#Baden-Württemberg

Politik als Social Network? Die “transparente Demokratie” als Ausweg aus der Politikkrise

von , 10.10.10

Ausgerechnet in Baden-Württemberg! Denn wer hätte schon gedacht, dass eine Auseinandersetzung zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland gerade in Stuttgart Zehntausende von Demonstranten aller Alters- und Bevölkerungsschichten auf die Straße treiben würde?

Nichts anders passiert gerade, denn die heftigen Proteste um das Projekt Stuttgart 21 richten sich im Kern gegen einen Politikbetrieb, der einer immer größer werdenden Zahl von Bürgern undurchsichtig, unnötig kompliziert und undemokratisch erscheint. Die Bürger fühlen sich nur noch als Rädchen in einem Getriebe, in dem sie praktisch keinen gefühlten Einfluss mehr haben, weil Entscheidungen unendlich lange dauern und die unterschiedlichsten Gremien und Instanzen durchlaufen. Am Ende wird etwas umgesetzt, mit dem man sich nicht mehr identifizieren kann.

Zwar mögen gerade im Fall von Stuttgart 21 alle politischen Entscheidungen formal korrekt getroffen worden sein und in ihrem Ablauf dem entsprechen, was die Gründerväter der Bundesrepublik sich dafür ausgedacht hatten, sie lassen sich aber aufgrund der heute erreichten Komplexität solcher Großprojekte praktisch nicht mehr vermitteln.

Tatsächlich dürften nur noch ausgewiesene Verwaltungsfachleute das Procedere rund um Stuttgart 21 verstehen und erklären können, während der Laie und “Bürger von der Straße” sich schlicht ausgebootet und von der Politik hintergangen fühlt. “Mafiöse Strukturen” und “Hinterzimmerpolitik” lauten in der Konsequenz die Vorwürfe für etwas, das einst – nach den Erfahrungen mit der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus – als moderne Demokratie und Errungenschaft galt. Selbst die Bürger in Ostdeutschland votierten 1989 mehrheitlich für dieses System, das aber nun sichtlich an seine Grenzen stößt.

Was tun in dieser Situation? Mehr direkte Demokratie wagen? Ein dieser Tage auf Zeit Online erschienener Artikel über die Verhältnisse in Kalifornien (“Wir sind kaputt”) legt nahe, dass dies nicht der beste Weg sein muss: Gut organisierte Interessengruppen können damit nämlich überproportional viel Einfluss bekommen und damit Verzerrungen in das System bringen, so dass ursprünglich gute Absichten und Maßnahmen in ihrer Wirkung auf Dauer nur als desaströs bezeichnet werden können (mehr zum Thema Kalifornien auch hier).

Auf Twitter entwickelte sich dazu zwischen Martin Lindner (dem Medienwissenschaftler, nicht dem FDF-Politiker) und mir ein Diskurs, in dem er als Lösungsweg für die aktuelle Situation eine “transparente Demokratie” vorschlug.

Dabei schwebt Martin Lindner vor, das politische System zunächst gar nicht als solches zu verändern, sondern nur dessen Maß an Öffentlichkeit massiv zu erhöhen und an die Möglichkeiten des Internets anzupassen. Denn bis heute spiegelt unser politisches System, von einigen Ausnahmen abgesehen, die Medienverhältnisse des 20. Jahrhunderts wider, wo immer nur Ausschnitte öffentlich werden konnten, weil die begrenzten Kapazitäten etwa der Printmedien gar nichts anderes zuließen.

Heute dagegen erscheint es als Anachronismus, wenn Akten zur öffentlichen Einsicht in einem Saal (für kurze Zeit) ausgelegt werden: Warum stellt man sie nicht einfach vollständig (und dauerhaft) ins Netz?

Auch die Sitzungen der Parlamente und Stadt- bzw. Gemeinderäte könnte man längst vollständig ins Netz streamen, einschließlich der Sitzungen von Ausschüssen. Damit könnte dem Vorwurf der “Hinterzimmerpolitik” mit einfachen Mitteln entgegen getreten werden.

Eine solchermaßen transparente Demokratie käme dem sich wandelnden Politikinteresse der Bürger entgegen: Partizipation und Dialog würden damit im Vorfeld politischer Entscheidungen jederzeit möglich und könnten, je nach Interesse, mal mehr und mal weniger intensiv genutzt werden – ohne dass damit gleich Formen der direkten Demokratie eingeführt werden müssten.

Zudem würde den Bürgern in Fällen wie bei Stuttgart 21 bewusst, dass Politik nicht mit billigen Schlagworten und einer simplifizierenden Rhetorik gemacht wird, sondern das Abwägen komplexer Sachverhalte mit weitreichenden Folgen darstellt.

Dass es einen Trend zu mehr politischer Partizipation der Bürger auf der Ebene der neuen Medien im Netz gibt, zeigt sich bei Twitter: Noch 2009, bei den Studentenprotesten (Hashtag: #unibrennt) wurde dieser Dienst in Deutschland kaum genutzt. Bei Stuttgart 21 (Hashtag: #s21) sieht das schon etwas anders aus: Twitter ist jetzt klar eine Plattform für die Auseinandersetzung der Gegner und Befürworter und zugleich Medium für die schnelle Verbreitung wichtiger Neuigkeiten, etwa bei laufenden Protestaktionen.

Im Sinne dieser neuen Offenheit und Transparenz würde sich natürlich auch die Rolle des Politikers ändern. Ihm käme künftig die Rolle eines “Community-Managers” zu, der die Bürger für anstehende Entscheidungen interessieren und den Dialog mit ihnen moderieren sollte. Zudem könnte er seine eigene Entscheidungsfindung transparent und damit nachvollziehbar machen.

So verstanden würde Politik wie eine Art Social Network funktionieren, in dem Bürger und Politiker gleichermaßen “Mitglieder” wären und eine ständig laufende Konversation alle Entscheidungsprozesse begleiten würde. Zudem wären die Entscheidungsgrundlagen in Form von Berichten, Statistiken, Gutachten und Gesetzesentwürfen ständig einsehbar (von sensiblen Ausnahmen vielleicht abgesehen).

Die Rolle der klassischen Medien als Vermittler und Filter würde damit natürlich erheblich reduziert: Politik und Volk würden mehr als heute ungefiltert aufeinander treffen und könnten sich ohne Umwege und ohne Umschweife direkt mitteilen, was sie voneinander halten. So viel (ungewohnte) Direktheit kann mühsam, aber auch heilsam für beide Seiten sein.

Ist so etwas praktikabel?

Eine eindeutige Antwort kann es hier nicht geben. Ohne Zweifel aber wird unsere Politik mit den neuen Formen der Partizipation, wie sie uns im Social Web entgegen treten, schon in naher Zukunft vermehrt experimentieren und den Bürgern mit deutlich mehr Offenheit begegnen müssen.

Heiner Geißler (CDU), derzeit gerade als Schlichter in Sachen Stuttgart 21 fast schon in einer Art “Mission Impossible” unterwegs, bringt die Sache auf den Punkt:

“Das Problem ist: Die Menschen glauben der Politik nicht mehr.”

Eine schlechtere Diagnose kann es kaum geben. Was also spricht dagegen, mit mehr Offenheit und Transparenz die Erneuerung unserer Politik und ihrer Kultur anzutreten? Wie das Beispiel Twitter zeigt, scheinen die neuen Medien durchaus ihren Weg in den Mainstream zu finden, wenn sie nur ein reales Bedürfnis decken können (hier: schnelle Information und Partizipation!). Die Politik sollte sich daran orientieren und sich auf den Weg zur transparenten und vernetzten Demokratie machen, sonst könnte Stuttgart noch das neue Leipzig werden.

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