#Anonymität

Hat das Internet die politische Öffentlichkeit reifen lassen?

von , 7.8.13

Der sehr geschätzte Autor und Journalist Robert Misik (Speaker u.a. bei #nfa11) produziert regelmäßig sehenswerte Podcasts auf der Seite des Wiener Standard. Am 28. Juli stellte er die so irreführende wie provozierende Frage “Macht Posten im Internet dumm?” Misik kritisiert darin die “Schwarmblödheit” des Internets, insbesondere die Aggressivität und Zerstörungswut anonymer Kommentare und Postings in Foren und unter digitalen Zeitungsartikeln.

Auslöser dieser Debatte waren offenbar das Geständnis der Standard-Kolumnistin  Julya Rabinowich, sie habe sich selbst durch ihre Anonymität im Internet verändert, aber auch diese Erklärung der Standard-Online-Redaktion zu schärferen Moderationsregeln, die sich stark auf das Thema Anonymität bezieht. Er fragt demnach nicht, ob das Posten im Internet dumm mache, sondern, ob vor allem Dumme im Internet posten – eine völlig andere Frage.

Misik stellt also fest, dass sich anders, als viele das zunächst erhofft haben, die “Reife” der politischen Öffentlichkeit durch das Internet nicht erhöht, sondern gesenkt habe. Damit reiht er sich ein in eine Reihe von früheren Netzoptimisten wie Jaron Lanier, Joseph Weitzenbaum oder Jürgen Habermas, die heute die Entwicklung der digitalen Öffentlichkeit kritisch sehen.

Es sei ein Problem, so Misik, dass die anonymen KommentatorInnen sich diese Art zu schreiben mit Klarnamen überhaupt nicht trauen würden, weil sie die Konsequenzen wie soziale Ächtung oder rechtliche Auseinandersetzungen tragen müssten. Menschen, die unter ihrem Namen oder als normale Autor_innen im Netz agierten, seien die Deppen, auf die alle anderen unter Pseudonym mit der Aggressions- und Beleidigungskeule herumdreschen könnten.

Misik unterlegt das ganze erst mit echten Kommentaren (wohl aus dem SpOn-Forum), und dann mit trolligen, selbst formulierten Kommentaren zum eigenen Text. Er endet mit der Frage:
 

“Will ernsthaft jemand behaupten, dass wir heute eine reifere politische Debatte und Öffentlichkeit haben als vor zwanzig Jahren?”

 
Man solle ein Ja gut begründen. Hier ein Versuch:

Kommentare unter digitalen Redaktionsbeiträgen von Zeitungen sind nur ein winziger Teil der digitalen Öffentlichkeit, kein unwichtiger, aber vielleicht der unwichtigste. Oft sind die alternativen Interpretationen, Ergänzungen oder Kommentierungen hilfreich, oft sind sie auch – und da hat Misik Recht – bloßes Auskotzen, das wohl mehr der Seelenhygiene der Schreiberlinge als dem Diskurs gilt.

Jeder kennt die Foren, in denen vielleicht einer von zehn Beiträgen als ernstgemeinter Debattenbeitrag betrachtet werden kann. Daniel Kehlmann hat der Psychologie eines solchen Trolls ein Kapitel seines Buchs “Ruhm” gewidmet.

Jeder kennt aber wohl auch das Gegenteil: Medien, die mit Ihrer Leser_innenschaft im ständigen Austausch sind. Die Interaktivität aller Arten von Beiträgen im Netz ist auch ein echter Vorteil, denn er demokratisiert tatsächlich das geschriebene Wort. Wo früher der redaktionell gekürzte und zumeist gar nicht wahrgenommene Leserbrief an eine kafkaesk anmutende, zumeist weitgehend anonyme Großredaktion stand, gibt es heute für Meinungsäußerungen aller Art den direkten Weg. Die früher schweigende Masse der Medienkonsument_innen kann diskutieren – wie sie das tut, ist ihre Sache und die der Moderationsregeln.

Die entscheidendere Qualität digitaler Öffentlichkeit findet sich jedoch nicht in den Trollforen, sondern auf den selbst organisierten Kommunikationskanälen aller Art sowie in sozialen Netzwerken.

Allein für das Informationsangebot der Seite www.bundestag.de hätte sich Otto-Normal-Bürgerin früher eine LKW-Ladung Akten liefern lassen müssen. Für das, was etwa ein Blog wie www.netzpolitik.org leistet, hätte es im analogen Zeitalter keinerlei Raum gegeben – nicht in der Zeitung, nicht im Fernsehen, nicht in den Versammlungsräumen alternativer Zentren.

Wer heute etwa mit dem Regierungssprecher Steffen Seibert , dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, Familienministerin Kristina Schröder oder dem LINKEN Gregor Gysi diskutieren will, kann das ohne Umwege tun. Wer sich nicht auf die Gatekeeper der Redaktionen verlassen will, sucht sich seine Informationen selbst.

Soziale Netzwerke dienen – ja – auch zum Austausch von Urlaubsfotos, von privaten Belanglosigkeiten, von Gossip und Spam. Aber niemand würde wohl bestreiten, dass sie heute auch ein essenzielles und progressives Tool politischer Organisations- und Kampagnenarbeit sind. Ein Beispiel war die weitgehend von politischen Parteien ungesteuerte Kampagne  bei Facebook für bzw. gegen die Wahl des damaligen rot-grünen Kandidaten Gauck zum Bundespräsidenten. Wo hätte diese kollektive politische Meinungsbildung Hunderttausender im analogen Zeitalter denn stattfinden sollen? Durch Demonstrationen vor dem Schloss Bellevue?

Aber auch für organisierte politische Arbeit sind Netzwerke ein nicht mehr wegzudenkendes Werkzeug, das verantwortungsvoll und mit exponentieller Lernkurve in Sachen Effizienz und Offenheit verwendet wird. Die Piraten fügen dieser Lernkurve gerade weiteres Kapital hinzu.

Bei all diesen Beispielen bleiben wir immer noch in “Musterstaaten” des unabhängigen Printjournalismus und der pluralen Medienlandschaft von ARD über DLF bis N24.  Wir befinden uns (noch) nicht in einem Land, in dem Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen vor allem gefärbte und zensierte Öffentlichkeit präsentieren, und in dem das Internet eine echte Gegenöffentlichkeit zur unbrauchbaren oder korrupten Medienlandschaft darstellt.

Aber selbst in den “Musterstaaten”, wo das Internet eher komplementär zu klassischen Medien wirkt, sind die Reifungsprozesse sichtbar. Sie bestehen in der Verbreiterung, also Demokratisierung politischer Kommunikation und in ihrer Direktheit, sowie in der gestiegenen Transparenz. Für elitäre Meinungsmacher_innen wird es damit schwieriger – ohne Frage. Politische Kommunikation ist heute mühsames Agieren in einer zersplitterten und unübersichtlichen sowie instabilen Landschaft. Es reicht nicht mehr, dass sich drei wichtige Männer über etwas einig sind und die drei wichtigsten Männer in Verlagen und Redaktionen anrufen, um das zu verkaufen. Und das ist auch gut so.

Weniger gut ist vielleicht, dass sich abwägende und differenzierende Intellektuelle, die zu politischen Debatten Bedenkenswertes beizutragen haben, heute anders Gehör verschaffen müssen, als mit dem einen entscheidenden Beitrag im Feuilleton der (gedruckten) FAZ – sich Gehör verschaffen wie Robert Misik, dessen Blog eines der meistgelesenen in Österreich ist. Viele, die mit diesem Wandel Probleme haben, beklagen ihn – Intellektuelle oder Potentaten. Aber der Wandel ist kein Naturereignis, sondern gemacht und gewollt.

Ja, die politische Öffentlichkeit ist reifer geworden. Mehr Menschen können mitlesen, mitschreiben, mitdenken und hoffentlich immer mehr mit entscheiden. Mehr Menschen – und damit kommen wir zum Problem der Trolle – sind mehr konstruktive und mehr nicht so konstruktive Menschen.

Misik meint nun, das Internet zöge die weniger Konstruktiven an, weil Meinungsäußerungen folgenlos blieben. Hier bleiben Zweifel, denn auch, wenn die Äußerungen anonym erfolgen, sind sie doch globale Öffentlichkeit – anders als der berühmt-berüchtigte Stammtisch, an dem man(n) sich früher auskotzte (und heute wohl immer noch). Manche werden wegen Äußerungen oder Handlungen mit Shitstorms überzogen – gern auch Politiker_innen. Der Vorteil: Das Netz kann sich durch seinen öffentlichen und offenen Charakter selbst regulieren, der Stammtisch nicht.

Wer heute die Zersplitterung der Öffentlichkeit beklagt (was Robert Misik nicht tut), ging früher wohl auch davon aus, dass Stammtische schön den “Tagesschau”-Kommentar rezitierten und dessen Position denn auch gleich übernahmen. Oder er hat einfach einen sehr beschränkten Blick auf die früher noch viel kleinere Meinungsmacherelite, die sich über in den Konsequenzen alle betreffende Positionen mit sich selbst verständigte – also genau das, was Misik ”dem Internet” vorwirft.  Denn auch im analogen Zeitalter fand die politische Willensbildung nicht durch die Massen in schön geordneten Kanälen von Presse, Funk und Fernsehen statt, sondern zumeist schlicht ohne Teilhabe oder wenigstens Kommentierung durch diese Massen. Eine nicht zersplitterte Öffentlichkeit wäre demnach eine elitäre Öffentlichkeit (gewesen).

Andersherum wird ein Schuh draus: Zersplitterung von Öffentlichkeit ist notwendige Demokratisierung, denn die gesellschaftliche Realität war immer schon viel heterogener als ihr mediales Abbild. Und um es noch weiter zu drehen und auf Robert Misiks Frage nach der Entwicklung der letzten zwanzig Jahre zurückzukommen: es ist diese gesellschaftliche Realität, die sich in den vergangenen zwei Dekaden radikalisiert hat – nach dem Fall der Mauer, der ökonomischen Globalisierung, mit der neoliberalen Epoche, mit neuen internationalen Konflikten und Kriegen und einer neuen Unübersichtlichkeit nach dem Ende der Blockauseinandersetzung.

These: Das Internet ist das adäquate Medium, um diese Realität überhaupt medial einigermaßen angemessen wahrnehmen zu können. Und da muss man nicht bis in den Gezi-Park oder auf den Tahrir-Platz schauen.

Also, “don’t feed the trolls”, denn deren Geschreibsel ist nach Sascha Lobo nur die “Fortsetzung des Klingelstreichs mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts”. Unter Umständen sind die Trolle von eben die Diskursfähigen von gleich.

Und: Ohne das Internet könnten wir diese (eventuell minderqualitative) Debatte gar nicht führen. Vielleicht aber hat Robert Misik mit seiner provokativen Frage auch nur selbst den Beweis liefern wollen, dass man intelligent und mit offenem Visier trollen kann?
 
Crosspost von Digitale Linke. Die Redaktion von derstandard.at hat diesen Beitrag auf ihre Seite übernommen.

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