#ACTA

Die Wissenschaft und der Geist von ACTA

von , 12.6.12

Gestern habe ich auf der Berliner Anti-ACTA-Demonstration darüber gesprochen, warum man als Wissenschaftler/in ACTA und vor allem die dahinterstehende Ideologie strikt ablehnen sollte. Eine Aufzeichnung der Rede findet sich hier (ca. ab Minute 3:00). Hier ist der Text meiner Rede (da ich nicht Wort für Wort abgelesen habe, stimmt er mit der Aufzeichnung nicht haargenau, aber doch ziemlich weitgehend überein).

Ich bin heute hier, um als Wissenschaftler und als Urheber über ACTA zu reden. Wenn ich mit Kollegen an der Uni über ACTA rede, fragen die mich oft, warum wir wegen ein paar abgemahnten Filesharern so einen Aufwand machen.
Und dann sage ich ihnen: Wir sind doch auch alle Filesharer.

Wir könnten keine Seminare machen, wir könnten unsere Forschungsergebnisse nicht austauschen, wir könnten Universität so, wie sie gedacht ist, überhaupt nicht machen, wenn wir uns nicht über die Nutzungsrechte der Verwerter — der großen Wissenschaftsverlage — jeden Tag dutzendfach hinwegsetzen würden. Auf eigenes Risiko. Und dabei verlassen wir uns ausschließlich auf die Kulanz der Verlage, die natürlich wollen, dass wir ihnen unsere Forschungsergebnisse weiterhin zur Verfügung stellen, und die uns deshalb selten abmahnen.

Aber schon bei den Lehrerinnen und Lehrern, die unsere Texte vielleicht im Unterricht verwenden wollen, ist normalerweise Schluss mit der Kulanz. Der Schultrojaner, mit dem die Schulen überwacht werden sollten, verkörpert wie kaum ein anderes Projekt der letzten Zeit den Geist von ACTA.

Und natürlich geht es um viel mehr als Filesharing. Es geht auch um viel mehr, als die ACTA-Verträge. Es geht um den Geist, der hinter diesen Verträgen steckt.
Denn dieser Geist ist schädlich für eine freie Gesellschaft, er ist schädlich für Kunst, Bildung, Wissenschaft und für jede Art von kreativer Tätigkeit.

Für die Initiatoren und Befürworter von ACTA sind Ideen etwas, das dem Profit einer kleinen Gruppe von Privilegierten dienen soll. Und dazu soll eine Tradition zementiert werden, in der Ideen als „Eigentum“ von Verwertern gelten, die ihre Eigentumsrechte dann mit allen Mitteln schützen und ihre kommerziellen Interessen mit allen Mitteln durchsetzen können.

Das Internet, das zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ein weithin zugängliches Medium für das individuelle und gemeinsame Entwickeln von Ideen und für das Teilen und Verteilen dieser Ideen bereitstellt, dieses Internet ist für diese alte Tradition zu einer feindlichen Macht geworden, die es mit allem Mitteln zu bekämpfen gilt.

Denn die gemeinsame Entwicklung und der freie Austausch von Ideen sind die größte Bedrohung für den Geist von ACTA.

Der ausschließlich auf Besitzstandswahrung und die Übertragung alter Macht- und Kontrollstrukturen auf die radikal veränderte gesellschaftliche Wirklichkeit des Internets fixierte Geist von ACTA ignoriert die völlig neuen Möglichkeiten zur Teilhabe nicht nur an den Ergebnissen von Schaffensprozessen, sondern an den Schaffensprozessen selbst.

Wir stehen im Prinzip zum ersten Mal seit Erfindung des Buchdrucks vor einer echten Weiterentwicklung der Art und Weise, wie Kultur und Wissen entstehen und sich verbreiten können.

In der Wissenschaft ging es theoretisch schon immer um das gemeinsame Entwickeln von Ideen, das Aufbauen auf Ideen anderer, und das Weitergeben der eigenen Ergebnisse an andere. Es ging theoretisch schon immer darum, das Wissen der Menschheit zum Wohle der Menschheit zu vergrößern.

Praktisch ist es erst das frei und allgemein zugängliche Internet, das es ermöglicht hat, diese wissenschaftlichen Ideale auch wirklich konsequent umzusetzen. Erst durch ein freies und allgemein zugängliches Internet habe ich als Wissenschaftler tatsächlich einen großen Teil des bereits vorhandenen Wissens griffbereit. Erst durch ein freies und allgemein zugängliches Internet habe ich als Wissenschaftler die Möglichkeit, mit Forscherinnen und Forschern auf der ganzen Welt in Echtzeit zusammenzuarbeiten, meine eigenen Ergebnisse sofort verfügbar zu machen, und durch andere überprüfen und kritisieren zu lassen.

Das ermöglicht eine hohe Geschwindigkeit, eine hohe Qualität und eine hohe Zugänglichkeit wissenschaftlicher und kultureller Innovation.

Diese Weiterentwicklung darf nicht den wirtschaftlichen Interessen einiger weniger geopfert werden, die die Informationstechnologie des einunzwanzigsten Jahrhunderts in die Formen der Informationstechnologie des neunzehnten Jahrhunderst pressen wollen.

Und das gilt selbst dann, wenn man Ideen als Eigentum betrachtet. Denn der Geist von ACTA verletzt eklatant die ethischen Prinzipien, an denen sich eine freie und demokratische Gesellschaft im Umgang mit Eigentum orientieren sollte.
Das Grundgesetz ist lässt da eigentlich keinen Zweifel: „Eigentum verpflichtet“, heißt es in Artikel 14, und „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Wenn der Gebrauch von „geistigem Eigentum“ sich im rücksichtslosen Durchsetzen kommerzieller Interessen erschöpft, sollten selbst diejenigen, die sich von der Idee des geistigen Eigentums nicht — oder noch nicht — trennen wollen ihre Gefolgschaft verweigern.

Denn selbst wer es für legitim hält, Immaterialgüter wie Eigentum zu behandeln sollte mit uns einer Meinung sein, dass der Schutz von Eigentumsrechten niemals die radikalen Eingriffe in bürgerliche Freiheiten zur Folge haben darf, die auf der Grundlage von ACTA möglich werden.

Als Wissenschaftler und Wissenschaflerinnen, als Kreative, als Urheber und Urheberinnen fordern wir, dass Diskussionen um den richtigen Umgang mit Immaterialgütern weder die freie Entwicklung des Internets noch die bürgerlichen Grundrechte den Einzelinteressen einiger weniger untergeordnet werden dürfen.
Deshalb sind wir heute hier, deshalb sagen wir NEIN zu ACTA und NEIN zu dem Geist, der hinter ACTA steht.

Deshalb fordern wir die Politik auf, die Diskussion um eine Ratifizierung von ACTA hier und heute zu beenden und eine Diskussion darüber zu beginnen, wie wir zu einem Umgang mit Ideen, Kunstwerken, Erfindungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen finden können, der eine maximale Teilhabe aller sichert.

Crosspost vom Sprachlog unter CC-BY-SA 3.0 Deutschland

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