#Direkte Demokratie

Markus Linden: Mehr Konfliktoffenheit in der Demokratie wagen

von , 1.12.13

Politische Repräsentation und direkte Demokratie – das sind die Themenfelder von Dr. Markus Linden, Politikwissenschaftler im Forschungszentrum Europa an der Universität Trier, Abteilung “Partizipation und Ungleichheit”. Im CARTA-Interview erklärt er, warum er den SPD-Mitgliederentscheid gut findet.

Herr Dr. Linden, was halten Sie von dem geplanten Mitgliederentscheid der SPD über den Koalitionsvertrag?

Ich begrüße das sehr. Spätestens seit Stuttgart 21 wird in Deutschland ja vehement die Einführung neuer Beteiligungsformen gefordert. In der Praxis laufen diese Partizipationsformen dann aber Gefahr, von der Exekutive, und sei es unintendiert, als Legitimitätsbeschaffungsmaßnahmen benutzt zu werden. Zudem zeichnet sich die Beteiligung an partizipatorischen Innovationen oft durch eine relativ hohe soziale Disparität aus, die größer ist als bei der Wahlbeteiligung oder, was gerne übersehen wird, bei der Mitgliedschaft in Parteien. Außerdem besteht die Gefahr, dass die hergebrachten Institutionen und ihre Funktionsweisen konterkariert werden. Da muss man also sehr aufpassen, denn auch neue Beteiligungsformen können Krisentendenzen verstärken. Sie müssen kompatibel sein mit den Grundsätzen von Parlamentarismus und Parteiendemokratie, insbesondere mit dem Prinzip, die Regierung auf der Basis klarer Verantwortlichkeit abwählen zu können. Dazu ein plakatives Beispiel: Die Direktwahl von Oberbürgermeistern gilt ja als demokratische Reform. Eine Wahlperiode von acht Jahren steht dem jedoch entgegen. Insofern ist es zunächst einmal gut, das Demokratie- und Öffentlichkeitsprinzip in den hergebrachten Institutionen auszubauen. Die direkte Demokratie in Parteien ist sicherlich demokratieförderlicher als manche anderen Demokratiereformen. Man denke nur an das Schlichtungsverfahren zu Stuttgart 21, wo der Schlichter (Heiner Geißler) eine strukturelle Macht besaß, die einer ungewählten Person nicht zukommen sollte.

Markus Linden, Foto: privat

Dr. Markus Linden, Foto: privat

Brauchen Parteien mehr direktdemokratische Mitgliederbeteiligung dieser Art?

Ja. Da halte ich es mit dem Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel, der schon in den 1960er Jahren schrieb, dass der Wert der Demokratie mit dem Wert der innerparteilichen Demokratie steht und fällt. Natürlich wird das Mitgliedervotum in der SPD auch strategisch eingesetzt, um der Großen Koalition die größtmögliche Legitimation zu verschaffen. Das lässt sich nie ganz ausschließen und ist im vorliegenden Fall ein brillant dargebotenes Stück Gabrielscher Machtpolitik. Um eine Instrumentalisierung zu minimieren, ist es jedoch wichtig, dass ein Umdenken in Bezug auf die Bewertung innerparteilicher Konflikte einsetzt, die ja ebenso notwendig sind wie Konflikte und Debatten im Parlament. Der FDP-Mitgliederentscheid zur Euro-Rettung, eine höchst begrüßenswerte Innovation, wurde ja letztlich aufgrund des unsicheren Umgangs der Führung mit diesen Faktionskonflikten in der Partei zum Desaster. Kurzum: Ich sehe ein Problem in der – auch von Seiten der Medien – erwarteten Zustimmung in Parteien. Auszugehen ist im vorliegenden Fall von einer Mehrheitsentscheidung der SPD-Basis für den Koalitionsvertrag. Fraglich ist aber, wie hoch die Zustimmung ausfallen wird. In Deutschland werden Zustimmungsraten in Parteien unterhalb der 80-Prozent-Grenze ja schon als Niederlage angesehen. Für dieses Mitgliedervotum dürfte die zugesprochene Grenze wohl etwa bei zwei Dritteln, also 66prozentiger Zustimmung liegen. Diese Geschlossenheitsriten halte ich für überkommen und undemokratisch, da sie dem Wert konfliktiver Beratschlagung zuwiderlaufen. Mehr innerparteiliche Demokratie verlangt also eine größere Aufgeschlossenheit gegenüber innerparteilichen Konflikten. Das dürfte im Ergebnis auch der Freiheit des einzelnen Abgeordneten und der deliberativen Streitkultur des Parlaments zugute kommen. Die gängige „Abweichler“-Disqualifikation ist undemokratisch.

Teilen Sie die Kritik daran, dass SPD-Mitglieder nun über den Koalitionsvertrag mitentscheiden können, der Rest der Wähler jedoch nicht?

Eine demokratietheoretisch hochinteressante Frage, die ich im Ergebnis verneine. Im Gespräch zwischen Slomka und Gabriel wurden aber grundlegende verfassungsrechtliche Aspekte diskutiert, bei denen man legitimerweise unterschiedlicher Auffassung sein kann. Insofern war es eine siebenminütige Fernsehsternstunde, von der wohl leider nur die Gesprächskultur in Erinnerung bleiben wird. Das zentrale Gegenargument, eine kleine Zahl von Mitgliedern entscheide über eine große Zahl von Wählern, ist meines Erachtens aber nicht schlüssig. Erstens setzt sich eine Mehrheit, die man im Bundestag ja auch links der Mitte verorten kann, immer aus zahlreichen Minderheiten zusammen. Diesen Aspekt hat vor allem der italienische Politikwissenschaftler Giovanni Sartori ausgearbeitet. Daraus folgt, dass eine kleine Minderheit (in diesem Fall die SPD-Basis) legitimerweise das Zustandekommen einer Mehrheit verhindern kann. Es handelt sich gerade in Demokratien mit Verhältniswahlrecht um einen völlig normalen Vorgang. Gabriels stimmiger Konter im Interview, bei anderen Parteien entscheide lediglich die Führungsriege, wäre aus dieser Perspektive gar nicht mehr nötig. Der Unterschied zum Mitgliedervotum besteht hier ja nur darin, dass die SPD-Basis als (gesamtgesellschaftlich gesehen) kleine Minderheit ihrer Führung ein imperatives Mandat gibt. Bei den anderen Parteien handelt die kleine Minderheit (in diesem Fall die Parteiführung) nach freiem, aber auch autorisiertem Mandat. Zweitens handelt es sich in Deutschland um eine Parteiendemokratie. Der überproportionale und verfassungsrechtlich festgeschriebene Einfluss der Parteien ist ein der Erfahrung von Weimar geschuldetes Funktionserfordernis. Wenn man hier Kritik anbringen wollte, sollte sie vielleicht bei einem bisher nicht genannten grundsätzlichen Argument ansetzen: Die Parteimitgliedschaft kostet, wenn auch wenig, Geld. Insofern ist ein überproportionaler Einfluss hier an ein ökonomisches Kriterium gekoppelt. Das mag quantitativ kleinkariert erscheinen, untergräbt aber die prinzipielle Trennung von politischer Gleichheit und ökonomischer Ungleichheit.

Ist es verfassungskonform (insbesondere im Hinblick auf Art.38 GG), wenn nicht die gewählten Abgeordneten, sondern die Mitglieder einer Partei (oder deren Parteivorstand) über die Bildung einer Regierungs-Koalition entscheiden?

Ja, wenngleich die Frage eine nicht gegebene Implikation beinhaltet. Freies Mandat und Parteiendemokratie stehen immer auch in einem Konkurrenzverhältnis. Die Kunst besteht darin, beide Prinzipien aufrecht zu erhalten. Insofern dürfen Parteibeschlüsse von Abgeordneten nicht als formal bindende Entscheidungen, sondern eher als potentiell verletzbare Leitlinien aufgefasst werden. Dass sich SPD-Abgeordnete, die nicht zuletzt aufgrund der Parteizugehörigkeit im Parlament sitzen, mehrheitlich an ihrer Basis orientieren, ist insofern völlig in Ordnung, solange die Möglichkeit abweichenden Verhaltens besteht. Ein partei- und fraktionslos gedachtes Parlament entspricht hingegen jenem altliberalen Ideal, an dessen Kriterien Carl Schmitt einst den Parlamentarismus der Weimarer Republik bewertete. Sein Ziel war dabei die Disqualifizierung der Parteiendemokratie. Dieses Ideal freier Deliberation lässt sich, insbesondere bei der Regierungsbildung in einem System der Verschränkung von Exekutive und Legislative, nicht durchsetzen. Parteiendemokratie erfordert parteiische Orientierung – und sei es an der Basis. Gleichzeitig sollte sich die Mündigkeit der Abgeordneten aber während der Legislaturperiode häufiger zeigen als bislang. Das gilt vor allem für junge Parlamentarier, die sich etwa eine Person wie Wolfgang Bosbach zum Vorbild nehmen könnten. Die Zeitfenster für Parlamentsbeschlüsse bei der Eurorettung waren teilweise eine Farce. Hier wurde der Parlamentarismus ausgehebelt – und die Fraktionen spielten mit, wobei sich vor allem die Opposition aus SPD und Grünen in verfassungsrechtlicher Hinsicht keine Lorbeeren verdient hat. Grundbedingung für eine höhere Konfliktbereitschaft von Abgeordneten ist aber ein offeneres Verhältnis zum Konflikt in der Demokratie. Darin einen Motor der politischen Integration zu sehen, daran hapert es in Deutschland auf allen Ebenen. Die Äußerungen des Bundespräsidenten zur AFD haben dies unterstrichen. Deren Positionen teile ich nicht. Sie müssen aber im Diskurs zunächst anerkannt und diskutiert werden. Ohne Konfliktrepräsentation auf allen Ebenen ist ein gemäßigtes, Perspektiven umfassend mit einschließendes Urteilen auch auf Seiten der Wähler nicht möglich. Vielleicht trägt der Mitgliederentscheid der SPD zu einem konfliktoffeneren Verständnis von Demokratie bei. Er käme dann im Ergebnis sogar dem freien Mandat zugute.

Entspräche es dem Geist unserer Verfassung, wenn künftig nicht mehr Parteigremien, sondern die vom Volk gewählten Abgeordneten über politische Koalitionen entscheiden würden?

In der Reinform wäre eine solche Konstellation unter den Bedingungen der Parteiendemokratie nicht möglich, für mich deshalb auch nicht erstrebenswert. Allerdings wäre zu hoffen, dass sich in Deutschland ein offeneres Verhältnis zu Minderheitsregierungen etabliert. Sofern Fraktionen von Parteien getragen werden, sehe ich kein Problem, sondern eher Chancen in wechselnden Mehrheiten. Der Parlamentarismus würde gestärkt. Zudem würden Große Koalitionen vermieden. Deren Wirkungsweise für die parlamentarische Demokratie ist ganz anders zu beurteilen als die eines Mitgliederentscheids. Im vorliegenden Fall droht die Große Koalition das Oppositionserfordernis zu unterlaufen, was sich etwa in der unsäglichen Einrichtung eines Hauptausschusses manifestiert hat. Es bedarf offen ausgetragener innerparteilicher Konflikte, einer größtmöglichen Öffentlichkeit der Parlaments- und Ausschussarbeit und selbstbewusster Abgeordneter, damit die quantitative Marginalisierung der Opposition im Deutschen Bundestag sich nicht zu einer ernsten Krise des Parlamentarismus ausweitet. Insofern hat die Übertragung von Verantwortlichkeit auf die SPD-Mitglieder auch eine individuelle Wahl zwischen Staatsbürgerrollen zur Folge: Als Sozialdemokrat muss man dem Vertrag ob der Inhalte eigentlich zustimmen. Angela Merkel trat mit reduziertem Programm zur Wahl an, weshalb die SPD in den Verhandlungen viel durchsetzen konnte. „Opposition ist Mist“, würde Müntefering sagen. Aus demokratietheoretischer Sicht ist aber Demokratie ohne quantitativ ernstzunehmende Opposition, um im Bild zu bleiben, „Mist“ – in diesem Fall ohne erkennbare Düngereigenschaften. Hilfreich wäre in diesem Zusammenhang, wenn mit einem Nein zum Koalitionsvertrag nicht automatisch die Delegitimierung der SPD-Führung oder die vollkommene Regierungsunfähigkeit der Partei verknüpft würde. So weit ist man hierzulande aber noch lange nicht. Vielleicht ändert sich das, wenn das Instrument des Mitgliederentscheids zur Routine werden sollte.

Von Dr. Markus Linden erscheint in Kürze (als Herausgeber, zusammen mit Winfried Thaa) das Buch „Ungleichheit und Politische Repräsentation“, Baden-Baden 2014. Zuletzt erschien u.a. „Krise und Reform politischer Repräsentation“, Baden-Baden 2011 (Hg. mit Winfried Thaa).

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