von Matthias Schwenk, 9.2.12
Vor einigen Jahren noch wäre das ein Grund zum Jubeln gewesen: Gleich zwei neue Online-Portale in Deutschland, die sich inhaltlich dem Medienwandel widmen wollen. Aber heute? Im Jahr 13 seit dem Cluetrain-Manifest stellt sich eher die Frage, woher die neuen Anlaufstellen auf Dauer ihr Publikum nehmen wollen, denn an Diskussionen über alle nur denkbaren Facetten der Digitalisierung und der damit verbundenen Umbrüche im Mediensektor herrscht eigentlich kein Mangel. Mit dieser Feststellung soll aber noch kein Urteil verbunden sein. Vielleicht schaffen es die neuen Portale ja, sich mit guten Beiträgen und interessanten Diskussionen Marktanteile am Meinungsmarkt zu erobern.
Dabei setzt Vocer, das sich ausschließlich über Stiftungsgelder und Spenden finanzieren möchte, stärker auf das geschriebene Wort, während Diskurs seinen Start deutlich mit Videos akzentuiert. Ob das eine Frage des Geldes ist? Das von Deutschlandradio getragene Portal hat möglicherweise das größere Budget zur Verfügung, was aber nicht zwangsläufig auch Rückschlüsse auf die Qualität der Beiträge zulässt. Jetzt am Beginn beider Projekte lässt sich dazu ohnehin noch nicht viel sagen, außer vielleicht dass beide Angebote derzeit wenig Originelles, dafür umso mehr Déjà-vu-Erlebnisse bieten: Vieles konnte man in ähnlicher Form in den letzten Jahren schon anderswo lesen bzw. sehen.
Problematisch und zugleich symptomatisch ist bei beiden Plattformen die starke Zentriertheit auf den Journalismus. Dieser wird hier wie dort in den Mittelpunkt gestellt, obschon die Digitalisierung in erster Linie eine Frage des Technikwandels ist. Natürlich hat dieser technische Wandel starke Auswirkungen auf den Journalismus, etwa wenn gedruckte Zeitungen mehr und mehr von Online-Medien abgelöst werden oder wenn das klassische Radioprogramm aufgrund der digitalen Medienkonvergenz ganz grundsätzlich sein Format überdenken muss.
Die entscheidende Triebkraft ist dabei aber gerade nicht der Journalismus, denn dieser kann sich nur den neuen digitalen Formen und Formaten anpassen, diese aber nicht selbst schaffen. Wer die eigentlichen Akteure des Wandels sind, wurde bei der Eröffnungsveranstaltung von Diskurs, der „ersten Berliner Debatte Digital“, sehr deutlich, als die Diskussion unversehens auf Apple und Facebook sowie deren Geschäftsmodelle und technischen Plattformen zu sprechen kam. Diese nämlich schaffen zwar einen Raum an medialen Möglichkeiten, legen zugleich aber mit ihren Technik-Konventionen sowie mit ihren teilweise restriktiven Geschäftsbedingungen Einschränkungen auf, mit denen sich Medienanbieter arrangieren müssen.
Dabei soll nicht bestritten werden, dass der Journalismus im digitalen Zeitalter nach neuen Formen der Inhaltevermittlung oder des Storytelling suchen muss. Sich dieser Aufgabe zu widmen, ist sowohl für Vocer als auch für Diskurs eine reiz- und ehrenvolle Aufgabe. Nur darf man dabei nicht den Fehler machen, sich unversehens selbst im Mittelpunkt des Wandels zu wähnen. Das Augenmerk muss eigentlich viel stärker auf den technischen Grundlagen liegen, weil diese noch immer stark im Fluss sind und nicht erkennen lassen, dass ihre Veränderungsdynamik sich abschwächen würde.
Natürlich kann man diesbezüglich auch anderer Auffassung sein. In vielen Zeitungsverlagen etwa mag sich die Vorstellung durchgesetzt haben, man müsse nur die Inhalte, die man traditionell in gedruckter Form unter die Leute brachte, auf einer Website gebündelt ins Netz stellen. Als weiteres „Zugeständnis“ an den Medienwandel wird der klassische Redaktionsschluss, der für den Druck unerlässlich war, zugunsten eines Systems der permanenten Aktualisierung von Inhalten aufgegeben. War es das?
Wohl kaum. Denn heute ist offenkundig, dass eine Zeitung als hermetisch geschlossene Welt für sich im Netz nicht bestehen kann. Zum einen wandern die digitalen Leser viel stärker zwischen einzelnen Medien, zum anderen wollen sie mehr Partizipation. Auf die wachsende Vernetzung der Leser untereinander und die zunehmende Aggregation von Nachrichten aber haben klassische Medienhäuser immer noch keine adäquate Antwort gefunden. Sehen sich die neuen Debattenportale hier in der Pflicht?
Ihr Auftritt im Web lässt nichts Gutes ahnen. Sowohl Vocer als auch Diskurs bieten keine neuen Ansätze auf der technischen Ebene. Wer etwa auf Experimente in Sachen Content-Aggregation, Data-Mining oder der Netzwerk-Analyse gehofft hat, muss sich enttäuscht sehen. Beide Portale sind Stand heute nicht mehr als gewöhnliche Content Management Systeme, die nach alter Väter Sitte mit medialen Inhalten befüllt werden. Für den Diskurs allein mag das genügen. Wer aber neue technische Features testen, aufzeigen und vielleicht im Wege des öffentlichen Experiments mit seinen Lesern gemeinsam ausprobieren möchte, was einem „Think Tank“ und „Medialab“ wie Vocer gut zu Gesicht stünde, muss eigentlich mehr bieten können.
Am Ende bleibt das Gefühl, dass der Journalismus in Teilen glaubt, sich mit dem Status Quo an technischen Möglichkeiten im Web häuslich einrichten zu können und auf dieser Basis nun nur noch nach ein paar neuen Erzählformen suchen muss. Das aber wäre ein Trugschluss. Dave Winer spricht in diesem Zusammenhang süffisant von einer „Maginot-Linie“ mit der Medienhäuser sich gut geschützt wähnen, während der Feind in aller Ruhe von hinten das Feld aufrollt.
Der digitale Wandel ist noch längst nicht am Ende und dem Mediensektor stehen weitere Veränderungen, um nicht zu sagen Erschütterungen, ins Haus. Portale wie Vocer und Diskurs brauchen deshalb mehr Web-Technik-Kompetenz und etwas weniger Journalismus-Orientierung, wenn sie die Zukunft spürbar mit gestalten wollen. Das mag als Ratschlag eine bittere Pille sein, aber nur das wird wirklich relevante Debatten hervorbringen und der Medienbranche konstruktiv helfen.