ganz eindeutig die Regel. Der Grund: Die Gerichte können dann im Beschlusswege entscheiden und auf eine Begründung der Entscheidung gänzlich verzichten. Das spart wertvolle Arbeitszeit. Die Betroffenen stehen vor dem Problem, gegen eine einmal ergangene Entscheidung mittels eines Widerspruchs vorgehen zu müssen.

Letztlich sehe ich auch in den hohen Streitwerten, die von den Gerichten angesetzt werden, ein sehr großes Problem. Bei einem Jugendlichen, der 3 Alben (ca. 50 Lieder) im Netz getauscht hat, wurde vom Landgericht Köln ein Streitwert von 500.000 € für korrekt befunden. Das ist aus meiner Sicht viel zu hoch. Mit solchen Streitwerten prügeln sich normalerweise nur Großunternehmen herum. Eine Instanz kostet bei so einem Streitwert mehr als 25.000 €. Das finde ich ruinös. Früher waren Urheberrechtsverletzungen in diesen Dimensionen für Privatpersonen ohnehin undenkbar. Erst seit es das Internet gibt, wird auch der Einzelne zum Sender und kann so – bewusst oder unbewusst – massive Urheberrechtsverletzungen begehen.

Markus Kompa: Die Abmahnpraxis ist nur punktuell gesetzlich normiert. Sie ist mehr durch richterliche Rechtsfortbildung entstanden. Einen richtigen Weg, der Abmahnindustrie die Milch sauer zu machen, hat man mit der Deckelung der Abmahnkosten auf 100 Euro in urheberrechtlichen Bagatellfällen (durch § 97a Abs. 2 UrhG) eingeschlagen. Seit kurzem wenden einige Gerichte diese Vorschrift auf Filesharing-Fälle an, was aber noch umstritten ist.

Bereits im geltenden Recht gibt es den Einwand des Rechtsmissbrauchs, also das zweckwidrige Ausnutzen einer formal bestehenden Rechtsposition. Hier könnte man einige typische Fälle als Missbrauch und Schikane gesetzlich kodifizieren.

Meiner Ansicht nach müssten auch servile Anwälte, die nachhaltig durch “dog law” auffallen, Sanktionen durch Anwaltskammern oder Behörden spüren. Wenn das anwaltliche Standesrecht auf der einen Seite einem Anwalt verbietet, Nebenjobs wie “Putzen” zu ergreifen, weil dies dem Ansehen des Berufsstandes unwürdig sei, dann kann man nicht auf der anderen Seite gewisse Anwälte dulden, die den Anwaltsstand tatsächlich in Verruf bringen, ja sogar Hass erzeugen.

Thomas Stadler: Es sind nicht nur die Gesetze, es liegt vor allem an ihrer Auslegung durch die Gerichte. Was das Phänomen der Massenabmahnung zum Beispiel erheblich begünstigt, ist die deutliche Zurückhaltung der deutschen Rechtsprechung, wenn es darum geht, bestimmte Abmahnungen als rechtsmissbräuchlich oder strafbar zu qualifizieren, obwohl sich das manchmal förmlich aufdrängt. Deshalb konnten und können berüchtigte Massenabmahner ihr Geschäft oft ungestört über Jahre hinweg betreiben.

Es war z.B. eine durchaus sinnvolle Idee, die Abmahnkosten bei einfach gelagerten Urheberrechtsverstößen außerhalb des geschäftlichen Verkehrs auf 100 Euro zu begrenzen. Aber diese Vorschrift (§ 97a Abs. 2 UrhG) wird praktisch nicht angewandt, weil die Gerichte in den Filesharing-Fällen selbst beim Download eines Films oder eines Musikalbums von einem „gewerblichen Ausmaß“ sprechen. Hier wäre eine gesetzgeberische Klarstellung dringend angebracht.

Gleichzeitig hat der Gesetzgeber im Bereich des Filesharing durch Schaffung eines Auskunftsanspruchs gegen Zugangsprovider die Entstehung einer neuen Abmahnindustrie überhaupt erst ermöglicht. Speziell das Landgericht Köln ordnet im Rahmen eines einzelnen solchen Auskunftsverfahrens regelmäßig mehrere tausend IP-Adressen jeweils einem Anschlussinhaber zu, weshalb aus nur einem gerichtlichen Aktenzeichen gleich tausende von Abmahnungen resultieren. Der Slogan “Turn Piracy Into Profit” funktioniert nur dank der Gesetzgebung und der Rechtsprechung. Das Ergebnis ist eine Pervertierung des Urheberrechtsschutzes.

Till Kreutzer: Nach deutschem Recht ist der Anspruch auf Ersatz der Abmahnkosten kein Schadensersatzanspruch. Er basiert vielmehr auf dem Institut der so genannten “Geschäftsführung ohne Auftrag” (GoA, Anspruchgrundlage ist § 683 BGB). Der Grundgedanke dahinter ist, dass der Verletzte (z.B. der Rechteinhaber) quasi für den Verletzer ein Geschäft führt, indem er ihn abmahnen lässt. Salopp ausgedrückt bedeutet das, dass der Rechteinhaber dem (angeblichen) Verletzer “einen Gefallen tut”, indem er ihm mit der Abmahnung die Möglichkeit gibt, einen Prozess zu vermeiden und eine außergerichtliche Einigung zu erzielen.

Im Prinzip mag der Gedanke richtig sein, er wird jedoch im Zusammenhang mit dem “Abmahnunwesen” vollkommen pervertiert. Da der GoA-Anspruch kein Schadensersatzanspruch ist, also verschuldensunabhängig gewährt wird, besteht der Anspruch auf Begleichung der Anwaltskosten unabhängig davon, ob die Verletzung schuldhaft oder auch nur bewusst begangen wurde. Wäre ein Verschulden erforderlich, wäre es z.B. in den “Elternhaftungsfällen” (Eltern haften ja “nur” aufgrund einer Sorgfalts- oder Prüfungspflichtverletzung mittelbar für das Verhalten ihrer Kinder) äußerst fraglich, ob die Anwaltskosten für die Abmahnung verlangt werden können.

Darüber hinaus gibt es noch eine Reihe anderer Bedenken, die sich insbesondere auf die Höhe der Anwaltsgebühren für Abmahnungen beziehen. Die Festsetzung des Gegenstandswertes gerade bei Unterlassungsansprüchen ist häufig rein willkürlich. Um sich gegen die Wertberechnung (die zunächst vom Verletzten nach eigenem Ermessen vorgenommen wird), zu wehren, müsste der Abgemahnte vor Gericht gehen, was mit allerhand Risiken verbunden wäre. Es wäre also wünschenswert, im Kostenrecht eine klare Bemessungsgrundlage oder Deckelung festzuschreiben, die Missbrauch im Sinne von überhöhten Abmahngebühren verhindert.

Der Gesetzgeber hat zwar mit § 97a Abs. 2 UrhG einen solchen Versuch unternommen, es scheint sich aber herauszustellen, dass der Ansatz falsch gewählt ist und die Regelung (bis dato) keinerlei Schutzwirkung entfaltet. Hier gilt es nachzubessern.

Wenn Sie Politiker wären, welche Initiativen würden Sie ergreifen?

Christian Solmecke: Aus meiner Sicht müsste der fliegende Gerichtsstand neu geregelt werden. Außerdem müsste eine Streitwert-Deckelung bei Urheberrechtsverstößen im privaten Bereich eingeführt werden. Auch im Wettbewerbsrecht sollte über die zu hohen Streitwerte nachgedacht werden.

Till Kreutzer: Ich würde im Sinne eines dringend gebotenen Verbraucherschutzes darauf drängen, dass sowohl die Anspruchsgrundlage für Abmahnungen (siehe Antwort unter 2.) als auch die Berechnungsgrundlagen in Fällen von Nutzungshandlungen von Privatpersonen auf den Prüfstand gestellt werden. Die Gradwanderung ist nicht einfach. Natürlich muss dabei vermieden werden, dass die Verletzten in relevanten Fällen sich der Abmahnung nicht mehr bedienen können und immer gleich klagen (weil sie die Kosten, die ihnen tatsächlich für die Inanspruchnahme des Anwalts entstehen, nicht erstattet bekommen).

Markus Kompa: Das Problem liegt ja eigentlich weniger bei den Abmahnungen. Denn die sind nur die Vorstufe zu angedrohten Klagen und einstweiligen Verfügungen.

Als Presse- und Bloggerrechtler steht für mich an erster Stelle die Abschaffung des “fliegenden Gerichtsstands”, der in § 32 ZPO verortet wird. Es kann nicht richtig sein, dass ein Regensburger Bischof seinen Nachbarn beim Gericht in Hamburg verklagen darf, nur weil dort ungewöhnlich scharfe Richter sitzen, die sich einen Dreck um die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten scheren. Die Hamburger Urteile werden wegen Missachtung der Meinungs- und Pressefreiheit regelmäßig in Karlsruhe wieder kassiert, was Geld, Zeit und Energie kostet.

Meinungsfreiheit ist etwas für reiche Leute geworden. Es würde einem durch Äußerungen Verletzten völlig ausreichen, wenn er zusätzlich an einem Gerichtsort klagen darf, an dem er seinen Lebensmittelpunkt hat. Ein Regensburger Bischof sollte daher die Kirche im Dorf und das Gericht in Regenburg lassen, anstatt auf Wallfahrt nach Hamburg zu ziehen.

Anders als beim Unterlassungsanspruch gibt es beim Rechtsanspruch auf Gegendarstellung keinen fliegenden Gerichtsstand, obwohl es da regelmäßig um die gleichen Probleme geht. So wichtig kann er dann wohl nicht sein.

Die Praxis des so genannten einstweiligen Rechtsschutzes ist eine Farce, weil es dort keineswegs “einstweilig” zugeht, einem Verfügungsbeklagten jedoch allerhand Abwehrrechte genommen werden. Wenn Sie gegen eine einstweilige Verfügung Widerspruch erheben, kann es Monate dauern, bis Sie zur mündlichen Verhandlung geladen werden. Zur Begründung des Widerspruchs-Urteils dürfen sich die Richter fast ein halbes Jahr Zeit lassen. Dann kann sich noch eine Berufung anschließen. Sie müssen aber in dieser Zeit sämtliche Kosten – auch die des gegnerischen Anwalts – vorstrecken, können keine Zeugen vorladen, während sich der Verfügungskläger auf häufig ominöse eidesstattliche Versicherungen stützen und bis zur letzten Minute neue Lügen vortragen darf. Hier gäbe es erheblichen Novellierungsbedarf.

Gegenwärtig ist die Beweislast bei Tatsachenbehauptungen ungleichmäßig verteilt

Im deutschen Äußerungsrecht gibt es insoweit eine Beweislastumkehr. Es reicht aus, dass ein Betroffener eine von Ihnen aufgestellte Tatsachenbehauptung schlank bestreitet, ohne, dass er etwas beweisen muss. Da selbst Vermutungen, Missverständlichkeiten oder ein angeblich erweckter Eindruck als Tatsachenbehauptungen gewertet werden, müssten Sie im Prinzip alles, was Sie sagen, andeuten oder scheinbar gemeint haben könnten, vor Gericht beweisen. Das führt zu Selbstzensur.

Hier müsste ein Korrektiv eingreifen, das den Belangen der Meinungsfreiheit Rechnung trägt. Die Beweislastumkehr ist durchaus sinnvoll, um vorsätzlichem Rufmord effizient zu begegnen. Insbesondere bei streitigen Sachverhalten, bei denen der Kläger die behauptete Unwahrheit beweisen könnte, sollte er das auch tun müssen, wenn insoweit erhebliche Zweifel bestehen.

Vor der sogenannten “Stolpe-Rechtsprechung” war eine missverständliche Äußerung, die man unterschiedlich deuten kann, im Zweifel erlaubt, wenn man eine Deutungsvariante plausibel machen konnte, die nicht als falsche Tatsachenbehauptung interpretiert werden konnte. Wenn Sie heute etwas so ausdrücken, dass ein findiger Anwalt dies als Behauptung oder Andeutung einer Tatsachenbehauptung missverstehen könnte, dann wird verboten. Die orwellschen Zustände in den Pressekammern sind leider noch immer kein Medienthema, obwohl die Entscheidungen kaum absurder sein könnten.

Thomas Stadler: Ich würde den fliegenden Gerichtsstand dahingehend einschränken, dass zumindest ein sachlicher Anknüpfungspunkt für die Wahl des Gerichtsorts dargelegt werden muss und die bloße Abrufbarkeit von Internetinhalten, z.B. in Hamburg, noch nicht für eine Gerichtsstandswahl reicht.

Sinnvoll wäre auch eine klare Vorgabe von gesetzlichen Kriterien dafür, unter welchen Umständen eine Abmahnung als rechtsmissbräuchlich und damit auch als unwirksam zu qualifizieren ist.

Auch die effektive gesetzliche Begrenzung von Abmahngebühren wäre ein Instrumentarium das dazu beitragen könnte, die Zahl der Abmahnungen zu reduzieren.

Im Wettbewerbsrecht könnte man schließlich darüber nachdenken, die gesetzliche Dringlichkeitsvermutung abzuschaffen, so dass jeder, der eine einstweilige Verfügung möchte, im Einzelfall darlegen muss, warum die Sache so eilbedürftig ist und es ihm nicht zugemutet werden kann, gleich ein Hauptsacheverfahren anzustrengen.

Man könnte bei Internetsachverhalten auch über ein „Notice And Take Down”-Verfahren nachdenken, wobei ich da zwiegespalten bin, weil das dadurch verursachte vorschnelle Entfernen gerade von meinungsrelevanten Inhalten mit Blick auf die Meinungs- und Informationsfreiheit kritisch ist.

Was sollten Internet-Nutzer tun, um sich nachhaltiger als bisher gegen den zunehmenden Abmahnmissbrauch zu schützen?

Markus Kompa: Abmahnungen sind ja häufig nur das Vorgeplänkel seltsamer Rechtsstreite. Ein wesentlicher Faktor, Rechtsstreite durchzustehen, ist häufig die unterschiedliche Kriegskasse. Der Kostendruck nötigt Blogger oft zu faulen Kompromissen, während Abmahner Prozesse aus der Portokasse zahlen und mit der Schrotflinte Anträge auf absurdeste einstweilige Verfügungen verschießen, in der Hoffnung, eine würde treffen.

Derzeit diskutiere ich mit anderen Bürgerrechtlern die Einrichtung eines Rechtshilfefonds. Anstatt dass jeder abgemahnte Blogger auf eigene Faust eine Spendenkampagne aufziehen muss, sollte man Synergien bündeln und die Abwehr kompetent organisieren. Man könnte diese Verfahren auch medial begleiten und den Abmahnern eine laute Botschaft senden. Was den äußernden Privatleuten fehlt, ist eine Lobby.

Christian Solmecke: Rechtsmissbräuchliche Abmahnungen können nur dann ans Tageslicht gebracht werden, wenn die Abgemahnten sich austauschen. Das bedeutet, dass sich die Abgemahnten in Foren zusammenfinden sollten. Nur so ist es möglich, Massenabmahnungen zu identifizieren. Es sei aber auch angemerkt, dass allein das massenhafte Verschicken von Abmahnungen noch kein eindeutiges Indiz für eine Rechtsmissbräuchlichkeit ist. Weitere Indizien, die hinzukommen müssen, wären z.B. ein verwandtschaftliches Verhältnis zwischen dem Abmahner und seinem Anwalt. Überzogene Streitwerte, viele schnelle Vergleiche und die Werbung mit “kostenneutralen Abmahnungen” sprechen ebenfalls für eine Rechtsmissbräuchlichkeit.

Thomas Stadler: Der Aufschrei vieler Blogger hat ja schon mehrfach dazu geführt, dass gerade größere Unternehmen aus Angst vor einem Imageverlust zurück gerudert sind. Öffentlicher Druck bewirkt also etwas. Wer sich im Netz als Anbieter von Inhalten oder als Verkäufer von Waren bewegt, sollte sich aber auch selbst über gewisse rechtliche Rahmenbedingungen informieren. Dadurch lässt sich vermeiden, in jede Falle zu tappen.

Till Kreutzer: In Bezug auf die derzeitige Situation wäre es denkbar, Fonds mit freiwilligen Spenden zu bilden, um Abgemahnten in Notfällen zu helfen, z.B. Anwälte zu bezahlen, die (u.a.) Musterprozesse führen oder ähnliches. In Bezug auf die notwendigen Änderungen des Rechts wäre eine breite Bewegung und Solidarisierung sicherlich effektiv, die sich gegen das Abmahnunwesen (also gegen die missbräuchlichen Fälle) wendet und politische Initiative fordert. Das kann natürlich auch, begleitend, in Form von Petitionen geschehen.

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Die Anwälte:

Markus Kompa (37) absolvierte einen Teil seiner Ausbildung am Institut für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht in Münster. Er berät bundesweit Künstler, investigative Journalisten und kritische Blogger. Kompa veröffentlicht im Internetmagazin Telepolis zum Medienrecht sowie aus Passion recherchierte Artikel über Geheimdienst-Themen des Kalten Kriegs.

Till Kreutzer (39) ist Partner bei i.e. – dem Büro für informationsrechtliche Expertise in Hamburg und Berlin. Außerdem ist er Journalist und Gründungsmitglied von iRights.info, einem Informationsportal zum Urheberrecht in der digitalen Welt, das 2006 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde.

Christian Solmecke (36) arbeitet in der Kölner Kanzlei „Wilde Beuger & Solmecke“, die vor allem die Online-Branche berät. Neben seiner Kanzleitätigkeit ist Christian Solmecke auch Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Kommunikation und Recht im Internet (DIKRI) an der Cologne Business School. Dort beschäftigt er sich insbesondere mit den Rechtsfragen in Sozialen Netzen. Vor seiner Tätigkeit als Anwalt arbeitete Solmecke mehrere Jahre als Journalist für den Westdeutschen Rundfunk und andere Medien.

Thomas Stadler (41) ist Fachanwalt für IT-Recht und gewerblichen Rechtsschutz. Er arbeitet als Partner der Kanzlei „Alavi, Frösner, Stadler“ in Freising bei München. Stadler ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen zum Internet- und IT-Recht und bloggt unter internet-law.

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Bisher sind in der Reihe „Abmahnrepublik“ erschienen:

  1. Abmahnrepublik Deutschland (Die Situation)
  2. Wie man aus Schülern Geschäftsleute macht (Urheberrecht)
  3. Warum Lieschen Müller über die Meinungsfreiheit entscheidet (Presserecht)
  4. Der Hund bekommt im Nachhinein Prügel (Wettbewerbsrecht)
  5. Der fliegende Gerichtsstand braucht ein Flugverbot (Der Reformbedarf)
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