von Laurent Joachim, 29.5.16
Seit etwa 30 Jahren driften weltweit die Gehälter von Arbeitern und Managern immer schneller auseinander. Deutschland ist hierbei keine Ausnahme. 2014 schrieb das Handelsblatt dazu:
Die Gesamtvergütung der Aufsichtsräte aller 30 Dax-Konzerne ist in den vergangenen zehn Jahren von 41,9 Millionen Euro im Jahr 2004 auf 78,3 Millionen Euro im Jahr 2013 gestiegen. Das entspricht einem Zuwachs von 87 Prozent, wie eine Zehn-Jahres-Analyse des Gummersbacher Vergütungsexperten Heinz Evers (…) zeigt.
Somit stiegen die Gehälter der Aufsichtsräte wesentlich schneller als die Gehälter der regulären Arbeitnehmer, die im Durchschnitt um nur 21% wuchsen. Der Hartz-IV Regelsatz entwickelte sich übrigens noch zurückhaltender: Zwischen 2005 und 2013 kletterte er um lediglich 10,5 Prozent nach oben. Die Inflation betrug zwischen 2004 und 2013 jedoch etwa 16 Prozent.
Wirtschaftseliten: Die fetten Jahre sind lange noch nicht vorbei
In der Regel orientiert sich die Vergütung der Aufsichtsräte zumindest teilweise am Unternehmensergebnis. Doch auch ein Fixgehalt muss für ein Aufsichtsratsmitglied nicht von Nachteil sein. So konnte Wulf von Schimmelmann, Aufsichtsratschef der Deutschen Post, im Jahr 2014 sein Gehalt gegenüber dem Vorjahr auf nunmehr 326.000 Euro mehr als verdoppeln, nachdem die Beteiligung am kurzfristigen Unternehmenserfolg durch ein Fixum ersetzt wurde. Pikant: Zeitgleich war die Post über ihre Tochterfirma DHL Gegenstand von weniger vorteilhaften Schlagzeilen – wegen einkalkulierter Ausbeutung der Fahrer.
Noch besser als Aufsichtsräte werden Vorstände bezahlt. 2014 verglich das Handelsblatt die Gehälter der DAX-Vorstände mit denen einer Dekade zuvor:
Die Dax-Vorstände verdienen heute rund 150 Millionen Euro mehr als noch vor zehn Jahren – ein Plus von fast 70 Prozent. (…) Im Schnitt kassiert ein Vorstand heute 3,2 Millionen Euro, ein Vorstandsvorsitzender 5,3 Millionen Euro.
In einigen Firmen haben diese Verhältnisse groteske Züge angenommen: 2007 überwies die Deutsche Bank die Rekordsumme von 13,2 Millionen Euro auf das Konto des damaligen Vorstandsvorsitzenden Josef Ackermann. Anfang März 2016 schrieb Der Spiegel unter dem Titel Deutsche Bank zahlt 750 Mitarbeitern Millionengehälter:
Trotz eines Rekordverlusts von 6,8 Milliarden Euro zahlt die Deutsche Bank für das Geschäftsjahr 2015 immer noch üppige Gehälter. Entgegen aller Spar-Rhetorik steigt die Gesamtvergütung (…) Allein 2 Milliarden Euro davon sahnen die rund 2000 Top-Banker ab.
Die Deutsche Bank hat zwar eine Vergütungsobergrenze eingeführt, faktisch aber hat sich wenig geändert: Die Obergrenze liegt derzeit für den neuen Chef bei 12,5 Millionen Euro.
Auch in kleineren Betrieben und öffentlichen Einrichtungen Deutschlands können sich die Bezüge der Geschäftsführer und Vorstände sehen lassen, wie eine Erhebung der Unternehmensberatung Kienbaum es nahelegt:
Mit einem durchschnittlichen Jahresgehalt von 366.000 Euro verdienen Geschäftsführer mehr als drei Mal so viel wie leitende Angestellte, die im Schnitt ein Gehalt von 121.000 Euro beziehen. (…) Geschäftsführer in der Pharmaindustrie sind mit durchschnittlich 646.000 Euro jährlich die Topverdiener. Chefs eines Verbands verdienen hingegen im Schnitt 219.000 Euro. (…) Die leitenden Angestellten verdienen mit rund 88.000 Euro im Krankenhaus deutlich unterdurchschnittlich; Topverdiener unter den Führungskräften sind die Manager im Einzelhandel mit 182.000 Euro im Jahr. (…) Rund 94 Prozent der Geschäftsführer verfügen über einen eigenen Firmenwagen.
Die Überbezahlung von Wirtschaftsbossen treibt bisweilen prächtige Blüten. So verdient Hans-Jörg Schmidt-Trenz, der Chef der Hamburger Handelskammer, laut der Hamburger Morgenpost sehr viel mehr als der Bürgermeister der Stadt Olaf Scholz (SPD, welcher “nur” 177.577 Euro bekommt) und sogar mehr als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU, welche “nur” 221.300 Euro bekommt), nämlich sagenhafte 475.000 Euro im Jahr! Ein grotesker Fall, aber kaum ein Einzelfall: 2014 schied Andreas Köhler, Vorstandsvorsitzender der Ärzteorganisation KBV, aus dem Amt, mit 53 Jahren und rund 270.000 Euro Rente jährlich bis zu seinem Lebensende – indirekt vom Steuerzahler finanziert.
Das Auto, das Geld, das Problem
Die Verdienste der Topangestellten, vor allem in Großkonzernen, sind mittlerweile von der Realität abgekoppelt. Der Vorstandschef der Volkswagen AG, Martin Winterkorn, bis vor kurzem noch der bestbezahlte Vorstandschef Europas, sah sich im Jahr 2012 gezwungen, sein Jahressalär von 20 Millionen Euro, das ihm laut Vertrag zugestanden hätte, auf 14,5 Millionen stutzen zu lassen – und zwar aus freien Stücken beziehungsweise aus Gründen der Unternehmenskommunikation. So verdiente er drei Millionen weniger als im Jahr zuvor. Grundsätzlich sprach sich Martin Winterkorn jedoch gegen eine Gehaltsdeckelung aus: „Ich glaube nicht, dass es dafür in Deutschland Gründe gibt“, zitierte ihn der Spiegel.
Die spannende Frage ist: Wie werden diese Gelder erwirtschaftet? Volkswagen verdiente laut einer Studie der Universität Duisburg-Essen im Jahr 2012 durchschnittlich 916 Euro pro Auto. Somit entsprechen 14,5 Millionen Euro etwa 15.830 verkauften Autos mit dem VW-Logo. So viele musste Volkswagen verkaufen, um seinen Chef zu entlohnen – nur seinen Chef! Zu den jährlichen Bezügen von Winterkorn kamen noch betriebliche Rentenansprüche in Höhe von 22,8 Millionen Euro bis 2013, die dem Erlös von weiteren 24.890 verkauften Autos entsprechen. Zum Vergleich: 2012 betrug das durchschnittliche Alterseinkommen alleinstehender Männer in Deutschland 1.560 Euro, das von alleinstehenden Frauen 1.292 Euro.
2012 fuhr die Volkswagen AG mit 21,9 Milliarden den größten Firmengewinn der Geschichte der Bundesrepublik ein, die VW-Aktie hatte sich zwischen Mitte 2007 und Mitte 2012 in ihrem Wert fast verdoppelt. Beides sicherlich auch ein Verdienst von Martin Winterkorn. Das war allerdings vor dem Abgas-Skandal von 2015, als öffentlich wurde, wie sehr die zeitweilige Gewinnmaximierung auf Betrug und Vertuschung aufgebaut war. Die Erfolgsmeldungen von 2012 relativieren sich vor diesem Hintergrund, denn das Unternehmen ist nun mit Zukunftshypotheken in zweistelliger Milliardenhöhe belegt. Mitte Mai 2016 ist die Volkswagen-Aktie mit 128 Euro nur noch halb so viel wert wie zur Zeit ihres Höhepunktes im April 2015 (wobei die Talfahrt schon vor Bekanntwerden des Skandals begonnen hatte).
Bezeichnend für die Unzulänglichkeiten des Boni-Systems ist, dass die Erfolgsprämien der Chefetage von Volkswagen anhand des Scheinerfolgs berechnet wurden. Mit der Boni-Auszahlung zum Jahresende werden keine Anreize für eine nachhaltigen Führung eines Unternehmens gesetzt. Für die noch unabsehbaren finanziellen Folgen des Abgas-Betrugs bei VW müssen wohl andere als die verantwortlichen Manager aufkommen: Beschäftigte, Kunden und eventuell der Steuerzahler, wenn die für den Standort Deutschland relevante Firma Volkswagen in Bedrängnis geriete.
Bezeichnend für die Arroganz der Begünstigten eines solchen Systems – verbunden mit der Sicherheit, dass sie persönlich kaum zur Rechenschaft gezogen werden – ist die Weigerung der VW-Vorstände, trotz des für das Unternehmen existenziellen Skandals auf die üblichen Boni-Zahlungen zu verzichten.
Was sagt uns das? Wohl, dass viele hochrangige Manager Boni nicht als Erfolgsprämien, sondern als Bestandteil ihrer primären Vergütung – unabhängig vom Erfolg – verstehen.
Die Firma, das Kastensystem
Die Ergebnisse einer Firma sind stets eine Gesamtleistung, nicht nur die Leistung eines Einzelnen.
2013 bekamen festangestellte Gabelstaplerfahrer der Stammbelegschaft bei Volkswagen 19,45 Euro pro Stunde, laut ARD. Das ist ein großer Unterschied zum Chef. Geht man davon aus, dass der Vorstandschef zehn Stunden am Tag arbeitet, erhielt er zum Beispiel 2012 einen Stundenlohn von etwa 6.000 Euro brutto (zzgl. Rentenansprüche). Das ist also das 310-fache Brutto-Einkommen eines Arbeiters in einem tarifgebundenen Unternehmen der Metall-Branche.
Doch als Staplerfahrer arbeiteten bei Volkswagen zeitgleich auch ca. 450 Mitarbeiter der Leiharbeitsfirma Ceva, die nicht nach dem IG-Metall-Tarif entlohnt werden, sondern nach dem der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di. Ein Ceva-Staplerfahrer verdiente demnach pro Stunde nur 9,77 Euro. Im Vergleich dazu bekam der Vorstandschef fast das 620-fache (zzgl. Rentenansprüche)!
Bei Volkswagen herrscht seit über zehn Jahren das Prinzip: gleiche Arbeit, ungleicher Lohn. Das Land Niedersachsen (gewissermaßen in Vertretung des Volkes) hält eine Veto-fähige Minderheitsbeteiligung von 20,2% an dem Unternehmen und sanktioniert somit dieses Prinzip, gemeinsam mit der IG-Metall – beschämend!
Die primären Entlohnungsunterschiede sind allerdings nur ein Teil der Ungleichheit zwischen “Stammbelegschaftlern” und “Leihern” (in diesem Artikel am Beispiel von Volkswagen, aber es verhält sich nicht anders in den meisten vergleichbaren Firmen). Erfolgsprämien bekommen nämlich nicht nur Manager, sondern auch die Angehörigen der Stammbelegschaft. 2011 und 2012 waren sehr gute Geschäftsjahre für Volkswagen, und die Stammarbeiter durften sich auf eine Jahresprämie von jeweils 7.200 bis 7.500 Euro freuen. Die Leiharbeiter gingen dagegen leer aus (wie in allen anderen Betrieben mit ähnlichen Vereinbarungen).
Spätestens nach dem Abgas-Skandal und dem damit verbundenen Milliardenverlust hätte man bei den bessergestellten Arbeitskräften von Volkswagen (Managern und Stammbelegschaft) Mäßigung erwarten dürfen. Dem war laut Spiegel jedoch nicht so:
Trotz der Abgasaffäre bekommen die 120.000 Mitarbeiter, die nach VW-Haustarif bezahlt werden, pro Kopf 3.950 Euro Anerkennungsprämie. Die Prämie ist ein Ersatz für die Gewinnbeteiligung der Tarifmitarbeiter aus dem Jahr 2015, die wegen der Verluste in der Diesel-Krise diesmal entfiel.
VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh (Mitglied der IG Metall und der SPD) begründete seine Forderung damit, dass der Vorstand auf lediglich 30 Prozent seiner Erfolgsprämie zu verzichten bereit war und somit diesen Weg auch für die Stammbelegschaft aufgezeigt hätte. Die Exzesse der Manager sollen also die unvernünftigen Forderungen der Stammbelegschaft rechtfertigen. In einer solch gravierenden Krisensituation, in der eigentlich Demut und Zurückhaltung von allen zum Wohl des Betriebs gefragt wären. Die ohnehin schlechtbezahlten Leiharbeiter jedoch gingen dieses Mal auch völlig leer aus und bangen dafür umso mehr um ihre noch unsichereren Jobs.
Es scheint, dass der Anstand und die guten Sitten, die dem Standort Deutschland zum wirtschaftlichen Erfolg verholfen haben, verkommen sind und dass es jedem nur noch darum geht, für sich und seine “Kaste” das Maximum aus den Unternehmen herauszuholen, sei es auch auf Kosten der schlechter gestellten Kollegen oder auf Kosten des Betriebs.
Was vom Lohn übrig bleibt – oder auch nicht
Die Absurdität solcher Verdienstunterschiede wird noch klarer, wenn einfache Beispiele des Alltags bemüht werden.
Der billigste Volkswagen Golf kostete im Juni 2014 17.325 Euro inklusive Mehrwertsteuern. Nimmt man an, dass der oben erwähnte „Ceva-Staplerfahrer“ sich den Traum eines eigenen Autos verwirklichen will und sich für genau dieses Modell entscheidet, und nimmt man weiterhin an, dass er 1,22 Euro pro Stunde (der Unterschied zwischen seinem Lohn und dem Mindestlohn von 8,50 Euro) für diesen Zweck entbehren bzw. sparen kann und dass dieses Geld gar nicht besteuert wird, so wird der Staplerfahrer ganze 14.200 Stunden auf seinen Traum hin arbeiten müssen – also etwa 8,5 Jahre bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit von etwa 1.650 Stunden pro Jahr. Ein Angehöriger der Stammbelegschaft braucht dagegen nur um die drei Jahre “dabei zu sein” und kann sich das Auto praktisch von seiner Erfolgsbeteiligungsprämie leisten. Ist das gerecht? Noch einmal zur Verdeutlichung: Der “VW-Staplerfahrer” und der “Ceva-Staplerfahrer in der Arbeitnehmerüberlassung bei VW” haben die gleiche Qualifikation, sie machen den gleichen Job im selben Werk.
Nimmt man nun an, dass sich Herr Winterkorn den Golf leisten möchte und dass sich sein Bruttolohn nach Steuern auf die Hälfte reduziert hat und somit nur noch 3.000 Euro netto pro Stunde beträgt, so würde er den Wolfsburger Verkaufsschlager in etwas weniger als 6 Stunden erarbeiten können. In diesen Sphären stellt sich die Frage, ob das Gehaltsgefälle irgendwie noch gerecht sein könnte, nicht mehr. Die Antwort liegt auf der Hand.
Meine Villa, Deine Besenkammer – Mein Bugatti, Dein Drahtesel
Besonders abträglich für den Zusammenhalt der Gesellschaft ist, dass im Laufe der Karriere diese Unterschiede kumuliert werden: der „Ceva-Staplerfahrer“ wird am Ende seines Berufsleben höchstwahrscheinlich gar keine Ersparnisse beziehungsweise Vermögenswerte haben und an der Schwelle der Altersarmut leben müssen, während der Konzernchef ein Multimillionen Euro schweres Vermögen besitzen wird. Der Spiegel beschrieb den Kumulierungseffekt von Lohnunterschieden im Laufe eines Berufslebens:
Sie arbeiten jeden Tag zusammen. Sie reicht ihm die Instrumente, er schiebt sie dem Patienten in den Mund, prüft seine Zähne. Er ruft ihr seine Diagnose zu, sie notiert. Beim Einkommen liegen der Zahnarzt und seine Helferin dagegen weit auseinander: Am Ende des Arbeitstages wird er netto rund 160 Euro verdient haben, sie rund 53 Euro. Nach einem Jahr hat der Dr. med. dent. bereits 27.000 Euro mehr verdient als seine Angestellte, über ihr gesamtes Berufsleben mehr als eine Million Euro.
Zwischen Zahnarzt und –helferin liegt demnach ein Netto-Unterschiedsfaktor von „nur“ 1:3.Diese Gegenüberstellung vermag eine Vorstellung von den schwindelerregenden Unterschieden in der Lebensqualität der Menschen zu geben, bei denen der Verdienstunterschied zwischen Managern und Angestellten vielleicht bei 1:53, wie bei den Dax-Unternehmen im Durchschnitt, oder gar 1:170 wie bei Volkswagen beträgt.
Die Volkswagen AG entlohnt über ihre 100%ige Beteiligung am VfL Wolfsburg auch die Spieler des Vereins mehr als fürstlich. So kam der Topspieler Diego Ribas da Cunha zu einem jährlichen Grundgehalt in Höhe von 8,2 Millionen Euro, schrieb der Spiegel von 2013. Zur Einordnung: Bei 38 Stunden Arbeit pro Woche hätte der noch nicht verkündetet Mindestlohn einen jährlichen Brutto-Verdienst von gerademal 16.800 Euro ermöglicht. Spieler Diego Ribas da Cunha verdiente 488-mal mehr.
Marx Reloaded
„Kapitalismus schafft soziale Ungleichheit“, schrieb das Politmagazin Cicero in einem Kommentar zum Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. Keine einsame Position. Schon im Dokumentarfilm Marx Reloaded von 2011 stellten eine Reihe führender Denker und Wissenschaftler den heutigen Kapitalismus infrage.
Nun ist es sicher nicht verwerflich, wenn – in einem gewissen Rahmen – einzelne Menschen mehr Geld als andere besitzen oder verdienen, denn dadurch ergibt sich eine notwendige Sozialdynamik und somit Kreativität und Fortschritt. Aber bevor gehobene Ansprüche bedient werden, sollte sichergestellt sein, dass alle Menschen, die für die Gesellschaft sinnvolle Arbeit verrichten, davon entsprechend leben können. Und auch, dass diejenigen ohne Arbeit nicht ins gesellschaftliche Abseits gedrängt werden.
Der gesellschaftlichen Kohäsion ist es nicht gerade zuträglich, wenn der Eindruck entsteht, in den deutschen Unternehmen und im deutschen Staat gelte das Prinzip, dass das leitende Personal schrankenlos erst mal das entnimmt, was es selbst für richtig hält, und sich die anderen Menschen mit dem zufrieden geben müssen, was übrig bleibt.
Wie kann man den Bürgern zum Beispiel erklären, dass die heutige Gesellschaftsform sinnvoll und gerecht sei, wenn ihnen große Zumutungen per Gesetz aufgezwungen werden, während offensichtlich gesellschaftsschädigende Verhaltensweisen kaum bestraft werden?
Die Elenden
Vor einigen Jahren sorgten gleich mehrere Fälle von sogenannten Bagatell-Kündigungen für Aufsehen: In einem besonders krassen Fall von 2009 wurde ein Mitarbeiter der Oberhausener Firma Jawa nach 14-jähriger Betriebszugehörigkeit fristlos gekündigt, weil er sein Mobiltelefon am Arbeitsplatz geladen und der Firma somit einen Schaden (Stromdiebstahl) in Höhe von 0,00014 Euro zugefügt hatte. Vor allem aber erregte der Fall der Kassiererin Barbara Emme („Emmely“) die Gemüter. Die Berliner Kassiererin wurde 2009 nach 15 Jahren im Dienst der Firma Kaiser’s Tengelmann wegen zwei im Supermarkt gefundenen und eingelösten Pfandbons in Höhe von insgesamt 1,30 Euro fristlos entlassen. Kurz darauf wurde sie in selbiger Sache verurteilt. Sie kämpfte sich mit Hilfe von Ver.di durch die Instanzen. Doch das Urteil wurde in zweiter Instanz zuerst bestätigt und erst 2010 vom Bundesarbeitsgericht aufgehoben. Die Lohnnachzahlung, die sie von Kaiser’s Tengelmann entsprechend dem Gerichtsbeschluss erhielt, wurde auf Ihre Hartz-IV-Leistungen (die sie während der erzwungenen Arbeitslosigkeit bekam) angerechnet. Die Wohnung, die sie aufgrund Ihrer Arbeitslosigkeit bzw. aufgrund der Hartz-IV-Auflagen verlor, bekam sie dagegen nicht zurück. 2015 verstarb „Emmely“ 57-jährig.
Die politische Kontroverse blieb natürlich nicht aus, die öffentliche Empörung war außerordentlich groß. Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) nahm den Fall „Emmely“ zum Anlass, um eine eindeutige Mahnung auszusprechen: „Das ist ein barbarisches Urteil von asozialer Qualität“, sagte er 2009 nach der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg.
Auf der Internetseite World Socialist Web Site schrieb Verena Ness in einem Kommentar zum „Emmely“-Urteil, vermutlich stellvertretend für die Stimmungslage vieler Bürger:
Im Fall des ehemaligen Post-Vorstandsvorsitzenden Klaus Zumwinkel, der erwiesenermaßen 970.000 Euro Steuern unterschlagen hat, verhängte das Landgericht Bochum im Januar [2009, A.d.R.] eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren und eine Geldstrafe von etwa einer Million Euro – also etwa die gleiche Summe, die er vorher in der Steueroase Liechtenstein hinterzogen hatte. (…) Dass nun Klaus Zumwinkel (65) als vorbestraft gilt, hat für ihn keinerlei persönliche Konsequenzen. Er erhielt für die letzten zwei Monate seiner Tätigkeit als Postchef im Jahr 2008 Bezüge von insgesamt 714.045 Euro inklusive einer Bonuszahlung von 480.184 Euro, außerdem Aktienoptionen mit einem so genannten Zeitwert von mehr als einer Million Euro. Sein Privatvermögen umfasst derzeit 8 Millionen Euro. Hinzu kommt seine Burg am Gardasee im Wert von 5 Millionen, auf die er sich nun zurückgezogen hat. Vor wenigen Tagen schließlich ließ sich Zumwinkel von der Deutschen Post seine Rente auf einmal ausbezahlen, eine Summe von 20 Millionen Euro!
Im Juni 2010 kommentierte Detlef Esslinger in der Süddeutschen Zeitung, ebenfalls völlig desillusioniert:
Die Kündigungen wegen Cent-Beträgen häufen sich. Sie alle scheinen Beleg dafür zu sein, dass in der Wirtschaft zunehmend das Recht des Stärkeren gilt, dass es für das uralte Sprichwort ‚Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen‘ noch nie so viel Bestätigung gab wie heute.
Alle Menschen sind vom Gesetz gleich (GG Art. 3 Abs. 1)
Ein Führungsanspruch der Eliten ist nur dann berechtigt, wenn er nicht deren Partikularinteressen, sondern denen der Gemeinschaft dient. Dieses Prinzip ist in einer demokratischen Gesellschaft zentral, er gilt für den politisch-institutionellen Betrieb ebenso wie für die Wirtschaft. Dennoch sind gravierende Missstände festzustellen.
Ein Beispiel: Einerseits wird ein Teil des Arbeitsentgelts eines zwanzigjährigen Schülers von Amts wegen entzogen, weil laut Gesetzgebung beziehungsweise Gerichtsbeschluss etwa die Hälfte seines Verdienstes von insgesamt 527 Euro auf die Hartz-IV-Leistungen seiner beiden Eltern anrechnungspflichtig ist. Dies sei nötig, um die Gesellschaft vor missbräuchlichem Sozialleistungsbezug zu schützen – so der offizielle Duktus. Die Ironie ist, dass der Schüler aus Berlin-Marzahn eigentlich genau das tat, was der Staat von ihm erwartete: Er zeigte Fleiß, Mut und Eigenverantwortung. So arbeitete er neben der Schule, um sich hauptsächlich die Schulbücher und Kleidungsstücke zu kaufen, die ihm seine arbeitslosen Eltern aufgrund der eigenen Armut nicht geben konnten.
Anderseits durften Abgeordnete wie Peer Steinbrück (SPD) oder Peter Gauweiler (CDU) Millionen-Beträge völlig anrechnungsfrei nebenbei verdienen, zusätzlich zu ihren sonst auch recht üppigen Diäten von 9.084 Euro ab Juli 2014 und gern während ihrer eigentlichen Arbeitszeiten im Bundestag. Trotz öffentlicher Empörung ist diesem Missstand bis heute kein Riegel vorgeschoben: 2015 publizierte die Nichtregierungsorganisation AbgeordnetenWatch ihre neueste Untersuchung, wonach die zehn größten Nebenverdiener im Bundestag (alle CDU/CSU) in der Legislaturperiode insgesamt mindestens 5,8 Millionen Euro verdient haben.
Solche Verhältnisse zersetzen nachhaltig das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Politik in der Bevölkerung und schädigen Politiker aller Parteien, die sich für die Belange ihrer Wähler engagieren.
Die Eröffnung der Neiddebatte
In der Diskussion über solche Unsitten geht es nur vordergründig um eine Neiddebatte – im Gegensatz zu dem, was oft kolportiert wird. Es geht in Wahrheit um die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, denn Geld dient in unserer Gesellschaft nicht nur zur Teilhabe-Regulierung oder zum Erwerb von – möglicherweise entbehrlichen – Produkten, sondern es dient vorrangig zur Lebenshaltung und Lebensabsicherung (Erwerb von Nahrung, Gesundheitsvorsorge usw.) sowie zum Erhalt einer sozialen Handlungsfähigkeit.
Der Staat bittet seine Bürger mit allerlei Gebühren zur Kasse (Der Rundfunkbeitrag etwa ist für alle Haushalte gleich bemessen: 17,50 Euro) oder verhängt Strafen mit festen Sätzen. Aber abhängig von der Position des Einzelnen in der Gesellschaft haben diese Festbeträge je nach Sozialstellung der Betroffenen eine ganz unterschiedliche Bedeutung und Auswirkung seitdem die Spreizung der Gehälter und Vermögen so groß geworden ist.
Die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel (7%) ist ein gutes Beispiel, diese Steuer trifft überproportional hart die niedrigen Einkommen: Jemand, der 1.000 Euro netto im Monat verdient und 300 Euro für Lebensmittel aufwendet, führt 21 Euro Mehrwertsteuer an die Staatskasse ab, also 2,1% seines Nettoeinkommens. Wer jedoch 10.000 Euro netto im Monat verdient – und grundsätzlich denselben Kalorienverbrauch hat –, wird für den gleichen Einkauf mit nur 0,21% seines Nettoeinkommens belastet.
Bei der Verhängung von (kleineren) Strafen ist es nicht anders. Wer in Berlin sein Auto länger als eine Stunde im Parkverbot zurückgelassen hat, wird von der Stadt mit 40 Euro zur Kasse gebeten. Ist der Schuldige Hartz-IV-Empfänger oder Hartz-IV-Aufstocker, wird er überproportional hart bestraft, weil er diesen Festbetrag von der kargen Stütze (aktuell 399 Euro) abziehen muss. In diesem Fall bedeutet die Strafe den Gegenwert von fast neun Tagen Essensration nach dem Hartz-IV-Regelsatz. Eine äußerst harte Verwarnung durch den Gesetzgeber. Verdient der Parkplatzsünder dagegen 5.000 Euro netto in seiner Regelarbeitszeit von 170 Stunden pro Monat, ist die Verwarnung von 40 Euro in etwa 80 Minuten abgearbeitet, und bei einem Nettoverdienst von 10.000 Euro sind es nur noch 40 Minuten. Nimmt man schließlich das Jahresgehalt 2012 von Herrn Winterkorn zum Maßstab, wird die Strafe in nur noch wenigen Sekunden abgearbeitet – da lohnt es sich erst gar nicht, nach einer Parkuhr zu suchen.
Wie diese einfachen Beispiele es veranschaulichen, ist eine zu große Kluft zwischen Arm und Reich eine Bedrohung für die soziale Ordnung. Deshalb muss der Staat zur Wahrung des Sozialfriedens und zur Sicherung des Entwicklungsniveaus der Gesellschaft zu große Wohlstandsgefälle zwischen seinen Bürgern vernünftig regulieren, oder wie Ludwig Erhard in seinem Buch „Wohlstand für Alle“ (1957) formulierte „in Bahnen [zwingen], die mit dem Wohl aller letztlich in Einklang stehen“.
Steuergerechtigkeit
Der deutsche Staat ist seit Jahrzehnten chronisch unterfinanziert, so dass öffentliche Infrastrukturen wie Straßen nicht gewartet werden oder Schwimmbäder und Bibliotheken schließen müssen. Die primären Versorgungsausgaben des öffentlichen Dienstes, z.B. die angemessene Entlohnung des Personals und Ausstattung von Schulen, Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen oder die Anpassung der niedrigeren Renten werden nicht zufriedenstellend wahrgenommen.
Angesichts des zunehmenden Auseinanderdriftens der Lebensverhältnisse sorgt dies für erhebliche Spannungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen “oben” und “unten”. Insbesondere, wenn prominente Fälle das Steuergerechtigkeitsprinzip öffentlich in Frage stellen, wie zum Beispiel im Fall von Uli Hoeneß (2014), welcher im Jahr 2005 fast 164 Millionen Euro auf einem Konto der Schweizer Bank Vontobel geparkt hatte und von dem Landgericht München der Hinterziehung von mindestens 28,5 Millionen Euro Steuern schuldig gesprochen wurde.
Im Februar 2014, als der juristische Ausgang des Prozesses noch nicht abzusehen war, bemerkte die taz im Zusammenhang mit der Möglichkeit für Steuersünder, eine strafbefreiende Selbstanzeige in Steuerhinterziehungssachen zu stellen:
Selbstanzeige schützt Steuerhinterzieher vor Strafen. Bei Hartz-IV-Empfängern werden schon 300 Euro überzahlte Leistung als Betrugsversuch gewertet.
Tatsächlich, wie kann man sich des Eindrucks erwehren, dass es zweierlei Maß gibt?
Uli Hoeneß wurde letztendlich zu einer Haftstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt, weil die Selbstanzeige vom Münchener Gericht für unwirksam erachtet wurde. Er trat seine Strafe im Juni 2014 an (im März 2016 wurde er vorzeitig entlassen). Doch der Fall Hoeneß ist nur die prominente Spitze eines gigantischen Eisbergs: zwischen 2010 und 2015 wurden 123.275 Selbstanzeigen wegen Steuerbetrugs in Deutschland gestellt. Mittlerweile haben auch mehrere Veröffentlichungen von Datensätzen wie die “Offshore-Leaks” (2013), die “Luxleaks” (2014), die “Swissleaks” (2015) und die „Panama-Papers“ (2016) das Ausmaß des Problems bestätigt (ungeachtet dessen, dass nach zehn Jahren eine Verjährungsfrist eintritt, weshalb viele Fälle der Steuerhinterziehung ganz legal unbestraft bleiben können).
Die heutige Wirtschaftsordnung privilegiert die Wohlhabenden über das Maß der Vernunft hinaus, und zu allem Überfluss flankiert die Rechtsnorm diese Besserstellung. Wenn einerseits die staatliche Grundversorgung nur noch notdürftig funktioniert, anderseits die Besteuerung der Massen unverändert hoch ist, dabei aber gleichzeitig die Besteuerung der Großvermögen so niedrig, dass diese überdurchschnittlich und scheinbar unaufhaltsam wachsen können, verfehlt die Steuerpolitik der Bundesregierung offenbar seit mindestens 20 Jahren ihr Ziel – zumindest wenn man Deutschland als Gemeinschaft ansieht.
Notbremse im Notfall bitte ziehen!
Ein freier, nach Profit strebender Markt kann grundsätzlich nicht für soziale Gerechtigkeit sorgen. Daher, gehört es seit eh und je zu den Hauptaufgaben des Staates, das Zusammenwirken der Marktakteure auf die für das Gemeinwohl richtige Bahn zu lenken. Das ist nicht neu. Die Urschriften der Weltreligionen, welche als Nukleus der heutigen Gesetzgebung angesehen werden können, kennen schon Regelungen zum Schutz vor Arbeitsausbeutung oder unethische Geldmacherei. So ist der Sabbat, die wöchentliche Arbeitspause, schon im Dekalog fest verankert: “Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht”. In ähnlicher Weise kennen sowohl das Christliche Alte Testament als auch der Koran ein Zinsverbot – und es kommt sicherlich nicht von ungefähr, dass das Thema schon damals bedacht wurde. So steht beispielsweise im Koran (Sure 3, Vers 130): “Ihr Gläubigen! Nehmt nicht Zins, indem ihr in mehrfachen Beträgen wiedernehmt, was ihr ausgeliehen habt!”.
Es steht außer Frage, dass Gesetze einen grundsätzlich freien und somit innovationsfähigen Markt nicht kaputt regulieren sollten und dass viele Maßnahmen nur gesamteuropäisch implementiert werden können. Dennoch, ein freier Markt darf nicht zur Bestimmungsfreiheit des Stärkeren über das Schicksal des Schwächeren verkommen, sonst verkämen auch die grundsätzlichen Rechtsprinzipien der deutschen Verfassung und der EU-Gesetzgebung. Raub- und Heuschreckenkapitalismus sind mit dem europäischen Verständnis von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität nicht vereinbar.
Um den Absichten der Mütter und Väter sowohl des Grundgesetzes als auch der Europäischen Idee gerecht zu werden, muss der Kapitalismus europäischer Ausprägung gezügelt werden. Über die Kriterien, die eine „gesellschaftsgerechte“ Arbeitserbringung und Entlohnung einerseits und eine „gesellschaftsgerechte“ Besteuerung anderseits definieren könnten – und somit eine sozialverträgliche Arbeits- und Vermögensumverteilung –, muss immer wieder neu und zukunftsorientiert nachgedacht werden. Lösungsansätze und Alternativen gibt es.
Die politische Deutungshoheit zurückgewinnen
Spätestens mit der erfolgreichen Einführung des Mindestlohns (86 Prozent der Deutschen waren dafür) ist widerlegt worden, dass Eingriffe in die sogenannte Freiheit des Markte nicht möglich seien, ohne den Markt zum Zusammenbruch zu führen, wie von den Interessenverbänden der Wirtschaft propagiert.
Auch eine Begrenzung des Einkommens nach oben kann das Auseinanderdriften der Gesellschaft verlangsamen: Die israelischen Knesset verabschiedete Anfang 2016 ein Gesetz, welches das Höchsteinkommen der Bankmanager des Landes auf brutto etwa 584.000 Euro begrenzt und gleichzeitig verfügt, dass ein Manager brutto höchstens 35 mal (netto höchstens 44 mal) soviel verdienen darf wie der am niedrigsten bezahlte Mitarbeiter des Unternehmens. Es handelt sich dabei um eine vor allem symbolische, dennoch deutliche Verringerung der Lohnspaltung. Vorher waren die Löhne der israelischen Bankmanager im Schnitt bis zu über dreimal höher als nach der Einführung der Deckelung. Die Knesset zeigte, dass die Politik den Missständen des Finanz-Establishments nicht tatenlos zusehen muss.
Bereits 2013 hatten die Schweizer Jusos eine ähnliche Initiative ins Leben gerufen: Die erfolglos gebliebene “Eidgenössischen Volksinitiative 1:12 – Für gerechte Löhne” forderte einen Höchstratio von 1 zu 12. Dem vorausgegangen war, dass der Konzernchef des Geldinstituts Crédit Suisse, Brady Dougan, 2009 eine Rekordzahlung von 90 Millionen Franken, 70 Millionen davon als Bonus, erhielt, was eine Lohnspanne von 1 zu 1.812 im Unternehmen ergab.
Auch in Frankreich wurden 2012 die Gehälter der Firmen-Manager, in denen der Staat Mehrheitsanteilseigner ist, auf 450.000 Euro begrenzt bzw. höchstens das Zwanzigfache des niedrigsten Lohns im Unternehmen.
Ein anderes Beispiel kommt aus Finnland: Dort sind alle Bürger, ungeachtet ihrer finanziellen Stellung, vor dem Gesetz relativ gleichgestellt. So richtet sich u.a. die Höhe der Verkehrsstrafen nach dem Einkommen des Verkehrssünders, und dann kann – beim entsprechenden Einkommen von mehreren Millionen –l auch eine Geldstrafe von 100.000 Euro für eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 30 km/h fällig werden. Klingt zuerst hart, ist aber nur fair.
Selbst für das scheinbar unlösbare Problem der Verschuldung und Unterfinanzierung der Bundesrepublik existieren Lösungsansätze. Der großartige Kabarettist Volker Pispers beschrieb in seinem Auftritt “Bis neulich, der letzte Abend” (2015) – einen Tick überspitzt – einen solchen Ansatz:
Das Schuldenproblem in Deutschland ist mit einem Schnips zu lösen (…) Wir Deutschen haben 2.000 Milliarden Euro Staatsschulden. Das heißt jeder von uns hat pro Kopf 25.000 Euro Staatsschulden, sagt der Bund der Steuerzahler. Jeder hat auch 60.000 Barvermögen zu Hause auf der hohen Kante liegen (…) Das Geld ist doch da. Das Barvermögen der Deutschen beträgt 5.000 Milliarden Euro, ohne Immobilien (…) Das reichste 1 Prozent verfügt über 33 Prozent der gesamten Ersparnisse. Die reichsten 10 Prozent verfügen über 66 Prozent der gesamten Ersparnisse, und wir reden von Barvermögen. Die reichten 10 Prozent besitzen 3.200 Milliarden Euro Barvermögen. Sie könnten die Staatschulden so bezahlen und hätten mehr Geld über als der Rest im ganzen Leben mit ehrlicher Arbeit zusammensparen kann (…) Wenn die reichsten 10 Prozent die Hälfte ihres Geldes abgeben würden, wären die Staatsschulden soweit abbezahlt, dass der Rest zu machen wäre. Die müssten nicht alles auf einen Schlag abgeben. Wenn sie in den nächsten zehn Jahren jedes Jahr 5 Prozent abgeben, das wäre die berühmte Vermögensteuer, sind die 50 Prozent auch zusammen, nach zehn Jahren (…) Fünf Prozent pro Jahr ist das, was sie in den letzten 20 Jahren an Zinsen kassiert haben. Sie erinnern sich noch, was Zinsen waren? (…) Und wir reden bei der Vermögensteuer über Menschen mit einem Barvermögen pro Kopf ab einer Million Euro aufwärts, nur dass Sie nicht meinen, dass Sie betroffen sind. Und wenn Sie doch zu den Unglücklichen gehören sollten, ich finde noch heute Abend jemanden, der mit Ihnen tauscht!
Ist die Vermögenssteuer ein Hirngespinst? Wohl kaum, wenngleich viele Länder darauf verzichten oder diese abgeschafft haben. Eine Vermögenssteuer wurde in Deutschland tatsächlich schon 1893 mit dem Preußischen Ergänzungssteuergesetz eingeführt. Die moderne Bundesrepublik führte sie 1952 ein und erhob sie (außer in neuen Ländern), bis sie im Jahr 1997 wieder ausgesetzt wurde. Die Steuerlücke, die sich daraus ergab, betrug etwa vier Milliarden Euro pro Jahr. Eine Wiedereinführung könnte nach Hochrechnungen bis zu 20 Milliarden pro Jahr einbringen. Im Gegensatz dazu Frankreich: Die Vermögensteuer auf Privatvermögen wurde 2012 spürbar erhöht, seit 1982 gibt es sie.
Nach zwei Jahrzehnten des Irrwegs wird zurzeit die Idee der Steuergerechtigkeit wiederentdeckt. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel kündigte Anfang Mai 2016 an, dass die Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge nach der Bundestagswahl 2017 wieder abgeschafft werden solle, falls die SPD (mit-)regieren würde. Die heute geltende Abgeltungsteuer sieht eine 25-prozentige Pauschalbesteuerung vor (statt einer Besteuerung von bis zu 48,5 Prozent). Diese wurde 2008 vom damaligen Finanzminister Steinbrück eingeführt, nachdem ein erster Anlauf von Kanzler Gerhard Schröder (2002) am Widerstand der Parteilinken gescheitert war. Eine Wiedereinführung könnte dem Fiskus bis zu zwei Milliarden pro Jahr einbringen.
Mehr Mut! – Der politische Stillstand überwinden
Den Bundestagswahlen im kommenden Jahr wird voraussichtlich ein richtungsweisender Kampf um die politische Erneuerung des Landes vorausgehen. Es dürfte außer Frage stehen, dass ein Weiter-so nicht reicht. Die bisherige politische Akzeptanz des herrschenden und angeblich alternativlosen Marktdarwinismus muss konstruktiv in Frage gestellt werden.
Beispiele gibt es zuhauf: Die Zahl von Stromsperrungen (352.000 in 2015) nimmt zu, Zwangsräumungen auch, denn immer mehr Menschen können schlicht und ergreifend nicht einmal die Kosten ihrer eigenen Grundversorgung aufbringen. Da die Mietpreisbremse nicht zufriedenstellend wirkt, werden echte Lösungen gefunden werden müssen, um die überzogenen Renditeansprüche der Immobilienbesitzer auf ein erträgliches Maß zurückzufahren und somit in Einklang mit den Löhnen und Möglichkeiten der Bevölkerung zu bringen. Und in den Bereichen, wo Konzerne heute in der Lage sind, dem Staat ihre überzogenen Konditionen zu diktieren, wird der Gesetzgeber seine Deutungs- und Gestaltungshoheit zugunsten der Allgemeinheit zurückerobern müssen.
Die Bürger erwarten schon heute von den Parteien konkrete Antworten zu ganz realen Sorgen. Es muss geliefert werden. Durchhalterhetorik und Lagebeschönigung sind fehl am Platz. Die gemäßigte Politik kann sich nicht mehr erlauben, bekannte Probleme auszusitzen, sie muss sie benennen und anpacken, denn sonst spielt sie unausweichlich und letztendlich zum eigenen Nachteil in die Hände von radikalen Kräften.
Laurent Joachim beschäftigte sich in seiner Studie „Friss oder Hartz – Warum Hungerlöhne unser Land zerstören“ (2014) damit, wie die stets größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich der Gesellschaft schadet und langfristig schaden wird, wenn keine geeigneten Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. CARTA bringt einen Auszug daraus. Bereits erschienen: Neue Arbeitswelten – Allein unter Börsenwölfen, Arm geboren, nix dazu verdient sowie Gerechtigkeitsdebatte: Vom Schlemmen der Übermütigen.
Wieviel Ideologie steckt in der Vorstellung, dass jede zweckgerichtete Tätigkeit Arbeit sei? Wie verändert sich die Arbeitswelt mit der Digitalisierung? Welche Rolle spielt das Individuum angesichts globalisierter Produktionsströme? Wie verändert sich die Kommunikation über Arbeit, und wie die Kommunikation, wenn sie zur Arbeit wird? Beiträge zu diesen und anderen Aspekten von Arbeit finden Sie in im Carta-Dossier: „Ausbeutung 4.0? Was heißt und zu welchem Ende leistet man Arbeit?“
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