#Losverfahren

Falsche Anreize beim NSU-Prozess

von , 30.4.13

Anreizmechanismen sind bekanntlich das Credo der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie. Danach sorgt die Flexibilität in der Lohnfindung für ein Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt. Wie Anreize aber noch wirken können, zeigte sich jetzt bei dem Verfahren zur Verteilung der Presseplätze im NSU-Prozess. Das OLG München hatte sich nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes für ein neues Verfahren entschieden. Jetzt sollte, getrennt nach einem Verteilungsschlüssel für unterschiedliche Medienanbieter, das Los entscheiden.

Gestern gab es das Ergebnis. Es sorgte für Verwunderung und bisweilen Gelächter. “Radio Charivari” und “Hallo München de” haben einen festen Platz bekommen, die “Brigitte” auch. Dafür fehlen etwa die “FAZ”, die “Zeit”, die “taz”, die “Frankfurter Rundschau”, das “Neue Deutschland” oder die “Welt”.

Nun fragte man sich schon, warum etwa die “Lübecker Nachrichten” aus München unbedingt mit einem eigenen Korrespondenten berichten wollten. Die Kosten sind enorm – und es ist daher nicht unüblich, sich in diesem Fall auf die Agenturberichterstattung zu verlassen. In dem Erscheinungsgebiet der “Lübecker Nachrichten” ist die NSU noch nicht einmal aktiv gewesen. Ein lokales Interesse an dem Thema gab es, im Gegensatz etwa zu Nürnberg, nicht. Ein interessantes Phänomen.

Trotzdem hat sich beim OLG München offenkundig bald jeder deutscher Medienanbieter wegen eines festen Presseplatzes beworben, selbst in den Fällen, wo das journalistische Interesse ansonsten nicht dem Angebotsprofil entspricht. Ein Anzeigenblättchen wie “Hallo München de” oder ein reines Radio-Unterhaltungsformat wie “Radio Charivari” werden daher in der Vergangenheit auf solche Exclusiv-Berichterstattung verzichtet haben. Warum auch nicht? Sie brauchen sie nicht. Warum also dieses einzigartige Interesse an den Presseplätzen im NSU-Verfahren? Weil es ein historisches Ereignis sein soll? Bei allem Respekt: Es gab wesentlich wichtigere Prozesse in Deutschland. Es sei nur der Frankfurter Auschwitz-Prozess in den 1960er-Jahren genannt.

Tatsächlich lässt sich die Groteske um die Presseplätze im NSU-Prozess anders erklären.

Im OLG München hantieren Juristen, die weder etwas von Medien, noch von Ökonomie verstehen. Sie haben Anreize gesetzt, die zwangsläufig Fehlallokationen bei der Vergabe der Presseplätze erzeugen mussten. Es hat nicht, wie sei meinten, schicksalhaft der Zufall mit Hilfe des Losverfahrens entschieden. Es gab nämlich im Verfahren keine Gleichheit, wo jeder Anbieter nur ein Los hatte. Manche hatten mehrere Lose – und wurden dann auch reichlich gesegnet.

Nun kann (oder will) das OLG München an dem Knappheitsproblem bei der Verteilung der Sitzplätze nichts ändern. Eine Preisbildung, etwa über die Versteigerung der Sitzplätze, ist ausgeschlossen. Das Losverfahren scheint daher sinnvoll zu sein. Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Möglichkeit auch eingeräumt.

Was ist aber nun passiert? Das OLG München hatte die Poolbildung zugelassen. Im Gegensatz zum vorherigen Verfahren können die Presseplätze jetzt geteilt werden. “Radio Charivari” und “Hallo München de” müssen also diese Plätze nicht dauerhaft besetzen. Sie können sie auch weitergeben. Nun gehören beide zum Münsteraner Ippen-Konzern, der unter anderem im Ruhrgebiet die “Ruhrnachrichten” und in München den “Münchner Merkur” herausgibt.

Was muss Ippen also machen, wenn er die Teilnahme-Chancen einer seiner Redaktionen am NSU-Prozess steigern will? Sich mit allen Redaktionen beim OLG München bewerben, sogar mit denen, die selbst nie über das Ereignis berichten wollten. Ippen hatte Glück: Er kontrolliert “Radio Charivari”, “Hallo München de” und die “Offenbach Post”. Er hat gestern drei Plätze zugelost bekommen. Einer hätte ihm sicherlich gereicht, um alle Redaktionen mit eigenen Berichten versorgen zu können. Journalistisch ist das sinnvoll – und ökonomisch gesehen ist ein solches Handeln völlig rational. Ippen hat sich so verhalten, wie es das Anreizsystem des OLG München verlangte.

Natürlich hat das jeder deutsche Verlag in gleicher Weise gemacht. So gehören die “Lübecker Nachrichten” und die beim Prozess in München ebenfalls vertretene “Oberhessische Presse” zum Madsack-Konzern in Hannover, die “Thüringische Landeszeitung” zum WAZ-Konzern. Das große Los hat auch die “Stuttgarter Zeitung” gezogen. Natürlich erwartete vorher niemand, dass die “Stuttgarter Nachrichten – Sonntag aktuell” über Monate (oder gar Jahre) einen Journalisten nur wegen dem NSU-Prozess nach München schickt. Es reichte dem Verlag ein Kollege vor Ort. Jetzt hat der Verlag der “Stuttgarter Zeitung” und “Stuttgarter Nachrichten – Sonntag aktuell” sogar zwei Kollegen in München. Der Verleger sollte am Samstag Lotto spielen.

“Gruner und Jahr” ist ebenfalls mit 2 Presseplätzen versorgt worden. Nämlich mit der “Brigitte” und der “Sächsischen Zeitung”. Da sollte doch der “Stern” partizipieren können. Selbst der Verlag der “Süddeutschen Zeitung” muss sich nicht beschweren. Zu ihm gehört die “Thüringer Tageszeitung “Freies Wort”- und das Magazin der Süddeutschen hat ebenfalls einen Platz bekommen.

Warum die ARD mit insgesamt vier Sendern vertreten sein muss, ist zwar ein Rätsel. Aber die handeln in solchen Fällen eben nicht anders als die private Konkurrenz. Das gilt in gleicher Weise für die DPA. Sie hat drei Plätze zugelost bekommen. AFP und Reuters haben dafür keinen. Es geht ihnen wie der BBC und CNN.

Das überwältigende Interesse selbst von Regionalzeitungen und Anzeigenblättern passt nicht in die Medienkrise. Man spart in allen Redaktionen an jeder Ecke – und trotzdem sind alle jetzt bereit, für diesen einen Prozess ungeahnte Finanzmittel zu mobilisieren? Ein Lübecker Journalist, der über Monate aus München berichtet?

Natürlich ist das nicht der Grund, sondern das missglückte Anreizsystem des OLG München. Jeder Verlag handelte völlig rational, wenn er wirklich jedes Medienangebot in seinem Unternehmen nutzte, um ein Los mehr in der Lostrommel des OLG zu haben. Ihnen das vorzuwerfen, wäre Unsinn: Das haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten alle so gemacht.

Das OLG hatte dem sogar einen Riegel vorzuschieben versucht: So waren die Einzelbewerbungen von Journalisten nicht zulässig, wenn sich ihre Redaktion schon beworben hatte. Es konnte ja nicht ahnen, wer hinter “Radio Charivari” oder anderen Angeboten zu finden ist. Lustigerweise haben sie allerdings das Istanbul-Studio von “Al Jazeera” als türkisches Medium angesehen. Der Trick war besonders clever, wie es scheint.

Die “taz”, die “FAZ” und die “Zeit” sind in keiner Weise berücksichtigt worden. Sie hatten Pech – und sind tatsächlich draußen. Das gilt auch für die “Welt”. Die “Bild” wird es nicht nötig haben, mit ihnen einen Pool zu bilden.

Verantwortlich für den Schlamassel sind aber die Juristen des OLG München. Sie hatten die Konsequenzen ihres eigenen Verfahrens nicht verstanden. Kein Wunder: Medienpolitik und Ökonomie sind nicht ihr Fachgebiet. Will man ihnen das jetzt vorwerfen? Ihr Dilettantismus war wohl zwangsläufig. Eine substantielle Kritik am Verfahren war vorher allerdings auch nicht zu lesen gewesen.

Insofern müssen wir uns jetzt wohl alle an die eigene Nase fassen.
 

Update

Mittlerweile hat die “Brigitte” angekündigt, ihren Platz mit dem “Stern” kollegial zu teilen. Im 1. Verfahren hatte sie sich übrigens nicht um eine Akkreditierung bemüht. Die DPA will ebenfalls den Platz ihres englischsprachigen Dienstes an AFP und Reuters abgeben. Von ihrer Tochter “Rufa Rundfunk-Agenturdienst” ist allerdings bisher nicht die Rede. Der ebenfalls ausgeloste “Radio Dienst” hat als Dienstleister für bayerische Privatradios übrigens am 22. März seine Einstellung zum 1. Juli angekündigt – was ihn aber nicht daran hinderte, sich noch um einen Presseplatz beim NSU-Prozess zu bewerben. Bei diesem Verfahren klemmten offenkundig auch zwei Loskugeln.
 
Crosspost von Wiesaussieht

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