von Hans-Jürgen Arlt, 7.1.15
Obwohl sie gewiss nicht frei von Sünden sind, scheint es mir richtig, die Medien zu verteidigen gegen „patriotische Europäer“, welche die „Lügenpresse“ als einen Sündenbock ausgemacht haben. Obwohl bestimmt viele sture Böcke unter ihnen sind, tut den Montagsdemonstranten möglicherweise die selbstzufriedene Verachtung unrecht, mit der das politische Establishment sie abstraft. Obwohl sie wenig mehr im Blick haben als ihre Machtspiele, haben es die verantwortlichen Politiker nicht wirklich verdient, wie sie von Pegida angefeindet und in Medien herabgewürdigt werden. Halten wir uns nicht mehr aus? Fühlen sich die einen Leute nur noch von anderen Leuten umringt, für die sie keinen Respekt, keine Wertschätzung und schon gar keine Zuneigung aufzubringen vermögen? Und die anderen von den einen?
Auffallen muss, dass dieselben Medien, die von „Patrioten“ als „Lügenpresse“ beschimpft werden, zugleich von manchen linken Kritikern (mit nicht so schlechten Argumenten) als „Brandstifter“ ausgemacht werden, die Ausländer- und Islamfeindlichkeit befördern und die Pegida-Proteste so mit auslösen. Die Bundeskanzlerin erkennt Vorurteile, Kälte, Hass unter den Dresdner Demonstranten, die ihrerseits in politischen Ämtern nur „Volksverräter“ sitzen sehen. In den Medien wiederum werden Politiker gerne mit der langen Nasen des Lügners als Wahlbetrüger dargestellt und als Raffkes, die sowieso nur an Karriere und Geld denken. Die Spirale wechselseitiger Verachtung hat Fahrt aufgenommen. Paul Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein“ wird allseits detailgetreu nachgespielt. Das Bild der jeweils anderen ist fertig, sie können sich nur noch schlimmer erweisen als ohnehin schon erwartet.
Breit macht sich die Logik der Konfrontation, Stimmen der Besonnenheit werden flugs dem gegnerischen Lager zugeordnet. Es geht dabei, um keinen falschen Eindruck zu erwecken, meist um verbale Prügeleien, nur ausnahmsweise um körperliche Gewalt. Die Sozialpsychologie (Gordon Allport) weiß: Gebell führt meist nicht zum Beißen, aber kein Beißen ohne vorgängiges Gebell. Wo Zivilcourage noch helfen könnte, herrscht Brachialbammel. In dem Wort Zivilcourage steckt die wohltuende Summe aus zivilisiert und couragiert. Konträre Verhaltensweisen zu diesen beiden Tugenden sind Draufhauen und Wegducken. Deshalb der Gegenbegriff Brachialbammel.
Wie kann ein solches gesellschaftliches Klima entstehen? Da muss sehr viel zusammenkommen. Zwei tiefer liegende Aspekte möchte ich, nur analytisch, ohne therapeutische Perspektive ansprechen, beide dem stummen Treiben der Verhältnisse zuzurechnen: (1) die Instrumentalisierung des anderen und (2) die Verunsicherung von jedem.
Die Instrumentalisierung des anderen
Zentrale Grundregeln unseres Zusammenlebens, Selbstbezüglichkeit und Konkurrenz, belohnen ein Verhalten, das den anderen instrumentalisiert. Mit riesigem Aufwand wird ermittelt, wie Leute denken, was sie sagen, was ihre Beweggründe sind, wie sie sich entscheiden. Meinungs- und Marktforscher, Geheim- und Nachrichtendienste beobachten, befragen, sammeln und bewerten Daten in Hülle und Fülle. Big data, aber null Interesse am anderen. Ziel ist es, Menschen besser zu verstehen, um sie besser auszunutzen. Anlass und Ausgangsfrage ist nämlich nicht, wie Leute unterstützt werden können, was für andere getan werden sollte. Immer geht es darum, wie sich die anderen dazu bringen lassen, nützlich oder mindestens nicht schädlich zu sein für Geld- und/oder Machtambitionen der Auftraggeber. Wirtschaftlicher und politischer Erfolg hängen direkt davon ab, andere für die eigenen Ziele und Zwecke auszunutzen. Sich um der anderen willen mit anderen zu beschäftigen, mag in Familien und Wohlfahrtseinrichtungen vorkommen. Im gesellschaftlichen Alltag, im Wirtschafts- und Arbeitsleben gerät auf verlorenen Posten, wer sich für andere aus altruistischen Gründen interessiert statt aus egoistischen.
Egoismus wird dann achselzuckend als schlechte menschliche Eigenschaft abgehakt, in Wirklichkeit sind es Grundregeln unserer Gesellschaft, die denjenigen zum Verlierer machen, der sich nicht egoistisch verhält. Zu den markanten Erlebnissen der „Erlebnisgesellschaft“ gehört es, allein gelassen zu sein und ausgenutzt zu werden, eine Erfahrung, die es als adäquates Verhalten nahelegt, andere allein zu lassen („Passanten lassen Sterbenden achtlos in Fahrstuhl liegen“) und auszunutzen. Sich benachteiligt, wenn nicht sogar betrogen zu fühlen, gehört zu den Grundgefühlen, die in einer Gesellschaft wechselseitiger Instrumentalisierung vorherrschen. Auch solche Gefühle sind es, die in Dresden und anderswo demonstrieren gehen.
Die Verunsicherung von jedem
Wieder ist es die Struktur unseres Zusammenlebens, die zur Folge hat, dass die Mehrheit der Bevölkerung in einem Dauerzustand sozialer Verunsicherung lebt. Die Erwerbsarbeit, abhängig oder selbständig, trägt einerseits die soziale Existenz der meisten Leute. Die Zahlungsfähigkeit des Normalbürgers hängt an dem Einkommen, das er für seine individuelle Arbeitsleistung erhält. Andererseits stehen die Kosten der Erwerbsarbeit unter ständigem Druck, weil sie dem wirtschaftlichen Kalkül genügen müssen. Das heißt, die soziale Existenzgrundlage kleiner Selbständiger und vieler abhängig Beschäftigter steht im Prinzip laufend zur Disposition. Mit Hilfe des Sozialstaates lässt sich das Schlimmste auffangen, aber die Risiken bleiben. Deshalb bilden in der modernen, der reichsten Gesellschaft der Menschheitsgeschichte Statuspanik in der Mittelschicht und Prekarisierung in der Unterschicht sich wiederholende Normalzustände. Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind hilflose Reaktionen darauf, die sich Hilflose als Angriffsobjekte suchen. Rechtsextremismus gehört zur industriellen Moderne wie die Elektrizität oder der Eiffelturm. Die Skandalisierung, mit der die öffentliche Meinung in akuten Fällen reagiert, lenkt von der normalen Pathologie ab.
Die Einladung ablehnen
Das stumme Treiben der Verhältnisse ist eine Erklärung, aber keine Entschuldigung für verantwortungsloses Verhalten. Die Verhältnisse füllen das Fass des Brachialbammels, sie legen Draufhauen und Wegducken nahe. Aber für jede einzelne Person trifft zu, dass sie es zu verantworten hat, ob sie ein Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt. Oder ob sie sich trotzdem für Zivilcourage entscheidet. Die Verhältnisse pöbeln und beschimpfen nicht, sie laden nur dazu ein. Selbst wenn man sonst nichts machen könnte, kann man jedenfalls eines machen: nicht mit machen, die Einladung ablehnen.