von Wolfgang Michal, 4.2.10
Das Agenda-Jahr 2010 soll den Startpunkt des politischen Neuanfangs markieren. Gleich zwei rot-rot-grüne Zirkel stellten im Januar ihre parteiübergreifenden Projekte vor: Zum einen will das Institut Solidarische Moderne um Andrea Ypsilanti (SPD), Katja Kipping (Die Linke) und Sven Giegold (Die Grünen) ein wissenschaftlich fundiertes „Gegenmodell zum Neoliberalismus“ vorlegen; zum anderen könnte die Gruppe Das Leben ist bunter um die Abgeordneten Stefan Liebich (Die Linke), Marco Bülow (SPD) und Anton Hofreiter (Die Grünen) eine Art linke Pizza-Connection sein. Im Idealfall würden sich Theorie- und Praxis-Gruppe gut ergänzen.
Die Frage ist: Wird der Idealfall eintreten?
Das „Institut Solidarische Moderne“ (ISM) sieht sich als „politische Denkwerkstatt“. In ihr sollen Wissenschaftler, Politiker und zivilgesellschaftlich Engagierte nach dem Scheitern sowohl des real existierenden Sozialismus als auch des real existierenden Neoliberalismus ein politisches Programm erarbeiten, das von ganz links bis weit in die Mitte hinein auf Zustimmung trifft. Leitlinie für ein solches Programm ist der schon bekannte „sozial-ökologisch gerechte Umbau der Moderne“.
Da alle beteiligten Parteien diese Leitlinie vertreten, geht es im Grunde um ein Austarieren der Gewichte: die einen wollen das Soziale etwas stärker betonen als das Ökologische, die anderen die Selbstbestimmung des Einzelnen mehr als das Soziale.
Thematisch dürfte eine Annäherung also leicht fallen. Aber auch personell sind wenig Hindernisse zu erwarten: die humanistische Mischung aus Attac, Transparency International, Frankfurter Interventionismus und Eurosolar ist perfekt. Kaum einer der Beteiligten lebt nur für oder durch eine bestimmte Partei. Alle sind vielfach vernetzt, plural, lebensfroh und tolerant. Sie haben beeindruckende Lebensläufe (die politisch oft in den siebziger Jahren beginnen). Als Pressure Group für den politisch-ideologischen Klimawandel könnte dieses linksbürgerliche Institut also durchaus wirksam werden. Ob es sich gesellschaftlich (und nicht nur in Memoranden) verankern kann, ist die große Frage. Schon Rot-Grün hatte ja ein deutliches Verankerungs-Defizit.
Die zweite Gruppierung nennt sich lakonisch „Oslo-Gruppe“ – in Anspielung auf die rot-rot-grüne Regierungskoalition in Norwegen. „Das Leben ist bunter“ (so der offizielle Titel ihres Programms) kommt sehr viel bescheidener und lebensnäher daher als das etwas mühsame „Institut Soziale Moderne“. Kein Wunder: Die Oslo-Gruppe ist bedeutend jünger (es könnten die Kinder der Instituts-Denker sein) und ihre Vorstellungen sind ganz auf Pragmatisches gerichtet: politische Absprachen, Initiativen, Koalitionen. In der Oslo-Gruppe dominieren Abgeordnete, die aus der Enge ihrer Fraktionen ausbrechen wollen. Wissenschaft und Gesellschaftsanalyse spielen nur eine untergeordnete Rolle (denn der wissenschaftliche Ansatz ist in den Ausbildungs-Biographien dieser Abgeordneten bereits verankert).
Während sich die Institutsgruppe vor allem in Frankfurt und Berlin verortet, liegen die Schwerpunkte der Oslo-Gruppe in Berlin und Nordrhein-Westfalen. Beide sind stark von großstädtischem und westeuropäischem Gedankengut geprägt, die Institutsgruppe etwas stärker als die Oslo-Gruppe. Der Osten und die Provinz spielen in beiden Gruppen nur Nebenrollen.
- Am interessantesten ist vielleicht die Strategie der Linken in beiden „Bündnissen“. Anders als bei Grünen und SPD haben sich bei der Linken nicht primär Enttäuschte und innerparteiliche Oppositionelle eingefunden, sondern zentrale Figuren. Die Linke ist die einzige Partei, die ihr Mitwirken in diesen Gruppierungen mit dem eigenen Parteivorstand abgestimmt hat. Hier wirken vielleicht noch alte, romantische Volksfrontstrategien nach – mit dem kleinen Unterschied, dass solche Strategien nur in Situationen existentieller Bedrohung funktionieren.
- Die SPD hat nun Gelegenheit, sich in Mehrparteien-Laboren verhaltenstechnisch zu regenerieren. Sie muss ihre Phobien loswerden, und das heißt, sie muss vor allem vermeiden, parteitaktische Spielchen mit den Linken zu spielen. Die Gefahr, in alte Rollenmuster zu fallen (und die kleineren Parteien als Kellner und sich selbst als Koch zu begreifen) besteht. Doch die beteiligten Sozialdemokraten sind erfahren und (berührungs-)angstfrei genug, um Sticheleien von Parteifreunden, etwa aus dem Seeheimer Kreis, ignorieren zu können.
- Die Grünen machen den Eindruck, als seien sie in diesen Bündnissen das Reserverad am Wagen. Zwar dabei, aber nicht unbedingt nötig. Vielleicht wollen die Restlinken bei den Grünen ihre Mitarbeit dazu nutzen, den innerparteilichen Machtkampf zwischen Schwarz-Grün-Anhängern und Linksgrünen zu beeinflussen. Die etablierte Garde der Mittfünfziger sieht jedenfalls keinen Grund, bei einem rot-rot-grünen Crossover das Aushängeschild zu spielen. Andererseits: Der grüne Nachwuchs hat die erschlafften Vorstände satt und will zurück zu den Wurzeln.
Die Personen der beiden rot-rot-grünen Experimente werden also zweifellos gut miteinander können – wenn da nicht die Parteien hinter ihnen stünden!
Und so werden wir noch im Agenda-Jahr erfahren, ob die beiden „Vorfeldorganisationen“ zu echten Cross-Over-Projekten werden; ob sie einer bislang harmlosen Opposition politisches Selbst-Bewusstsein vermitteln können oder lediglich als Parteiübertrittsvorhöllen fungieren.