von Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach, 2.10.13
Was ich mich immer noch frage, ist, wie es eigentlich passieren konnte, dass die politischen Gegnerinnen die Geschichte erzählen konnten (und ihnen das jemand aus gutem Grund glaubte), dass die Grünen die Dagegen-Partei seien und immer mehr Verbote und Gesetze fordern. Lange habe ich das nicht ernst genommen, denn ich fand es absurd. Es entsprach so gar nicht meinem Erleben von Grün.
Obwohl ich in einem grünen Milieu aufgewachsen bin, habe ich die Grünen zuerst aus der Entfernung betrachtet. Denn ich war als Marxist in die SPD eingetreten. Während wir über die Verstaatlichung der Banken sprachen, haben die Grünen gefeiert und Sonnenblumen in den Bundestag getragen. Wir wollten die Welt mit Gewalt und Gesetzen verändern. Die Grünen mit Lebensfreude und einem anderen Leben. Theologisch gesprochen, standen sie immer für die Fülle des Lebens, für ein neues Leben im alten.
Dann kam Bündnis 90 dazu. Ganz anders sozialisiert. Mit nur einer Klammer, die beide Gruppen hatten: ihren jeweiligen Kirchenflügel. Fast alle meine Freundinnen aus der kirchlichen Friedens- und Eine-Welt-Bewegung waren Grüne. Oder wählten sie und ihre Vorläufer seit Ende der 70er. Und das Bündnis 90 brachte ein weiteres Erbe mit in die gesamtdeutsche Partei ein: den unbedingten Wunsch nach Freiheit. Die große Skepsis gegenüber allen, die uns vorschreiben wollen, wie wir leben sollen.
Das zog mich an. Das ließ mich Grün wählen, als ich noch in der SPD war. So ging es vielen Weggefährtinnen damals, bis heute kenne ich Leute, die sogar Funktionen in Kreisverbänden der SPD haben, die häufiger grün als rot wählen. Als niemand von den Linken in der SPD gegen Schröder um den Bundesvorsitz der Partei kandidierte, bin ich zum zweiten Mal ausgetreten. Und nach dem Himmelfahrtsparteitag und dem Jugoslawienbeschluss bei den Grünen eingetreten. Obwohl ich gegen diesen Beschluss war. Weil ich die BDK im Fernsehen verfolgte und beeindruckt war von Niveau und Ernst der Diskussion. Von der Freiheit, die diese Partei atmete.
Nur – was ist dann passiert? Und warum haben wir es nicht gemerkt? Wie konnte aus einer Partei der Lebensfreude, des Feierns, des Strickens, einer Partei, zu deren Veranstaltungen Eltern ihre Kinder mitbrachten, auf denen sie Tipps für gutes Leben austauschten – wie konnte aus so einer Partei eine werden, die hinter einem sauertöpfischen, ungeduldigen Intellektuellen herlief und es duldete, dass er die Steuerpolitik in den Mittelpunkt des Wahlkampfes stellte?
Oder anders gesagt: Der Unterschied zwischen Robert Habeck und Jürgen Trittin ist ja schon deutlich, oder? Hier in Hamburg zwischen Anna Gallina und Katja Husen einerseits, und Christa Goetsch andererseits. Im zurückgetretenen Bundesvorstand zwischen Malte Spitz und Cem Özdemir.
Mir geht es nicht um Personen, aber Personen machen den Narrativ, die Geschichte, die wir und andere erzählen (können). Die Grünen standen in den Zeiten, in denen sie junge Leute erreichten und sehr weit ins sogenannte bürgerliche Milieu ausstrahlten, eher für ein Lebensgefühl als für eine konkrete Politik. Das ging, solange sie keine Politik gestalten mussten oder durften. Und führte die Generation vor meiner in die realpolitische Sackgasse, aus der herauszufinden sie nicht die Kraft oder Weitsicht hatte. Und das unabhängig von dem, was früher einmal die Flügel waren.
(Kleine Randnotiz: Darum ist auch die Flügeldebatte nach der Wahlniederlage so absurd. Außer dem ehemaligen „Realoflügel“ der Grünen würde wohl niemand ernsthaft auf die Idee kommen, Trittin als „Linken“ zu bezeichnen.)
Genug Rückblick. Wie kann es weitergehen?
Die Grünen sind in einer einmaligen Situation. Wir haben erkannt, dass tatsächlich irre viel schief gelaufen ist. Wir haben bei einem Teil der Generation, die uns in die Regierungsverantwortung in den Ländern und im Bund geführt hat, die Einsicht, dass der Neuaufbau und die neue Erzählung andere als sie braucht. Sie haben unser Land zum Besseren verändert. Sie haben ihre Mission erfüllt, und sie werden mir immer in Erinnerung bleiben als die, die das gesellschaftliche Klima und vieles an realer, politisch gestalteter Lebenswirklichkeit geschaffen haben, was heute besser ist als in den 80er Jahren. Dafür sage ich Danke. Und meine das auch so.
Und wir sind in der einmaligen Situation, dass sich die Partei, die mit uns am schärfsten um gut situierte Menschen mit Lebensfreude konkurrierte, über die letzten zehn Jahre so demontiert hat, dass selbst ein sympathischer und brillanter Intellektueller wie Christian Lindner sie nicht so schnell wird wiederbeleben können.
Erinnert ihr euch noch, dass für die meisten von uns seit etwa 2000 die FDP der eigentliche „Gegner“ war? Und das stimmte ja auch. Anders als unsere Mitglieder, kamen sehr viele unserer Wählerinnen aus den Milieus und Schichten, die in den 70ern FDP gewählt hätten und hatten. Und es ist auch kein Zufall, dass wir besonders stark wurden in dem Bundesland, in dem die FDP ihre besten Wurzeln hat. Baden war seit Mitte des 19. Jahrhunderts die deutsche Hochburg des weltoffenen, bürgerlichen Liberalismus. Und nicht umsonst wurde der liberale Aufbruch in Freiburg beschlossen.
Menschen mit Lebensfreude haben sich lange zwischen uns und der FDP entschieden. Während die FDP mehr und mehr die Hedonistinnen anzog, waren wir für Menschen attraktiv, die Lebensfreude damit verbanden, ein gutes Leben auch für andere zu wollen. Der Unterschied zwischen Egoismus und Freiheit. Zwischen der angelsächsischen (heute oft als neoliberal bezeichneten) „Freiheit von“ und der deutschen „Freiheit zu“. Zwischen Utilitarimus und Werteethik.
Ob Grüne links sind oder zum „linken Lager“ gehören – wohin uns alle Spitzenleute und alle BDK-Delegierten für den Wahlkampf geführt haben –, war eigentlich nie wichtig. Wenn Freiheit und Lebensfreude mit Verantwortungsübernahme links sind, dann sind wir links, ja. Aber wenn autoritäre Beglückungsphantasien oder eine Politik des Mitleids links sind, wie Jakob Augstein jüngst in der „Zeit“ links definiert hat, dann sind wir nicht links.
Aufbruch wagen
Ironischerweise verkörpert ausgerechnet Claudia Roth, die als Erste Verantwortung für die Niederlage übernahm und Konsequenzen zog, obwohl sie mit Abstand am wenigsten damit zu tun hatte, in der Generation, die jetzt in die zweite Reihe treten wird, den Aufbruch und das Lebensgefühl noch am besten. Mit ihrer Biografie, mit ihrer – äh – kontroversen Wahrnehmung im Land, mit ihrem Lachen und ihrem unbändigen Freiheitswunsch.
Aus der realpolitischen (links wie nichtlinks) Sackgasse kann uns aus meiner Sicht vor allem führen, dass wir uns auf zwei Kernbereiche besinnen, auf eine Haltung und auf eine Zuversicht:
- Umwelt und Zukunft der Kohlenstoffwelt
Da kommen wir her, das ist das Kernthema und der Grund unseres Engagements. Das ist die Basis unserer Lebensfreude und unserer Sorge für morgen. Dabei geht es weniger um das EEG oder die Mineralölsteuer, sondern um ein besseres Leben. Vegetarische Rezepte vor Veggieday. - Freiheit und Bürgerinnenrechte
Die FDP hat ihr bürgerrechtliches Erbe verschleudert. Wir haben es nicht aufgehoben, weil es vielen der letzten Generation so fremd war. Freiheit und Bürgerinnenrechte sind für meine Generation und die meiner jugendlichen Kinder das, was für euch der Umweltschutz war. So wie der saure Regen und die Atomkraftwerke eure Lebenswelt zu zerstören drohten (und so, wie ihr auszogt, eure Lebenswelt zu retten), so bedroht die Totalisierung von Sicherheit unsere Lebenswelt. Bürgerinnenrechte sind der Umweltschutz für unseren Heimat- und Lebensraum.
An diesen beiden Kernbereichen muss sich alles messen lassen, was wir fordern und wollen und beschließen. Mehr Freiheit. Und mehr Zukunft auf diesem Planeten. Klingt trivial? Mag sein – aber kann ein neues Verbotsgesetz, ein Führerschein für Haustiere oder eine Steuererhöhung für 80% unserer Wählerinnen sich wirklich auf diese beiden Punkte zurückführen lassen, ohne in der Sackgasse zu landen?
Eine Haltung
Ja, ich weiß, mein Lieblingsthema. Aber wichtiger als alles andere ist es aus meiner Sicht, dass wir aus einer gemeinsamen Haltung heraus Politik machen. Sozialromantikerinnen und Ökoterroristen (wie es ein Freund und grüner Lokalpolitiker neulich formulierte) können wir aushalten – wenn sie sich mit uns auf eine gemeinsame Haltung einigen.
Aus meiner Sicht muss das eine Haltung des Optimismus in Bezug auf Menschen sein. Grüne Politik wird sich von einer Politik der Linken (und auch der SPD und der CDU) immer mindestens daran unterscheiden, dass wir kein autoritäres Politikverständnis haben. Also unsere Ziele nicht mit Gesetzen durchsetzen wollen – sondern überzeugen. Etwas holzschnittartig formuliert.
Ja, wir werden auch Gesetze machen (wollen und müssen). Aber die erste Frage, die Faustregel muss sein: Geht es ohne ein Gesetz? Welches Gesetz können wir abschaffen? Was bringt mehr Freiheit?
Ich kann nachvollziehen, wie das Image der Verbots- und Regelwut entstand: aus Ungeduld. Weil eine Generation ihre letzte Chance sah, jetzt noch mal schnell durchzusetzen, was sie als richtig empfand. Nur, das wollen die Leute nicht. Vielleicht ist das eine gute Faustregel für künftige Führungswechsel bei uns – sobald jemand ungeduldig wird, ist es Zeit, den Platz frei zu machen für jemanden, die noch einen langen Atem hat. Ihr habt es ja selbst vorgemacht mit der Atomkraft.
Und damit sind wir bei der Zuversicht
Wir sind, und das unterscheidet uns von der klassischen Linken, nicht verzagt und nicht verzweifelt. Ja, der Zustand der Freiheit und auch der Zustand des Planeten sind zum Verzweifeln, wenn wir es genau ansehen. Aber wenn wir das als Haltung kultivieren, erreichen wir die Emos. Und nur die. Wir sollten schon der Tatsache ins Auge sehen, dass es unseren Wählerinnen gut geht. Dass sie optimistisch sind. Dass ihnen aber nicht egal ist, wie es anderen, wie es der Freiheit, wie es dem Planeten geht.
Das unterscheidet sie von denen, die CDU oder links wählen. Mit Jammern und Dagegensein erreichen wir die nicht. Mit Zuversicht und Optimismus schon. Vor allem mit dem Optimismus, dass Menschen nicht doof sind. Was wir in dem, wie wir Politik formulieren, noch allzu oft unterstellen. Oder es zumindest so aussehen lassen, als dächten wir es.
Vielleicht bin ich blauäugig, weil es mir gut geht und ich optimistisch bin. Aber wenn ich mich umgucke, sind fast alle, denen ich begegne – und die bereit sind zu wählen und dann auch uns zu wählen – auch so. Optimismus und Freiheit führen zu einem Politikansatz der Ermächtigung und der Teilhabe. Und nicht zu einem des Paternalismus und des Mitleids. Denn Mitleid ist immer peinlich. Und das Gegenteil von Solidarität (die auch immer asymmetrisch ist, aber das ist eine andere Geschichte).
Crosspost von Haltungsturnen