von Franz Sommerfeld, 27.8.15
In früheren Zeiten galten Flüchtlingsströme oft als Vorboten nahender Kriege, gelegentlich wurden die Flüchtlingstrecks von den vorrückenden Truppen überholt. Soweit ist es noch nicht, es sei denn, man notiert die vereinzelten Terroranschläge unter dem Begriff der asymmetrischen Kriegsführung. Und sicher wird es wohl nur eine Frage der Zeit sein, bis die Waffe eines nach Europa zurückgekehrten Terroristen nicht klemmt und trotz des beindruckenden Mutes Einzelner ein Blutbad auslöst. Mit den in Österreich in einem Lastwagen verwesenden Leichen dringt der Geruch des Krieges bereits heute nach Europa. Langsam sickert in diesem europäischen Sommer die Erkenntnis in die öffentliche Debatte, dass an den südlichen Grenzen Europas im Nahen Osten und Teilen der arabischen Welt ein Krieg ausgebrochen ist, der sich am ehesten mit dem dreißigjährigen vergleichen lässt.
Richard Haass hat schon vor einem Jahr in „The New Thirty Year’ War“ diese Parallele gezogen. Volker Perthes entwickelt in seinem klugen und informativen (gerade bei Suhrkamp erschienenen) Essay „Das Ende des nahen Ostens, wie wir ihn kennen“ die Analogien zu den Jahren 1618 bis 1648: „Die verschiedenen Lager werden über ihre Zugehörigkeit zu eine der zwei großen Konfessionsgemeinschaften definiert, auch wenn es nicht in erster Linie um Religion, sondern um die Interessen von größeren und kleineren Mächten geht, die aus Opportunitätsgründen, wenn nötig, sehr wohl über ihre konfessionellen Schatten springen können… Die Auseinandersetzung überspannt eine ganze Region, auch wenn sie nicht in allen Ländern und nicht überall gleichzeitig ausgetragen wird. …Was Bürgerkrieg und was internationaler Krieg ist lässt sich nicht immer präzise auseinanderhalten. Die Zonen faktischer Herrschaft, die Staaten, freie Städte, religiöse Autoritäten, Heere, Milizen oder Räuberbanden über Personen und Territorien ausüben, überlappen einander oft genug.“ (Position 1593 im E-book) Da weder die USA noch Europa als ordnende oder moderierende Macht auftreten wollen oder können, sondern sich darauf beschränken, partiell zu intervenieren, wird dieser Kriegszustand anhalten, bis sich eine völlig neue Macht- und Staatenstruktur herausbildet.
Nur langsam wächst in Europa die Einsicht, dass die Flüchtlingsströme keine Übergangserscheinung sind, sondern – allenfalls ein wenig durch Jahreszeiten und Wetter gesteuert – zu einer sich über Jahre hinziehenden „Normalität“ werden. Die Flüchtlinge verkleinern den Abstand zwischen den Kriegsgebieten des Nahen Ostens und Europa. Gerade die Dramatik dieser Wochen lässt die Versuche Großbritanniens und Ungarns, sich durch Draht oder anderes einzuzäunen, in ihrer ganzen Hilflosigkeit sichtbar werden. Das bleibt Vergangenheit. Das alte innereuropäische Grenzregime ist nicht wiederherzustellen, und selbst im Falle Ungarns würde wohl die Mehrheit der Bürger nicht von einem neuen eisernen Vorhang eingeschlossen werden.
Eine europäische Lösung ist überfällig. Und hier könnte sich Angela Merkels Neigung zum Pragmatismus durchaus als hilfreich erweisen.
Aber auf der anderen Seite ist das Dublin-Verfahren, nach dem Asylbewerber dort registriert werden, wo sie erstmals europäischen Boden betreten, zusammen gebrochen, und damit das zentrale Instrument zur Steuerung der Flüchtlingsverteilung. Die Regierungen von Italien und Griechenland, und das ist ihnen in diesem Fall nicht vorzuwerfen, sind völlig überfordert. Daher ist eine europäische Lösung überfällig. Und hier könnte sich Angela Merkels Neigung zum Pragmatismus durchaus als hilfreich erweisen. Es liegt, so zynisch es klingen mag, eine Chance in der Not der Menschen. Sie zwingt zur Konzentration auf das Wesentliche und eigentlich Selbstverständliche, auf die Hilfe für Menschen. Denn hier zu Lande wird die Debatte um Flüchtlinge sehr schnell ideologisch geführt. Jeder Streit über Höhe oder Form der Leistung, über die Geschwindigkeit der Anerkennungs-Prozesse gerät schnell zu einer Klassifizierung in Gut und Böse, in Flüchtlingsfreunde und Flüchtlingsfeinde.
Ein europäischer Kompromiss wird eine Anpassung der Leistungen bringen. Für Deutschland bedeutet das im Zweifel eine Absenkung, wie sie auch die Westbalkan-Staaten von der Bundesregierung fordern. Sie streben einen Eintritt in die EU an und fürchten den Aderlass ihrer aktivsten Bürger, zeigen sich aber nicht bereit, ihr Land so zu modernisieren, dass die jungen bleiben. Dass im Strom der Kriegsflüchtlinge auch Wirtschaftsflüchtlinge ihren Weg nach Europa suchen, ist verständlich. Aber eben so selbstverständlich sollte eine schnelle Ablehnung in den Fällen sein, wo der Flüchtlingsstatus nicht erfüllt wird.
Europa und Deutschland brauchen eine feste Ordnung für den zu erwartenden sich über viele Jahre hinziehenden Flüchtlingsstrom. Dazu gehören ein schneller Zugang zur Arbeit und eine Reform der Einwanderungsregeln. Das kann helfen, die Ressentiments in Zeiten wachsender Flüchtlingszahlen und vermutlich auch steigender Terroranschläge in Grenzen zu halten und auf der beeindruckenden Hilfsbereitschaft der Bürger aufzusetzen. Wohl wissend, dass sie sich in diesem Maße über die Jahre nicht halten wird.
Mittlerweile gibt es erste Signale wie die Atom-Einigung mit dem Iran. Doch noch scheinen die Beteiligten des neuen Dreißigjährigen Krieges nicht ausreichend erschöpft. Zu viele werden weiter darauf setzen, militärisch zu siegen. Erst wenn diese Hoffnung versiegt, besteht eine Chance auf diplomatische Lösungen. Spätestens zu dem Zeitpunkt können die Staaten, in denen die Flüchtlinge des Dreißigjährigen Krieges dann längst heimisch geworden sind, eine moderierende Rolle übernehmen. Bis dahin ist es noch weit hin.
(In einer früheren Version dieses Textes wurde ein Bezug zum Wiener Kongress als Abschluss des dreißigjährigen Krieges hergestellt. Diese Passage wurde korrigiert.)
Möchten Sie regelmäßig über neue Texte und Debatten auf Carta informiert werden? Folgen Sie uns auf Facebook und Twitter.