von Laurent Joachim, 11.3.16
Sozioökonomische Diagnose: Kümmerexistenz. Übersetzung ins Persönliche: Sozialabgrenzung und Freiheitsberaubung durch Geldknappheit. Dazu die ständigen Existenzängste, die die Betroffenen über sich ergehen lassen müssen. Nicht zuletzt in der Kunst- und Medienbranche sind “Kümmerexistenzen” zuhauf anzutreffen, denn in kaum einer anderen Branche haben sich in den letzten 15 Jahren so radikale Veränderungen ereignet und in kaum einer anderen Branche spüren die Beschäftigten die meist bitteren Auswirkungen dieser Veränderungen so deutlich in ihrem Alltag.
Kämpfen
Januar 2014. Schauplatz: Medienstadt Köln. Stimmungsbarometer: abgefilmt, abgeblitzt, abserviert. Als Orientierungshilfe vor der Anreise zu seiner Wohnung meinte Chris Westermann (Name geändert), Kameramann, er wohne im “heruntergekommensten Haus der Straße”, man könne den Bau nicht übersehen. Tatsächlich. Bruchbude. Ganz im Stil eines besetzten Haus, nur mit regulären Mietverhältnissen. Der Porsche mit dem vielsagenden Kennzeichen K-TV… praktisch vor Chris‘ Tür. Ab 60.000 Euro beim Händler Ihres Vertrauens zu haben, nicht sein Fahrzeug. Klar.
Was Chris an diesem Abend kümmert und ärgert, sind jedoch nicht Luxusautos, die er sich nicht leisten kann. Auch nicht die lautstark plätschernde, so-la-la funktionierende Heizung oder gar die nachträglich und notdürftig unter die Dachschräge gequetschte Badewanne, in der man sich beim Duschen zusammenklappen muss. Chris hat gelernt, mit den Unzulänglichkeiten seines Lebens und seines Berufs umzugehen: Auf einem Ohr hört er nicht mehr so richtig, eine viel zu laute Detonation während einer Reportage über die “Arabellion”. Arbeitsunfall im Dienst eines Fernsehsenders, damit unsere 20-Uhr-Nachrichten mit tagesaktuellen Berichten bebildert werden können. Dafür wird Chris niemals ein Denkmal gesetzt werden.
Chris hat in zig Ländern gearbeitet, spricht mehrere Sprachen, dreht Fernsehreportagen und Dokumentarfilme in Krisengebieten, auf Expeditionen oder in Bergwänden, repariert unterwegs im Dschungel die Ausrüstung und war sein ganzes Leben grundsätzlich in Lohn und Brot. Dennoch, was Chris richtig Kummer bereitet, ist, ganz profan, dass sich seine finanziellen Rücklagen gefährlich dem Ende zuneigen. Krisenbedingte Auftragsflaute verschärft durch saisonbedingte Auftragsflaute: weit und breit keine Aufträge in Sicht, keine Möglichkeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Deshalb muss Chris in zwei bis drei Monatsmieten-Entfernung seine Innenstadtwohnung räumen und an den billigeren Stadtrand ziehen. Für Chris‘ jetzige Wohnung steht indes eine Mieterhöhung von 40% an. Auftragsflaute trifft umlagefähige energetische Sanierung. Zum wirklich falschen Zeitpunkt. Lebenseingrenzung in jedem Augenblick des Alltags. Gefühl der Ohnmacht.
Chris gehört zur Ü50-Generation – und ist sichtlich äußerst verärgert darüber, dass Arbeit sich trotz aller Mühen und aller Berufserfahrung eben nicht mehr lohnt. Chris ist auch über die nicht enden vollende Krise und die Politik verärgert. Durchaus nachvollziehbar. Eine Besserung des Geschäftsklimas oder eine bessere Absicherung der Lebensrisiken sind nicht in Sicht. Er soll freiberuflich arbeiten, denn es ist billiger für die Auftraggeber. Die erhöhten Risiken dafür soll er auch weitestgehend selbst tragen. So ist die Gesetzeslage.
Diese Situation ist in den Medien deswegen heute schon recht problematisch, weil der Anteil an Freiberuflern besonders hoch ist, die Beschäftigungsform tendenziell sowohl kurzfristig als auch unregelmäßig, und darüber hinaus herrscht ein spürbares Überangebot an Arbeitskraft.
Laut einer Studie des Bundeswirtschaftsministeriums stellten die freien Kulturberufe im Jahr 2012 die größte Gruppe unter den selbstständigen Freiberuflern dar. Aus der gleichen Studie ist zu entnehmen, dass die Zahl der Freien seit der Jahrhundertwende enorm gewachsen ist: Im Jahr 2000 wurden lediglich 132.000 selbstständige Freiberufler im Kulturbetrieb gezählt, zwölf Jahre später hatte sich diese Zahl mit 291.000 Angehörigen weit mehr als verdoppelt.
Der Deutsche Journalisten Verband (DJV) registrierte 2012 insgesamt 43.500 festangestellte Journalistinnen und Journalisten, den gegenüber standen rund 26.000 freie, aber hauptberufliche Journalistinnen und Journalisten, die sich der Künstlersozialkasse angeschlossen hatten. Hinzu kamen etwa 3.000 Volontäre und eine Vielzahl von Praktikanten und Journalisten im Nebenberuf.
Ob als Festangestellter oder als Freiberufler wird ein Journalist grundsätzlich die gleiche Ausbildung und die gleiche Arbeit leisten. Allerdings zu finanziell ganz anderen Konditionen, wie eine Umfrage des Deutschen Journalistenverbandes von 2014 ans Licht brachte:
Durchschnittlich 2.180 Euro Bruttoeinkommen im Monat verdienen die Freien in Deutschland. Sie erlösen damit weniger als die Hälfte des Einkommens angestellter Redakteure. Inflationsbereinigt ist das durchschnittliche Realeinkommen der Freien gegenüber 2008 sogar um acht Prozent gesunken (…) Mit 1.395 Euro bilden die überwiegend für Zeitungen tätigen Freien das Schlusslicht der Einkommensskala.
Diese Zahlen sind augenscheinlich schlimm genug. Sie hauen aber regelrecht in die Fresse, wenn man einen Steuerberater zu Rate zieht und erfährt, dass sich das durchschnittliche Bruttogehalt eines vollbeschäftigten Arbeitnehmers inklusive Sonderzahlungen Ende 2015 auf monatlich 3.903 Euro beläuft. Um auf ein gleichwertiges Einkommen zu kommen, müssten Freiberufler und Selbständige monatlich etwa 4.657 Euro brutto pro Monat oder 49,75 Euro pro Stunde einnehmen – zuzüglich 19 % Mehrwertsteuer! – und darin sind die variablen Kosten für Geräte, Miete, Heizung, Strom, Büromaterial, Telefon, Internet, Transport, Weiterbildung, Versicherungen, Beratung, Rücklagenbildung für auftragslose Zeiten, usw. noch nicht einmal enthalten.
Wünschenswerte, aber lebensfremde Kalkulation für Kameraleute. Ab und an gibt es 250 bis 300 Euro pro Tag. Manchmal nur knapp 200. Einige arbeiten schon für 100. Nicht selten herrscht Unterbeschäftigung. Dann kommen im Monat vielleicht nicht mal 1.000 Euro zusammen. Zu wenig zum Leben, eventuell gerade noch zu viel für den “Gang zum Amt” – man muss seine Ersparnisse aufbrauchen.
Chris sieht ein System von Krisengewinnlern, besonders in der Fernsehbranche:
Die öffentlich-rechtlichen genau wie die privaten Sender senken ihre Produktionsbudgets immer weiter. Das generiert immer mehr Firmen, die gezielt – und leider erfolgreich – die seriös kalkulierenden und honorierenden Firmen mit unanständigen Dumpingangeboten unter Druck setzen. Diese Preisbrecher wiederum finden billige Arbeitskräfte, weil vielen von denen das Wasser bis zum Hals steht und sie keine Arbeitsalternativen haben. Diese Dumpingfirmen bedienen dann Auftraggeber – Sender, Produktionsfirmen – denen das Wohlergehen der Menschen, die für sie arbeiten, offenbar völlig gleichgültig geworden ist. Schließlich gibt es genug billige Arbeitskraft auf der einen und gierige Aktionäre oder Gebührenverschwendung auf der anderen Seite.
Darüber hinaus drängen ständig hungrige junge Leute auf diesen schon heiß umkämpften Markt und auch die wollen leben, zumal sie oft ihre Ausbildungskosten zurückzahlen müssen. Folge: überall purzeln die Honorare. Eine Art Selbstregulierung des Marktes nach unten, ohne Rücksicht auf die menschlichen Verluste.
Überleben
Der letzte Dreh konnte Chris gerade noch eine Monatsmiete weiter bringen. Etwas Boden gut gemacht im Kampf gegen die Rechnungen und Verpflichtungen des Lebens. Wie es weiter geht, ist abzuwarten. Der nächste Auftrag muss noch bestätigt werden. Chris wurde gefragt, ob er dieses Mal seine Leistung doch noch etwas billiger anbieten könne, damit sein Angebot besser berücksichtigt wird.
Beim Bäcker heißt es: “Bestellen, bezahlen, bekommen”. In dieser Reihenfolge. Für Freiberufler wie Chris heißt es im Gegensatz dazu: “Arbeiten, berechnen, warten” – manchmal ziehen so mehrere Monate ins Land, bis das Geld tatsächlich auf das Konto eintrifft. Dagegen wird eine Wohnungsräumungsklage schon nach zwei ausstehenden Mieten zugestellt. Wer sich beim Auftraggeber beschwert, der fliegt. Keine Gnade. Die Arbeitsagentur lässt sich ihrerseits manchmal zwei oder drei Monate Zeit, bevor Hartz-IV-Anträge bewilligt werden. Ständige Unsicherheit. Prinzip Hoffnung. Dazu die nächtelangen Überlegungen, “was man denn sonst noch so machen könnte”. Völlige Entgrenzung von Privat- und Arbeitsleben. Ständig in Bereitschaft sein. Angst einen Anruf und somit einen Auftrag zu verpassen. Bauchschmerzen. Magengeschwüre. Einige Kollegen von Chris nehmen zu, die anderen nehmen ab, viele trinken.
Auf Dauer sind die Aussichten als freier Kameramann, wie überall in den Medien, wo “frei” gearbeitet wird, recht trüb. In den Medien “frei” arbeiten zu müssen, bedeutet in den seltensten Fällen, “frei” über sein (Arbeits-)Leben bestimmen zu können. Oft herrscht im Rahmen dieser Vertrags- und Marktfreiheit nichts anderes als die Freiheit des Fuchses im unbeaufsichtigten Hühnerstall. Die Verhandlungen mit den Sendern werden immer härter erzählt Chris. Der Freiberufler muss sich den Konditionen des Marktes völlig unterwerfen:
Entweder nimmt man diesen grottenschlechten Vertrag an, oder es gibt gar keinen Vertrag. Die Arbeitstage werden deshalb immer länger, die Vergütung wird trotzdem immer schlechter.
Eine schwache Verhandlungsposition, die sich in Zukunft sogar ganz erübrigen könnte – zu Gunsten des Diktats einer mit Algorithmen gefütterten Datenbank. Medienkonzerne wie ProSiebenSat.1 überlegen nämlich, ob es möglich wäre, nur noch mit Kameraleuten zusammenzuarbeiten, die sich in einer Online-Datenbank eingetragen haben. Praktisch für den Sender, denn wer arbeiten will, wird gleich bei der Registrierung nach einem Festpreis für die zu erbringende Dienstleistung gefragt. Pauschal und im Voraus.
So könnten die freiberuflichen Anbieter gegeneinander ausgespielt werden. Wer traut sich schon, blind einen “fairen” Preis einzutragen, wenn er von vorneherein weiß, dass nur die billigsten Angebote vom System berücksichtigt werden – und zwar der Reihe nach – und dass jedes professionelle Angebot auch in Konkurrenz mit Angeboten von Studenten, Nebenberuflern oder jungen Rentnern steht, die anderweitig abgesichert sind und somit keinen Kostenapparat für Sozialabgaben, Versicherungen, Rücklagenbildung usw. zu unterhalten haben. Eine ungleiche Konkurrenzsituation: Die einen müssen nicht vom Honorar leben und können praktisch den ganzen Betrag als Zuverdienst verbuchen, während die anderen auf das Honorar zum Lebensunterhalt angewiesen sind und nach Abzug aller Kosten nicht selten den “Gang zum Amt” antreten müssen, um auf Hartz-IV-Niveau aufstocken zu können.
Solche Vergütungsmodelle sind allerdings praktisch für die Besteller, denn so wird die Leistung zu dem niedrigstmöglichen Festpreis von Anfang an abgegolten: Werden etwa die Mietpreise für Kamera und Zubehör während der Vertragslaufzeit höher, hat der Freiberufler das Nachsehen, seine minimale Gewinnmarge wird entsprechend geringer. Alle unternehmerischen Risiken werden damit von dem schwächsten Glied in der Kette getragen, demjenigen ganz am Ende der Nahrungskette.
In schlechten Zeiten ist ein Solo-Freiberufler wie Chris tatsächlich nur noch ein Bittsteller, der seine Arbeitskraft notgedrungen unter Wert verkaufen muss. Andernfalls droht, was Chris den “Absturz” und anschließend “die wirtschaftliche Vernichtung” nennt: Hartz IV, von jetzt auf gleich. Einen solchen Absturz beschrieb die Autorin Katja Kullmann in einem Artikel der Zeit von 2011 wie folgt:
Es blieb mir keine andere Wahl als der Gang zum Arbeitsamt, ich habe das erste Mal vor einer Fremden geheult. Das Hartz-Verfahren ist ziemlich entwürdigend.
Aufgrund breiten Widerstandes unter den Kameraleuten konnte sich das Datenbank-System trotz mehrerer Versuche noch nicht durchsetzen. Angesichts des existenziellen Drucks in Chris’ Branche ist es aber fraglich, wie lange diese Widerstandsposition noch zu halten sein wird. Ähnliche Systeme haben sich schon in anderen Branchen etabliert, zum Beispiel bei Übersetzern. Wer arbeiten will, muss die Katze im Sack kaufen, ob ein anständiger Gewinn dabei realisierbar ist, ist zunächst ungewiss. Die Gewinnmarge hängt davon ab, wie lange gearbeitet werden muss. Dem Auftraggeber ist das egal, er kauft nur das Ergebnis – zum vertraglich vereinbarten Festpreis im Voraus. Ergebnis: “Erfolgreiche, vollständig ausgelastete Literaturübersetzer erzielen einen Betriebsgewinn von durchschnittlich 13.000 bis 14.000 Euro jährlich, ihr Nettoeinkommen liegt damit an oder unter der Armutsgrenze”, stellt der Verband deutschsprachiger Übersetzer literarischer und wissenschaftlicher Werke (VdÜ) in einer Studie fest. Die Honorarentwicklung sei laut Studie zudem seit 20 Jahren tendenziell rückläufig – genau, wie in der Fernsehbranche.
Rente sich wer kann!
Mit 50 ist das Leben noch lange nicht vorbei, wie Gaby Baginsky singt, aber man sollte zu dem Zeitpunkt auch für das höhere Alter ein wenig vorgesorgt haben, sonst ist Altersarmut sicher. Chris konnte das nicht wirklich. Wovon denn auch bei den Honorarsätzen, die er bekommt? Chris hat nie in Saus und Braus gelebt, aber nach dem Begleichen seiner monatlichen Fixkosten ist das Geld einfach zu knapp für eine ausreichende Rentenvorsorge. Freiberufler müssen nämlich selbst für ihre Rente vorsorgen.
Sind die Kreativen Mitglieder der Künstlersozialkasse (KSK), bekommen sie zu den eigenen Krankenversicherungs- und Rentenbeträge einen Zuschuss aus einer Arbeitgeberumlage bzw. aus Steuermitteln hinzu. Voraussetzung dafür ist die Anerkennung druch die Künstlersozialkasse als Kreativer. Das gelingt nicht jedem. Diejenigen, die nicht anerkannt werden, bekommen keinen Zuschuss und müssen selbst vorsorgen. Und trotzdem, bei Krankheit oder gar Arbeitslosigkeit hilft auch die Absicherung durch die KSK wenig, denn Freiberufler erhalten keine Lohnfortzahlung und können sich bis auf wenige Ausnahmen grundsätzlich nicht gegen Arbeitslosigkeit versichern. Bei Freiberuflerinnen wird der Mutterschutz zudem ausgehebelt.
Im Falle einer Auftragsflaute ist deshalb die einzige Absicherung oft genug der Hartz-IV-Regelsatz – das heißt, nachdem alle Ersparnisse aufgebraucht wurden. Bis dahin versichert sich der Freiberufler gewissermaßen selber gegen Arbeitslosigkeit, und zwar mit seinem Sparbuch, egal wie lange erfolgreich gearbeitet wurde, egal wie viele Steuern im Laufe des Arbeitsleben entrichtet wurden, egal in welcher Lebenslage man sich gerade befindet. Freiberufler leben deswegen stets an der wirtschaftlichen Klippe und sind ihr ganzes Leben lang nur einen Schritt vom sozialen Absturz entfernt.
Freiberufler werden unter Vertrag genommen, weil die Arbeitgeber sie praktisch jeden Tag kündigen und sich die höheren Lohn- und Sozialnebenkosten von Festangestellten sparen können. Für die Auftraggeber entstehen Kosten nur dann, wenn eine Leistung tatsächlich benötigt und erbracht wurde, Ergebnis: totale Flexibilität, keine Sozialverpflichtung. Beispiel: Im Jahr 2014 wurden bei der Frauenzeitschrift Brigitte (Grüner + Jahr bzw. Bertelsmann) alle festangestellten Textredakteurinnen “betriebsbedingt” zugunsten von “Vielfalt und Potential von außen” (sprich: von Freiberuflern) gekündigt. Die gesellschaftliche Verantwortung des Arbeitgebers und des Staats wird durch die Implementierung solcher Beschäftigungsmodelle allerdings an den Bürger zurück gereicht: Marktheuchelei.
In dieser Hinsicht bekleckert sich der Staat selbst allerdings mit Ruhm. Die Berliner Lehrer an den Musikschulen – zum Beispiel – können ein Lied davon singen. Die Gewerkschaft Ver.di berechnete, dass das durchschnittliche Jahreseinkommen der Berliner Musiklehrer (zu 95% sind das Honorarkräfte) von 14.855 auf 12.530 Euro sich zwischen 2008 und 2012 verringert hätte, ein Minus von 2.325 Euro (etwa 16%). Schlimm genug, aber Anfang des Schuljahres 2013/14 erzwang der Dienstherr für die rund 1.900 Honorar-Lehrkräfte den Abschluss von noch schlechteren Verträgen: Der Senat und die Bezirke müssten sparen. Kein Einzelfall. Freie Dozenten und Sprachlehrer, die Deutsch- und Integrationskurse für Migranten geben, leben aus ähnlichen Gründen von der Hand in dem Mund, und Schulferien sind für sie praktisch erzwungene Hartz-IV-Lebensabschnitte, wie die Süddeutsche Zeitung 2011 berichtete. Die Zeitung sah darin einen “Ausdruck von Geringschätzung” – mit Segen und Siegel des Staates, könnte man hinzufügen.
Der Willkür anderer völlig ausgeliefert zu sein, ohnmächtig sein. So beschreiben viele Betroffene ihre Gefühle. Die freie Journalistin Gabriele Bärtels beschrieb in einem Artikel der Zeit von 2007 eindrucksvoll ihre Ängste:
Heute ist der Tag, an dem ich nicht mehr aufstehen will, denn ich habe seit einer Woche kein Geld mehr und glaube auch nicht, dass nächste Woche welches kommt (…), obwohl mir die Redakteure die Überweisung schon vor Wochen zusagten. (…) Die Sachbearbeiterin bei meiner Bank kennt mich gut, denn ich gehe dann mit den Rechnungskopien zu ihr und flehe sie an, meine Lastschriften für Telefon und Internet nicht zurückgehen zu lassen, denn hier, bitte, hier ist doch die Rechnung an eine renommierte Zeitung. (…) Meinen Zahnarzttermin nächste Woche werde ich absagen, denn ich habe das Geld für die Praxisgebühr nicht. (…) Es nagt noch mehr an meiner Würde, wenn ich [meine Freunde] am Monatsende händeringend bitten muss, mir zu helfen, die Miete aufzubringen. Eigentlich ist es nicht bitten, sondern betteln.
Dass ein einzelner Mensch der Situation nicht gewachsen sein kann, ist nicht neu, sondern seit der Erfindung des Werkvertrags bekannt. Es scheint neuerdings jedoch als systemirrelevant gelten zu dürfen, wenn die Betroffenen den Umständen und Machtverhältnissen hoffnungslos unterlegen sind – obwohl das Solidaritätsprinzip der (ganzen) Gesellschaft aus guten Gründen im Grundgesetz (Art. 20, Abs. 1) verankert wurde. Eine Neuregulierung oder eine Neuordnung dieser Missverhältnisse scheint auf absehbare Zeit aber nicht auf der politischen Tagesordnung zu sein. Sozialstaatsheuchelei? Mindestens die Frage ist angebracht.
Von oben und unten
Chris’ Rente ist alles andere als sicher. Das beunruhigt ihn zutiefst. Verständlicherweise. Chris ist über diesen Umstand auch verärgert, weil er regelmäßig gearbeitet hat, auch für die öffentlich-rechtlichen Anstalten mit multimilliardenschwerem Jahresbudget. Doch eben nicht direkt, sondern über beauftragte Produktionsfirmen als Freiberufler. Und genau das war sein Pech.
Auf der anderen Seite des Rubikons ist die Rente der ARD-Mitarbeiter nicht nur sicher, sondern vielfach mehr als großzügig bemessen. Die ARD hatte 2014 rund 26.000 und das ZDF etwa 3.600 Mitarbeiter zu entlohnen. Aber die öffentlich rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten haben auch rund 16.000 Ruheständler zu versorgen, die im Durchschnitt eine Betriebsrente von 1.500 Euro kassieren – zusätzlich zur gesetzlichen Altersrente.
Die ARD kann sich für verdiente Mitarbeiter sogar fürstlich-vorsorglich zeigen: Für Ex-WDR-Intendantin Monika Piel hatte sie bis 2012 schon 3,2 Millionen Euro an Pensionsrücklagen gebildet. Keine Ausnahme, die ARD hat auch für andere “Topleute” Millionen in Pensionsbeiträgen zurückgelegt. Für Tom Buhrow, den aktuellen WDR-Intendanten, wurde 2013 eine ähnliche Summe genannt, was laut einer Berechnung der Bild-Zeitung Rentenbezüge in einer Höhe vergleichbar mit seinem derzeitigen Verdienst bedeuten dürfte: etwa 30.000 Euro im Monat.
Zur Erinnerung: Chris bekommt von seinen Arbeitgebern (seien es die öffentlich-rechtlichen oder privaten Sender) keine Rente. Nichts. Gar nichts. Absolut rein gar nichts. Er muss seine Rente aus seinen immer karger werdenden Honorarsätzen finanzieren – weil die Sender, zum Beispiel öffentlich-rechtlichen, sonst den Rotstift anlegen oder Mehrbedarf anmelden müssen, wie es heißt. Das heißt, Chris muss selbst sparen und vorsorgen, wenn er überhaupt kann. Kann er aber nicht – genauso, wie die allermeisten in seiner Situation. Im derzeitigen System wird tatsächlich an ihm gespart, damit andere Ausgaben getätigt werden können. Umverteilung. So füttert er gewissermaßen die Gewinne und Verdienste der im System verbliebenen zu: Das sind die Festangestellten.
Es mutet wie eine Absurdität an: Soziologisch gesehen ist Chris ein Gewinner, der sich aus schwierigsten Verhältnissen mit Fleiß und Verstand hochgearbeitet hat und eine Spitzenleistung in einem sehr anspruchsvollen Tätigkeitsfeld meistert. Gesellschaftlich gesehen ist Chris dagegen ein Multi-Verlierer: Ein Medienkrisenverlierer, ein Systemverlierer, ein Gewinnmaximierungsverlierer. Für ihn persönlich bedeutet es unter dem Strich, dass er wirtschaftlich wieder nach und nach zum Rande der Gesellschaft gedrängt wird – trotz Ausbildung, trotz Erfahrung, trotz Spitzenleistung.
Hinter den Kulissen ist die Medienbranche in vielerlei Hinsicht ein weites Experimentierfeld des zügellosen Kapitalismus geworden: Alte und systemische Fehler werden durch Sparvorgaben wieder eingefangen und vorwiegend von der jüngeren Generation abgetragen, gleichzeitig wird der Gewinndruck des Marktes gnadenlos an das schwächste Glied der Kette weitergereicht: die Freiberufler. Auf Dauer kann das keine Lösung sein, denn es ist ein System, das dem eines Ponzi-Schemas ähnelt, in dem die Gewinne nicht wirklich erwirtschaftet, sondern aus der vorhandenen Substanz herausgezogen werden, solange diese Substanz das hergibt, doch dann, irgendwann, kollabiert das System.
Die mediale Glanzwelt ist in Wahrheit ganz schön unglamourös geworden. Der heutige “Medienmensch” ist oft nur noch ein Kostenfaktor, den es kleinstmöglich zu halten gilt. Die Berlinerin und Jungjournalistin Anneli Botz schrieb sich in einem Blogeintrag 2014 auf Amy & Pink den Frust von der Seele: “Überstunden, Lügen, Arschlöcher: Die Berliner Medienbranche ist eine unterbezahlte Hölle”. Zuerst trug der Artikel allerdings den nüchterneren und genaueren Titel: die “Unfreiheit frei zu sein”.
Irgendwas mit Kultur und Medien: Ausgeträumt.
Rückblende. Winter 2012. Medienleute-unter-sich-Gespräch am Rande der Berlinale. Kiez- und Raucherbar “Rote Beete”, Berlin-Schöneberg. Tief in der Nacht. Der Raum verqualmt von nervös gerauchten Glimmstängeln (selbstgedreht, versteht sich – wegen des Steuersparvorteils). Biergläser werden geleert und erneuert, dann wieder geleert und wieder erneuert. Zwischendurch gibt es schon mal einen Klaren.
Eigentlich könnte es nicht nur eine nette, sondern auch recht lustige, feuchtfröhlich-angenehme Runde sein. Eigentlich. Das heißt, wenn es nicht diesen Hartz-IV-Geier gäbe. Der mit den großen bösen Existenzvernichtungskrallen, der unsichtbar über uns kreist und die Stimmung der anwesenden Künstler und Medienleute sichtlich trübt. Oder, genauer gesagt, in diesem Moment in die Promille treibt. Vorstellungsrunde: “Was machst Du?”, gefolgt von: “Gehst Du nur arbeiten oder schon nebenbei zum Amt aufstocken?” Berechtigte Frage von allen an alle: Brotlose Kunst 2.0.
Alle kommen schnell überein, dass Pressefotografen definitiv nicht zu den Gewinnern des Jahrhunderts gehören. Tatsächlich lag laut einer Studie des Bundeswirtschaftsministeriums von 2013 das Durchschnittseinkommen freier Journalisten und Fotografen an Tageszeitungen bei unter 1.600 Euro im Monat. Gratisbilder gibt es auf Wikipedia zuhauf. Bessere Bilder gibt es auf spezialisierten Online-Diensten für ein paar Euro. Seit Einzug des digitalen Zeitalters in die Welt der Fotoreportage müssen Fotografen außerdem ihre Ausrüstung alle zwei oder drei Jahre erneuern. Aktueller Preis einer Profikamera: um die 6.000 Euro, man braucht zwei davon, die Objektive kosten extra, es kommen dafür schnell 3.000 Euro oder mehr zusammen. Verkaufspreis des Fotos eines brennenden US-Panzers in Bagdad während des Irak-Kriegs von 2003: manchmal nur 10 Dollars – und oft nur für den ersten Anbieter und nur, wenn das Bild sich wirklich von anderen abhebt.
Eine solche Situation hat natürlich eine verheerende Wirkung auf die Berichterstattung, zum Beispiel auf die Qualität der Kriegsberichtserstattung. Die allerwenigsten Journalisten haben noch Zeit und Ressourcen, sich mit einer komplizierten Materie sowohl im Archiv der Bibliotheken als auch im Gespräch mit Experten vertraut zu machen, bevor sie vor Ort die Zusammenhänge untersuchen. Die teuren Vorortrecherchen werden zunehmend eingegrenzt. Sensations-Meldungen ersetzen tiefgründige Analysen. Viele Publikationen entsenden keine Redaktionsmitglieder mehr in die Krisengebiete, sondern lassen Freiberufler für sich vor Ort berichten, dann tragen die Medienhäuser die Kosten nicht, wenn diese Reporter entführt, verletzt, erschossen oder gar zum Krüppel gesprengt werden. Die Bilder werden trotzdem weltweit verbreitet und konsumiert.
Jedes System kann verschlimmbessert werden, wenn man es darauf anlegt. Irgendwann haben die westlichen Agenturen angefangen, sogar die Freiberufler aus dem Westen durch einheimische Bürgerjournalisten zu ersetzen, und zwar überall da, wo es besonders gefährlich ist.
So ein “Bürgerjournalist” war der Syrer Molhem Barakat. Seine Bilder schmückten das Time Magazine, die Süddeutsche Zeitung oder auch die Titelseite der New York Times. Von Reuters, der größten Nachrichtenagentur der Welt, für die er gearbeitet hat, soll er laut Medienberichten 10 Dollar (etwa 7,50 Euro) pro Bild oder 150 Dollar (etwa 115 Euro) pro Arbeitstag bekommen haben. Er starb bei einer Fotoreportage am 20. Dezember 2013 in Aleppo. Er war je nach Quellenangabe gerade 17 oder 18 Jahre alt. Wieviel Gewinn Reuters mit seinen weltweit vermarkten Bildern eingefahren hat, ist nicht bekannt, aber die Rendite wird aberwitzig gewesen sein.
Zurück zur “Roten Beete”. Die Künstler-Runde ärgert sich darüber, dass nicht selten die Leistungen von Journalisten und Kreativen über sogenannte “Buy-Out-Verträge”, also “Ausverkauf-Verträge”, vergütet werden. “Buy-Out-Verträge” bedeuten juristisch gesehen, dass mit der einmaligen Entlohnung alle Rechte des Künstlers abgegolten werden. “Buy-Out-Verträge” bedeuten für die Leistungserbringer im Realleben aber nicht selten reine Abzocke. Die übliche Erfolgsbeteiligung bleibt nämlich aus: verkauft sich das Produkt überdurchschnittlich gut, ist es gut für die Produktionsfirma oder den Verlag, für den Kreativen macht das keinen Unterschied mehr. Berühmtes Beispiel: Der Tatort-Vorspann wurde 1969 für umgerechnet ca. 1.300 Euro als “Buy-Out-Vertrag” vom BR und WDR gekauft und seitdem unverändert in über 800 Folgen unzählige Male ausgestrahlt. Zur Einordnung: Eine klassische Tatort-Folge für das Fernsehen kostet im Durchschnitt 1,4 Millionen Euro (2015), davon werden zwischen 43 und 48 pro Jahr produziert, ein Kino-Tatort kostet sogar 8 Millionen.
Weniger geht immer
Wer in diesen Tagen als Journalist seine Brötchen verdienen will, hat es also nicht einfach. Besonders der Nachwuchs kann ein Lied davon singen. Das Volontariat ist oft die erste bezahlte Stelle des angehenden Journalisten. Die taz – zum Beispiel – suchte Ende 2013 eine(n) VolontärIn im Rahmen eines 16-monatigen Vertrages. “Zu den täglichen Aufgaben gehörte neben der Produktion von Tickern und Print-Inhalten, (…) das Schreiben von eigenen Texten, Redigieren, Themen akquirieren, Bildergalerien erstellen und das Arbeiten im Schichtdienst (inkl. Früh-, Spät, Sams- und Sonntagsdienste)”. Dafür war die Tageszeitung bereit, 903,15 Euro brutto im Monat zu überweisen, “das entspricht netto ungefähr dem Bafög-Höchstsatz”, stand im Inserat. 670,00 Euro monatlich also.
Auf Facebook löste die Bekanntgabe dieser Stellenausschreibung einen Shitstorm aus. Kurz darauf kam eine Klarstellung der Chefredaktion:
Die taz zahlt etwa ein Drittel weniger als der Tarif für ZeitungsredakteurInnen beträgt. Dennoch zahlt die taz ihren MitarbeiterInnen (außer VolontärInnen) etwa das Doppelte des geplanten Mindestlohns von 8,50 Euro brutto pro Stunde.
Alles keine böse Absicht, betonte die taz-Redaktion, aber die Zeitung sei sonst leider nicht zu machen. Die Volontäre sind bei der taz übrigens nicht die einzigen, die dran glauben mussten. 2010 kürzte die taz die Honorare der Auslandskorrespondenten (lange Zeit das Aushängeschild des Hauses) um 15 bis 30%. “(…) Dennoch [arbeiten] die meisten sehr gerne für die taz, weil das kleinere Geld durch größere Möglichkeiten, Freiheiten und ein einzigartiges Umfeld durchaus aufgewogen wird” meinte die Chefredaktion dazu. Dürfte stimmen.
Das einzige klitzekleine Problemchen ist, dass sich die Lebenserhaltungskosten erhöhen, während die Löhne tendenziell sinken. Die Berliner Schrippe beispielsweise ist in den letzten Jahren nicht billiger geworden, ganz im Gegenteil: Zwischen 2000 und 2015 stiegen die Verbraucherpreise für frische Brötchen Jahr für Jahr kumuliert um fast 45%. Die Wohnverhältnisse sind auch nicht günstiger geworden: Die Berliner Mieten sind zwischen 2007 und 2015 im Durchschnitt um 47,6%, die Kaufpreise gar um 67,6% gestiegen.
Noch mal zur Einordnung der glorreichen Vergütungshöhe der taz-Volontäre in Höhe von 903,15 Euro brutto: Beim NDR betragen die monatliche Gehälter festangestellter Redakteure zwischen 3.800 und 9.700 Euro, Kameraleute verdienen zwischen 3.200 und 6.600 Euro und eine Sekretärin nimmt zwischen 2.600 und 5.000 Euro mit nach Hause. Ein Volontariat wird beim NDR mit 1.500 bis 1.800 Euro vergütet. In der Privatwirtschaft entlohnen tarifgebundene Verlage ihre Volontäre ähnlich den öffentlich-rechtlichen Anstalten: zwischen 1.300 und 1.900 Euro (brutto) monatlich, wobei es auch Abweichungen nach unten geben kann, wenn die Verlage sich dem Tarif entziehen.
Die taz ist keine kapitalistische Heuschrecke – nicht mal ansatzweise – sondern eine Genossenschaft, die 2012 laut dem Hamburger Abendblatt einen Verlust von 616.000 Euro einfuhr. Die taz kämpfte gewissermaßen um ihre Marktanteile und um ihr Überleben, so die Botschaft der Chefredaktion, deshalb gäbe es kein besseres Gehalt für die Volontäre.
Dennoch wird die taz einen neuen repräsentativen Bürokomplex zum Preis von 19,9 Millionen Euro ihr eigen nennen können, wovon 6,3 Millionen von der taz-Genossenschaft aus vorhandenen Reserven, der Bindung von Neumitgliedern und aus Aufstockungen erbracht werden. Hinzu kommen ein Darlehen bei der Bank und – besonders pikant –, Fördermittel des Landes Berlin in Höhe von knapp 3,8 Millionen Euro.
Wir stellen fest: einerseits behauptet die taz den kärglichen Lohn der geplanten Volontariatsstelle für das Jahr 2014 aus Geldnot nicht zu tariflichen Konditionen erbringen zu können, um nicht den Untergang zu riskieren, anderseits kann sie praktisch zeitgleich den Erwerb eines Grundstücks und Bauplanungen in Höhe von drei Millionen Euro aus der Portokasse bewerkstelligen, ungeachtet einer zusätzlich im Juni 2014 bewilligten staatlichen Zuwendung. Dass die taz ihre Volontäre für einen Armutslohn von 903,15 Euro brutto abspeist, ist wohl keine Frage des Geldes, sondern viel mehr eine Frage der Einstellung – und des mangelnden Respekts für die menschliche Leistung.
Das Problem hinter dem Problem der grottenschlechten Bezahlung in den Medien ist, dass diese Zustände für die demokratische und pluralistische Meinungsbildung nicht gerade förderlich sind, denn nur diejenigen, die sich ein mehrjähriges Studium, Auslandsaufenthalte, dazu unzählige unbezahlte Praktika und – als Sahnehäubchen oben drauf – ein unterbezahltes Volontariat leisten können, dürfen auf eine feste Stelle zum Beispiel bei der taz hoffen. Im Ergebnis rekrutieren sich die Redaktionen einheitlich aus der gehobenen Mitte der Gesellschaft: “Weiß, akademisch, bürgerlich”. Arbeiterkinder oder Bürger mit Migrationshintergrund sucht man in der Regel vergeblich.
In anderen Verlagen geht es noch ruppiger zu als bei der taz. Im Juli 2013 wurde der Bonner General-Anzeiger vom Kölner Landgericht zu einer Nachzahlung von insgesamt 50.000 Euro an zwei Journalisten verdonnert, weil über Jahre hinweg Dumping-Honorare ausgezahlt wurden, so die Überzeugung der Richter. Kein Einzelfall. Im September 2013 verurteilte das Landgericht Mannheim die Pforzheimer Zeitung dazu, einem freien Journalisten circa 47.000 Euro Honorar zuzüglich Zinsen nachträglich zu zahlen – ebenfalls wegen Dumping-Honorars. Viele Arbeitgeber bleiben dennoch weiterhin unbeeindruckt von den Richtersprüchen.
Mit dem Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes zum 1. Januar 2015 wurden sicherlich die schlimmsten Auswüchse der weitverbreiteten Ausbeutung am Arbeitsmarkt eingedämmt. Auch im Falle der von dem Zeit-Autor Matthias Stolz 2005 eindrucksvoll beschriebenen “Generation Praktikum” dürfte der Mindestlohn eine spürbare Besserung bedeutet haben. Die Langzeit- und Dauerpraktika von Hochschulabsolventen für 2,95 Euro die Stunde im Durchschnitt dürften seitdem der Vergangenheit angehören. Es heißt aber nicht, dass systemische Ausbeutung im Journalismus nicht mehr zum Alltag ist.
Mitte 2015 kam es beim DuMont-Verlag in Köln zu Razzien des Zolls im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen, zeitgleich wählte den Axel-Springer-Verlag den Weg einer Selbstanzeige, um einen Besuch der Behörde zuvorzukommen. Der Zoll störte sich daran, dass sogenannte Pauschalisten oder Feste Freie zu unlauteren Konditionen beschäftigt wurden. Unzählige namhafte Redaktionen wurden bundesweit betroffen.
Die taz beschrieb die Missstände pointiert in dem Artikel “Die Leiharbeiter des Journalismus”:
Indem die Verlage sie als freie Mitarbeiter beschäftigen, sparen sie Buchhaltungsaufwand und eine Menge Geld: Bei einem Bruttogehalt von 3.000 Euro monatlich pro Redakteur sind das etwa 580 Euro an Sozialabgaben. Aufs Jahr gerechnet spart das Unternehmen so fast 7.000 Euro für jeden scheinselbstständigen Mitarbeiter. Darüber hinaus umgehen die Verlage den Arbeitnehmerschutz: Urlaubs- und Krankengeld sind nicht vertraglich geregelt, Kündigungsfristen oft ebenso wenig. (…) Das System funktioniert, weil die Künstlersozialkasse (KSK) einspringt. (…) Es geht bei dem rechtswidrigen Pauschalistenmodell also nicht nur um Knebelverträge für Mitarbeiter, es geht vor allem um groß angelegten Sozialbetrug. (…) Zählt man ausschließlich die Mitarbeiter der Online-Redaktion, liegt der Anteil der Pauschalisten bei Sueddeutsche.de bei fast 50 Prozent.
Dass dieses brancheweit bekannte und offenkundig illegale System seit vielen Jahren funktionieren kann, erklärt sich durch eine branchenweite Omerta, wie die taz berichtet: „Eine ehemalige Pauschalistin von SpiegelOnline erzählt, dass selbst dann niemand gewagt hatte zu klagen, als der Verlag vor anderthalb Jahren alle rauswarf, die länger als zwei Jahre beschäftigt waren. ‘Keiner legt sich mit dem Spiegel-Verlag an. Das spricht sich rum in Hamburg. Da kannst du gleich einpacken’, sagt sie.” Die Gewerkschaften drücken bei den Missständen beide Augen zu, vermutlich in der Hoffnung, die Tarifverhandlungen mit den Arbeitgebern zugunsten der Festangestellten – ihre Hauptbeitragszahler – nicht zu erschweren.
Unschlagbar billig ist im Sinne des Käufers aber immer noch wesentlich teurer als kostenlos. Die Huffington Post (in Deutschland zuerst von Tomorrow Focus, einer Tochter vom Burda-Verlag vertrieben, dann von Burda selbst) glaubt deshalb, sich Inhalte ganz ohne Gegenwert einverleiben zu können und instruiert entsprechend ihre Autoren: “Sie bestätigen, dass Sie kein Recht auf Vergütung, Entlohnung oder andere Vorteile in Bezug auf die von Ihnen veröffentlichten Inhalte haben und dies auch nicht erwarten”, werden sie belehrt.
Oliver Eckert, der Geschäftsführer der Tomorrow Focus Media, vertrat 2013 die Meinung, dass die HuffPo die deutsche Medienlandschaft bereichern würde. Wobei die finanzielle “Bereicherung” vermutlich ausschließlich der Tomorrow Focus Media bzw. Burda zu Gute käme. Das Nachsehen in der deutschen Medienlandschaft dürfte sonst ziemlich jede andere Publikation haben, die ihre Journalisten entlohnt – und letztendlich alle Journalisten, die versuchen von ihrer Arbeit zu leben. Die Tomorrow Focus Media (678 Mitarbeiter) ist dabei kein Unternehmen am Rande des Konkurs,der Gewinn (EBIT) lag 2012 bei stolzen 20 Millionen Euro.
Der Umsatz der Hubert Burda Media (9.240 Mitarbeiter) lag im gleichen Zeitraum (2012) bei drei Milliarden Euro, seit 2008 stieg der Umsatz von Burda um 40 Prozent. Der Gewinn wird zwar nicht bekannt gegeben, dürfte aber laut Experten im bequemen dreistelligen Millionenbereich liegen. Es gäbe also reichlich Geld, um die Autoren der HuffPo zu honorieren. Will man zugunsten der Gewinnmaximierung aber nicht.
Diese Zustände werden von der mittlerweile etablierten und akzeptierten Arroganz der Märkte bzw. der Märkte-Macher einfach diktiert und politisch wenig infrage gestellt.
Von wegen Krisen
Schuld für die Misere sei die generell schlechte wirtschaftliche Verfassung der Medienunternehmen, hört man zuhauf. Wegen der Konkurrenz des Internets sind die traumhaften Renditen und Gewinne der Zeitungsverlage tatsächlich geschmolzen. Die FAZ zum Beispiel nahm im Jahr 2000 noch 235 Millionen Euro mit Stellenanzeigen ein, 2013 waren es nur noch 15 Millionen, darüber hinaus sanken Auflage, Umsatz und Gewinne. Den meisten anderen Traditionsblättern erging es ähnlich. Dennoch jammern die Verlage immer noch auf hohem Niveau: 2012 schrieb die FAZ zwar einen Verlust von 4,3 Millionen, aber Immobilienbesitz (ca. 100 Millionen) und Gewinnrücklagen (119 Millionen in 2011) sicherten die Existenz der Zeitung. Der Verlust ist auch relativ, denn schon für den Unterhalt der fünf Herausgeber muss die FAZ 2,5 Millionen im Jahr bereitstellen. Der Geschäftsführer der FAZ GmbH hat Anspruch auf 600.000 Euro Jahresgehalt, eine ähnliche Summe, ca. 500.000 Euro, wird für den “Chefredakteur Digitale Medien” genannt. Viele Traditionsverlage erwirtschaften mittlerweile erhebliche Gewinne mit ihren Online-Ablegern, denn das Leseverhalten der Nutzer ändert sich: 2015 gewann der Spiegel beispielsweise fast weitere 1,7 Millionen Internetnutzer, um auf fast 19 Millionen zu kommen.
Eine Banner-Werbung auf Spiegel-Online ist entsprechend teuer und lag schon 2014 bei mindestens 4.000 Euro. Eine sogenannte “Fireplace Ad” auf der Homepage des Spiegels schlägt sogar mit 102.000 Euro pro Tag zu Buche (2016). Zum Vergleich kostet eine Seite Werbung im gedruckten Spiegel “nur” 65.000 Euro und erreicht ca. 5,90 Millionen Leser bei einer Auflage von ca. 800.000 Exemplaren. 2012 hatten Online-Portale das erste Mal mehr als eine Milliarde Euro mit Werbung verdient, Tendenz weiterhin steigend, denn die publizistische und verlegerische Tätigkeit – und somit der Werbemarkt – verlagern sich zunehmend.
Zwar gibt es in einigen Verlagen Stellenabbau im großen Stil, wie bei der FAZ oder dem Spiegel, aber der Medienökonom Frank Lobigs von der TU Dortmund sieht den Qualitätsjournalismus nicht in der Krise, sondern eher eine Marktanpassungsphase: die Zeit zum Beispiel hatte 2012 eine zweistellige “Rekordrendite” erwirtschaftet, auch Regionalzeitungen ginge es laut Lobigs teilweise sehr gut. So hatte die Braunschweiger Zeitung im gleichen Zeitraum eine Rendite um die 20% einfahren können. Zum Vergleich lag die Rendite von Volkswagen im Jahr 2012 bei 6% und von Toyota bei 4,8%. Der Jenaer Medienökonom Wolfgang Seufert fand in einer Untersuchung heraus, dass trotz der tatsächlich großen Umsatz- und Gewinnrückgänge und den noch nicht vollständig kompensierten Verlusten im Anzeige-Geschäft die Rentabilität vieler Medienunternehmen gut verteidigt werden konnte. V&W zitiert ihn so:
Die Gründe hierfür würden in einem im Vergleich zur Gesamtwirtschaft unterdurchschnittlichen Anstieg der Lohnkosten und in einer gleichzeitig steigenden Pro-Kopf-Produktivität aufgrund des umfangreichen Stellenabbaus liegen. (…) So ist es die Personalpolitik, die bei den Verlagen die Rendite pusht.”
Eine weitere Relativierung: Tatsache ist, dass es auch den TV-Sparten der großen Medienunternehmen gar nicht so schlecht geht. Ganz im Gegenteil. “Die ProSiebenSat.1 Group hat das Geschäftsjahr 2013 mit neuen Rekordwerten abgeschlossen: Der Konzernumsatz stieg um 10,6 Prozent auf 2,6 Milliarden Euro. (…) Der bereinigte Jahresüberschuss erhöhte sich um 6,8 Prozent auf 379,7 Millionen Euro”, gab das Unternehmen vor drei Jahren bekannt. 2014 betrug der Umsatz 2,8 Milliarden. Weitere Steigerung. 2015 betrug der Umsatz 3,2 Milliarden und der bereinigte Konzernüberschuss wuchs auf 467,5 Millionen Euro. Weitere Besserung. 2016 wurde damit der Aufstieg in den DAX möglich: Lag die ProSiebenSat.1-Aktie beim Allzeittief von Mai 2009 noch bei 0,88 Cents, wurde die Aktie im letzten Quartal 2015 und im Ersten Quartal 2016 zwischen 40 und 50 Euro gehandelt: ein Plus von etwa 5.000 Prozent im Zeitraumsdurchschnitt.
Diese guten Zahlen rechtfertigen die Ausschüttung von satten Dividenden an die Aktionäre oder auch die Überweisung – laut Medienberichten – von 1,2 Millionen Euro an Dieter Bohlen pro Staffel DSDS.
Der ARD, dem ZDF und dem Deutschlandradio geht es sogar “überblendend” mit einem spürbaren Budgetzuwachs trotz Krise. Grund: Es reicht zu fragen (ein bisschen, wie beim Kindertaschengeld). Die KEF entschied. 2013 kamen somit 7,5 Milliarden Euro als Jahresbudget zusammen. Eine ganze Milliarde mehr als im Vorjahr. 2014 betrugen die Einnahmen des Rundfunkbeitrags sogar 8,3 Milliarden Euro. Zwar dürfen die Überschüsse zunächst nicht ausgegeben werden, aber schon mit den vorhandenen Mitteln können unter anderem besagte Betriebsrenten sowie üppige Gehälter und Honorare für sogenannte “Spitzenleute” locker gezahlt werden.
Ungeachtet eines Skandals Mitte 2015 um die Zahlung einer Millionengage durch die ARD, obwohl seine Show abgesetzt wurde, soll Thomas Gottschalk seinerzeit 100.000 Euro pro Folge von “Wetten, daß…” verdient haben. Günther Jauch spielt in der selben Liga mit Zusatzzahl: Eine Sendeminute vom “Sonntagabend-Plauderer” schlug seinerzeit in der ARD-Buchführung mit 4.600 Euro zu Buche, das ist genau das Doppelte von Frank Plasbergs Sendung “hart aber fair” und das Vierfache von Sandra Maischbergers Plauderstünden. Die Vorzüge eines gewissen Ruhms.
Jauch zeigte sich im Umgang mit seinen privaten und öffentlich-rechtlichen Gagen auf alle Fälle großzügig. So spendete der Moderator Anfang 2014 von seinem Ersparten eine Million Euro für die Sanierung der Neptungrotte im Potsdamer Schloss Sanssouci. Eine sehr ehrbare Geste, die sein Engagement für die Stadt noch einmal unterstrich, denn Jauch hatte schon drei Millionen Euro zum Wiederaufbau des Fortuna-Portals beigesteuert. Zur Ehrung dieses Engagement baut die Stadt Potsdam ihm dankenderweise ein Denkmal.
Großzügig sind die öffentlich-rechtlichen Anstalten auch mit ihren Intendanten. Selbst Monika Piel, laut dem Handelsblatt bis 2012 als „ARD-Vorsitzende weitgehend erfolglos“, verdiente in ihrer Funktion mehr als Bundeskanzlerin Angela Merkel, denn „die Rheinländerin durfte sich neben ihren jährlichen Bezügen von 341.500 Euro noch 58.922 Euro an Nebenverdiensten in die Tasche stopfen,” schrieb das Handelsblatt. Das heißt aber nicht, dass die WDR-Chefin die bestbezahlte Person im ARD-Verbund ist. Die gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Medienanstalten können sich in Einzelfällen noch großzügiger zeigen. ARD-Fernsehlotterie-Moderatorin Monica Lierhaus soll sich eine Zeit lang auf einen “Platz an der Sonne” samt 450.000-Euro-Vertrag (laut bis heute nicht dementierten Angaben des Nachrichtenmagazins Der Spiegel) erfreut haben. 450.000 Euro, das ist ungefähr das Doppelte des Grundgehalts der Bundeskanzlerin. Moral der Geschichte: Verdienst für Fernsehlotterie schlägt Verdienst für Land und Leute. Ein fragwürdiger Gesellschaftsentwurf.
Überdenken
Fazit: Die Kultur- und Medienbranche ist hinter den Kulissen ein ausgedehntes Experimentierfeld des zügellosen Kapitalismus geworden: Ungleiche Absicherungssysteme (sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse versus freiberufliche Werkarbeit) werden gegeneinander ausgespielt, um wirtschaftliche Spielräume gewinnbringend auszuloten und auszunutzen. Der Gewinndruck eines Marktes mit einem Überschuss an Arbeitskraft wird gnadenlos an das schwächste Glied der Kette weitergereicht, an die Personengruppe, die als weitgehend wegrationalisierbarer Kostenfaktor gesehen wird. Diese soll möglichst losgelöst von den kostspieligen Absicherungssystemen des Sozialstaats ihre Leistung erbringen.
Anlässlich des jährlichen Armutsberichts des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes wird klar, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet. Vergleichbare Verhältnisse sind in der Medienbranche gebündelt zu beobachten: Während an der Basis der Pyramide Verdienste und soziale Absicherung zusehends – teils brutal – erodieren, scheint es an der Spitze – sei es bei Firmen oder Privatpersonen – kaum noch Anstand oder Grenzen zu geben.
Sparvorgaben, Arbeitspräkarisierung und -verdichtung wird auf Dauer aber nicht dazu beitragen können, den Qualitätsjournalismus und die Zufriedenheit der Kunden zu sichern. Vielmehr wird eine Umstrukturierung des Marktes – welche schon angefangen hat – weiter voranschreiten müssen. Eine solche Umstrukturierung sollte auch als Chance verstanden werden, dank der neuen Technologien und Möglichkeiten ein Produkt zu verkaufen. Stattdessen wird vielfach ein Medien-Präkariat etabliert, um eine absurd hohe, von der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wirklichkeit völlig abgekoppelte Rendite zu erzwingen.
Damit Pluralität und hohe Qualität der Information garantiert werden können – ein hohes Gut in einer Demokratie – sind Gesetzgeber und Konsumenten gefragt. Der Gesetzgeber ist in der Pflicht dafür zu sorgen, dass die Umstrukturierung der medialen Arbeitswelt von vorausschauenden Gesetzen und Vorschriften begleitet wird, um beispielsweise dem breitangelegten Lohndumping einen Riegel vorzuschieben. Der Konsument ist aber auch gefragt, denn gute Medien, eine gut recherchierte, zuverlässige und vertrauenswürdige Berichterstattung kann es nicht kostenlos geben – genau wie es beim Bäcker keine Schrippe zum Nulltarif gibt.
Der Artikel ist eine überarbeitete, teilweise gekürzte und ergänzte Version des Buchbeitrags “Brotlose Kunst: Arm trotz Arbeit und Ausbildung” von Laurent Joachim in “Die Lastenträger”, Günter Wallraff (Hg.), Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2014, 304 Seiten. Der Text erscheint hier dank freundlicher Genehmigung Günter Wallraffs, des Mitherausgebers Work-Watch.de und des Verlages Kiepenheuer & Witsch.
Das Video-Interview mit dem Kameramann Chris Westermann kann hier abgerufen werden. Der Original-Text des Beitrags “Brotlose Kunst: Arm trotz Arbeit und Ausbildung”, der auch die Situation der Schauspieler und Musiklehrer thematisiert, kann als Hörbuchversion hier abgerufen werden.
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