#Haushaltsabgabe

Das Kirchhof-Gutachten: “Neue Plausibilität” durch volle Rundfunkbeiträge von allen

von , 6.5.10

Der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof hat heute Vormittag den Chefs der Staatskanzleien sein Gutachten im Auftrag von ARD und ZDF zur Frage einer Umstellung der gerätebezogenen, abgestuften Rundfunkgebühr auf eine allgemeine Haushaltsabgabe vorgestellt.

Das 78-seitige Gutachten kann nun auf den Seiten der Digitalen Linken heruntergeladen werden. Carta stellt hier die 20 Thesen des Gutachtens vor – und hebt zentrale Sätze hervor.

I. Der Reformauftrag

1. Die gegenwärtige Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks muss reformiert werden. Das Empfangsgerät moderner Technik ist nicht mehr raumgebunden, Hörfunk- und Fernsehempfang werden kaum noch in technischer Alternativität erlebt, ein leicht bewegliches Gerät lässt sich kaum mehr verlässlich einem Haushalt oder einem Gewerbetrieb zuordnen. Das Empfangsgerät ist ein ungeeigneter Anknüpfungspunkt, um die Nutzer des öffentlich-rechtlichen Rundfunks tatbestandlich zu erfassen und die Nutzungsintensität sachgerecht zu unterscheiden. Wegen dieser fehlerhaften Bemessungsgrundlage erreicht die Rundfunkabgabe nicht mehr alle Rundfunkempfänger, gewöhnt viele – auch jugendliche – Menschen an die Illegalität, schafft Ungleichheit unter den Nutzern. Sie ist deshalb rechtstaatlich bedenklich. Wenn die Vollzugsmängel des gegenwärtigen Abgabenrechts die Intensität eines strukturellen Erhebungsdefizits erreichen, wird auch das materielle Recht verfassungswidrig.

2. Das Rundfunkangebot wendet sich an den Menschen. Auch der Abgabentatbestand muss deshalb grundsätzlich auf den Menschen, nicht das Empfangsgerät ausgerichtet werden. Wie die Kurtaxe auf den Kurgast, nicht die Zahl der von ihm am Kurort genutzten Sportgeräte ausgerichtet ist, der Erschließungsbeitrag den Anlieger, nicht dessen Kraftfahrzeuge belastet, so muss auch die Rundfunkabgabe einen Tatbestand des Nutzers, nicht des Empfangsgerätes bilden. Die unterschiedliche Nutzungsintensität kann ein gruppenbezogener Beitrag im Tatbestand des Haushalts (der Wohnung) und des Gewerbebetriebs ausgleichen und bei typisierender Betrachtungsweise diese Empfangsgemeinschaften mit einem einheitlichen Abgabensatz belasten.

3. Das Recht der Rundfunkfinanzierung sollte behutsam erneuert werden, um keine neuartigen Fragen des Europarechts zu veranlassen und die Aufnahme der Reform in der Öffentlichkeit zu erleichtern. Der Reformvorschlag verfolgt ein Gerechtigkeitsanliegen, soll nicht das Abgabeaufkommen steigern. Er verbleibt, wie das bisherige Recht, im Rahmen der Vorzugslasten (Gebühren und Beiträge).

4. Das Rundfunkangebot ist eine „allgemein zugängliche Quelle“ (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG), aus der sich grundsätzlich jeder unterrichten kann. Die verfassungsrechtlich gebotene markt- und staatsferne Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks braucht deshalb einen in die Breite wirkenden, grundsätzlich jede – vermutete – Nutzung erfassenden Belastungstatbestand.

5. Das Grundrecht der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) weist dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Aufgabe zu, unter den Bedingungen der modernen Massenkommunikation eine freie und umfassende Meinungsbildung – die Individualfreiheiten der Menschen ergänzend und verstärkend – zu gewährleisten. Die Rundfunkanstalten haben einen entwicklungsoffenen Versorgungsauftrag, der sich an die Allgemeinheit der Bevölkerung richtet, in der Freiheit vom Staat wahrgenommen werden muss und eine gegenseitige publizistische Konkurrenz von öffentlichem und privatem Rundfunk ermöglicht. Diesem Auftrag hat die Rundfunkfinanzierung die ökonomische Grundlage zu vermitteln. Die Rundfunkfinanzierung ist insoweit „geprägte Freiheit“.

6. Die Rundfunkfinanzierung ist programmneutral zu gestalten, so dass die Programmentscheidungen der Rundfunkanstalten finanziell nicht verfremdet werden. Sie hat entsprechend dem allgemeinen Versorgungsauftrag ein allgemeines Rundfunkangebot an jedermann zu finanzieren. Der zu finanzierende Bedarf ist entsprechend der Rundfunkfreiheit zu definieren und auf das verfassungsrechtliche Recht der Abgabenzahler auf maßvolle und gleichmäßige Lasten abzustimmen. Maßstab der Rundfunkfinanzierung ist also ein besonderes Konnexitätsprinzip: Art und Verantwortlichkeit der Finanzierung folgt der Rundfunkaufgabe. Die Wahrnehmung der Rundfunkaufgaben und Rundfunkbefugnisse darf nicht durch die Macht des Geldes verfremdet werden. Das Geld übt eine dienende, keine herrschende Funktion aus. Der Gesetzgeber genügt diesen Anforderungen, wenn er die Rundfunkgesetzgebung von der Abgabengesetzgebung trennt, den Abgabentatbestand in einer Allgemeinheit von hoher Abstraktion regelt und sachfremde Einflüsse auf die Abgabenentscheidungen durch ein Verfahren zurückweist.

II. Die verfassungsrechtlich gebotene Abgabenart

7. Zur Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks steht das Instrument der Abgabe (Steuer, Sonderabgabe, Gebühr, Beitrag) zur Verfügung. Eine Steuerfinanzierung kommt nicht in Betracht. Eine Steuer ist die Gemeinlast, die der Staat allen Leistungsfähigen auferlegt, um die Staatsaufgaben (den Staatshaushalt) zu finanzieren. Der Steuerpflichtige empfängt für seine Zahlung keine Gegenleistung. Das Steueraufkommen wird jährlich in den Haushaltsplan eingestellt, steht also zur Entscheidung des Parlaments. Die Steuererträge dürfen grundsätzlich nicht außerhalb des Staatshaushaltes, damit außerhalb des Budgetrechts des Parlaments verwendet werden. Die Steuerhoheit der Gemeinden begründet keine Ausnahme, weil die Gemeinden (Gemeindeverbände) Teil der Staatsorganisation sind. Die Steuerhoheit der Kirchen beruht auf einer ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Garantie. Sollte eine Verfassungsänderung erwogen werden, um die Rundfunkanstalten aus Steuern zu finanzieren, berührte diese Verfassungsänderung Grundprinzipien der parlamentarischen Demokratie, das Budgetrecht als ein Elementar-recht des Parlaments.

8. Die Sonderabgabe bezeichnet die seltene Ausnahme einer Abgabe, deren Erträge außerhalb des Parlaments verwendet werden (Haushaltsflüchtigkeit), die den Steuerpflichtigen mit weiteren Zusatzlasten beschweren (gleichheitsrechtlicher Rechtfertigungsbedarf) und die außerhalb der Finanzverfassung des Grundgesetzes geregelt, erhoben und verwendet werden. Derartige Abgaben sind in ihrer Gruppennützigkeit und engen Zweckbindung an strenge verfassungsrechtliche Voraussetzungen gebunden, dürfen zudem nur vorübergehend erhoben werden. Sie stehen zur Regelfinanzierung des Rundfunks nicht zur Verfügung.

9. Die Entgeltabgaben (Gebühren und Beiträge) gleichen einen finanziellen Aufwand aus, der dem Abgabenschuldner einen Vorteil bringt. Die Gebühr ist das Entgelt für eine öffentlich-rechtliche Leistung, die der Gebührenschuldner empfangen hat. Der Beitrag entgilt ein Leistungsangebot, das der Abgabenschuldner nutzen kann. Die Gebühr schöpft den Vorteil einer staatlich gewährten, individualdienlichen Leistung ab. Im Beitrag trägt der Begünstigte zur Finanzierung einer öffentlichen Einrichtung bei. Die Gebühr ist Leistungsentgelt, die Beitragsschuld entsteht bereits mit dem Leistungsangebot. Die Gebühr entgilt das Empfangen, der Beitrag das Empfangendürfen.

10. Die gegenwärtig erhobene Rundfunk“gebühr“ belastet das Bereithalten eines Rundfunkempfangsgeräts. Die Abgabepflicht entsteht auch dann, wenn mit dem Gerät tatsächlich öffentlich-rechtlicher Rundfunk nicht empfangen wird. Diese Rundfunkabgabe entgilt nicht eine tatsächlich entgegengenommene Leistung, sondern das in dem Rundfunkgerät annehmbare Leistungsangebot. Die Abgabe trägt zur Finanzierung des Rundfunks als Gesamtveranstaltung bei. Die sog. Rundfunkgebühr erfüllt damit alle Voraussetzungen des verfassungsrechtlichen Abgabetyps „Beitrag“.

11. Die Gesetzgebungszuständigkeit für den Rundfunkbeitrag folgt der Gesetzgebungskompetenz für das zugehörige Sachgebiet (Annexkompetenz). Für den Rundfunk liegt die Gesetzgebungskompetenz bei den Ländern (Art. 70 Abs. 1 GG). Diese umfasst auch die Kompetenz zur Regelung der Rundfunkfinanzierung. Das Beitragsaufkommen darf von den Rundfunkanstalten autonom verwendet werden. Die Verwaltungskompetenz kann der Gesetzgeber den Rundfunkanstalten, bei einer Beitragserhebung nach strikter Legalität auch den Länderbehörden zuweisen.

III. Die Ausgestaltung eines Rundfunkbeitrags

12. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist durch einen Rundfunkbeitrag zu finanzieren, durch den alle Empfangsfähigen zur Finanzierung dieses Rundfunks beitragen. Dieser Beitrag entgilt nicht die empfangene Rundfunksendung, sondern das Nutzungsangebot.

13. Ein Beitrag muss im Abgabentatbestand wie in der Höhe des Abgabensatzes nach der zu finanzierenden Aufgabe bemessen werden. Bei der Ausgestaltung dieses Beitrags hat der Gesetzgeber die Vielfalt der Einzelfälle in einer allgemeinen Regel zu erfassen, die Norm auf die Normalität auszurichten, den Belastungstatbestand zu typisieren und die Abgabe der Höhe nach zu pauschalieren. Er hat diesen Beitragstatbestand auf die typische und übliche Nutzungsmöglichkeit abzustimmen und so verlässlich zu gestalten, dass der Beitragstatbestand grundsätzlich einsichtig ist, der Gesetzesvollzug praktikabel bleibt, die Abgabenlast unausweichlich ist und die Privatsphäre geschont wird.

14. Der bisherige geräteabhängige Rundfunkbeitrag genügt diesen Anforderungen nicht. Die tatbestandliche Anknüpfung an das Empfangsgerät erfasst heute den Tatbestand der typischen Nutzergemeinschaft von Haushalt und Betriebsstätte nicht mehr verlässlich. Während in den Gründerzeiten des Fernsehens ein Gerät die Nutzergemeinschaft in Haushalt und Betriebsstätte zusammenführte, trägt heute jedermann sein Rundfunk- und Fernsehgerät in seinem Handy oder PC mit sich. Die verfassungsrechtlich gebotene Reform gilt deshalb nicht dem Beitrag, der von den Haushaltungen und Gewerbebetrieben geschuldet wird, sondern dessen Ausgestaltung in dem formalen Tatbestand des Empfangsgerätes.

15. Die erneuerte Abgabe ist behutsam so zu bemessen, dass die vertraute Abgabe ersichtlich erhalten bleibt, deren Strukturfehler aber ebenso offensichtlich bereinigt wird. Deshalb sind

(1.) Gläubiger (Rundfunkanstalten) und Schuldner (Haushaltungen und Gewerbetriebe) beizubehalten,
(2.) der rechtfertigende Grund der Rundfunkabgabe – das allgemeine Angebot von Rundfunksendungen – zu bewahren,
(3.) die Abgabenhöhe entsprechend der gewohnten Last zu bemessen,
(4.) der Verfremdungstatbestand der Geräteabhängigkeit durch den Tatbestand des Haushalts (der Wohnung) und des Gewerbetriebs zu ersetzen und
(5.) diese Erneuerung im Begriff des „Rundfunkbeitrags“ ins allgemeine Bewusstsein zu rücken.

16. Die Regelvermutung, jedermann werde grundsätzlich in Deutschland Rundfunk empfangen, berücksichtigt nicht die erheblich unterschiedliche Intensität, in der die einzelnen Empfänger der Rundfunksendungen das Hörfunk- und Fernsehangebot tatsächlich nutzen. Die unterschiedlichen Nutzungsgewohnheiten der Rundfunkteilnehmer lassen sich in einer einfachen, vollziehbaren, unausweichlichen und grundrechtschonenen Weise erfassen, wenn der Beitragstatbestand sich auf die Gruppe eines Privathaushaltes und einer Erwerbsgemeinschaft (Gewerbebetrieb) bezieht und nicht die Einzelperson des Rundfunkempfängers belastet. Der Privathaushalt ist die einzige soziale Gruppe, in der unterschiedliche Nutzungsgewohnheiten sich begegnen und gegeneinander ausgleichen können. Auch die Zusammenarbeit in einem Unternehmen führt zu einer sozialen Gruppe, in der Menschen typischerweise Rundfunkprogramme empfangen. Allerdings müsste die Gebührenbelastung bei größeren Betriebsstätten je nach Intensität des Rundfunkempfangs abgestuft werden.

17. Das Rundfunkangebot muss auch für sozial Schwache in vollem Umfang erreichbar sein. Deswegen muss der Gesetzgeber entweder im Beitragsrecht einen Befreiungstatbestand vorsehen oder im Sozialrecht die staatlichen Geldleistungen so bemessen, dass der Rundfunkbeitrag aus diesen Zuwendungen finanziert werden kann. Das Erfordernis eines einfachen, die Privatsphäre schonenden Vollzugs legt nahe, die Beitragslast allgemein zu erheben, aber im Sozialrecht auszugleichen.

18. Persönliche Ausnahmen wegen ersichtlicher Empfangsunfähigkeit (Almhütte im Funkloch, lange Abwesenheit) sind notwendig, tatbestandlich aber eng zu begrenzen. Erwägenswert erscheint stattdessen auch ein Ausnahmetatbestand ersichtlicher Unbilligkeit, der exemplarisch veranschaulicht und begrenzt wird, dann aber jeweils eine Einzelfallentscheidung voraussetzt.

19. Dieser Rundfunkbeitrag folgt einem Konzept genereller, markt- und staatsunabhängiger Lastenverteilungsgerechtigkeit, betont damit die Unabhängigkeit der Rundfunkfinanzierung von der tatsächlichen Nutzung der einzelnen Sendungen (Quote), begründet die Beitragslast mit dem strukturellen Vorteil, den die Allgemeinheit und damit jedermann aus dem Wirken der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zieht. Dieses Belastungsprinzip ist folgerichtig verwirklicht, wenn der Rundfunk auf Werbeeinnahmen und Sponsoring bei Eigenproduktionen (Tauschgerechtigkeit) verzichtet, damit seine Unabhängigkeit von Privatwirtschaft und Markt deutlicher hervorhebt. Die Abgabenreform würde mit diesem – schrittweise und aufkommensneutral zu gestaltenden – Werbeverzicht ein deutliches Signal auch für die zukünftige Rundfunkpolitik und die ersichtliche kulturelle Identität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks setzen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk finanziert sich aus den Beiträgen aller, denen dieses Rundfunkangebot zugute kommt; der private Rundfunk finanziert sich aus Zahlungen der Privatwirtschaft.

20. Die Reform des Rundfunkbeitrags tauscht lediglich den Tatbestand des Empfangsgeräts gegen den Tatbestand des Haushalts und des Gewerbebetriebs aus. In dieser schonenden Korrektur gewinnt die Rundfunkfinanzierung eine neue Plausibilität, vermeidet Probleme mit dem europäischen Wettbewerbsrecht und sichert einem einsichtigen Belastungstatbestand einen einfachen und verlässlichen Vollzug.

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