#Bundestagswahl

Mehr Dialog wagen: Die SPD braucht einen neuen Führungsstil

von , 30.9.09

Am Schluss war nur noch das mediale Dauerlamento über den Mangel an Leidenschaft, Programmatik und Zuspitzung langweiliger als der Wahlkampf selber. Dabei war die Beobachtung ja richtig: dies werde keine Richtungswahl, von Wechselstimmung war nichts zu spüren. Beseelt von dem (trügerischen) Gefühl, die Wirtschafts- und Finanzkrise mit einem blauen Auge überstanden zu haben, ging es den Wählern anders als den Japanern oder Amerikanern nicht um Change you can believe in (darüber kann auch das starke Abschneiden der FDP nicht hinwegtäuschen), sondern primär um die Frage, welche politische Kraft am besten in der Lage ist, den Status Quo zu sichern.

Ironie der Geschichte: Herausgekommen ist ein mittleres politisches Erdbeben, das das Land verändern wird und die SPD, dessen traditionsreichste Partei, aus den Angeln gehoben hat. Die Sozialdemokratie liegt darnieder und muss sich unter der Führung von Sigmar Gabriel neu aufstellen.

Dass große Koalitionen die Ränder stärken und es den jeweiligen Partnern schwer machen, ihre Anhänger zu mobilisieren, ist ein Allgemeinplatz, erklärt aber das miserable Abschneiden von SPD und CDU nicht. Die Union hat sich unter Angela Merkel inhaltlich entleert und ihren konservativen Kern – Stichwort Elterngeld, Kritik am Papst, Mindestlohn – aufgegeben. „Mal bin ich liberal, mal bin ich konservativ, mal bin ich christlich-sozial. Und das macht die CDU aus“, so formulierte die Kanzlerin die neue Beliebigkeit und formte die CDU zur Partei in ihrem Antlitz. Damit rücken die auch vom grünen Spitzenpersonal längst nicht mehr ausgeschlossenen schwarz-grüne Bündnisse näher. Der Preis der Flexibilität: die Union unterbot das gemessen an früheren Werten miserable Ergebnis von 2005 nochmal.

Einem unklaren Profil geschuldet ist wohl auch das relativ enttäuschende Abschneiden der Grünen, die als einzige kleine Partei nicht in der Lage war, von der Schwäche der Großen zu profitieren. Fritz Kuhn hat die Zeit der großen Volksparteien für beendet erklärt. Das Problem: als kleinste der Oppositionsparteien haben die Grünen so gut wie nicht davon profitiert. Wollen sie sich neue Wählerschichten erschließen, müssen sie die Frage klären, wie sie sich künftig im Konzert der drei Oppositionsparteien positionieren wollen. Geben die Grünen den Kurs der Selbstständigkeit, der die letzten Wahlkämpfe prägte, zu Gunsten einer stärkeren Orientierung nach links auf? Und gehen damit die Flügelkämpfe wieder los?

Letztere sind in der SPD nach dem Negativrekord-Ergebnis längst ausgebrochen. 2,1 Millionen ehemalige SPD-Wähler sind den Urnen ferngeblieben. Die Tatsache, dass die SPD ihr Schicksal inzwischen mit vielen ihrer vor ein paar Jahren noch fast die gesamte EU regierenden Schwesterparteien in Europa teilt, tröstet nur auf dem ersten Blick. Denn jenseits der Tatsache, dass all jene Parteien, die vor wenigen Jahren noch den freien Markt, weniger Staat und Deregulierung gepredigt haben, heute schweigen und sozialdemokratische Positionen übernehmen: die Probleme der SPD sind hausgemacht. Nie gelang es der deutschen Sozialdemokratie, Kapital aus der Wirtschaftskrise zu schlagen, Merkels „Klug aus der Krise“-Wahlkampf etwa durch Thematisierung und Emotionalisierung herrschender Ungleichheit etwas entgegenzusetzen und so ein Bedürfnis nach Veränderung herbeizuführen, welches in Wählerstimmen hätte umgemünzt werden können. Elf Jahre Regierungsbeteiligung haben dies nicht leichter gemacht, doch unmöglich war es nicht.

Eine erfolgreiche Mobilisierung hätte vorausgesetzt, dass man auch die eigene Partei nicht von Veränderungen ausnimmt und gesellschaftliche Realitäten zur Kenntnis nimmt, statt diese auszublenden oder zur Konstruktion abgehobener Demoskopen und Journalisten zu erklären. Was Kampfesmut und Stolz vermitteln sollte, wirkte beim Betrachter trotzig, autistisch und – man denke an Münteferings „Merkel kann schon mal die Koffer packen“ – realitätsfern. Warum sollte man es der SPD zutrauen, die Geschicke der größten und wichtigsten Volkswirtschaft des Kontinents durch die Krise zu steuern, wenn sie noch nicht mal in der Lage ist, ihre eigene Situation realistisch einzuschätzen?

Statt gebetsmühlenartig darauf hinzuweisen, dass das Ergebnis am Wahltag anders aussehen werde als in den Umfragen, mithin den Eindruck zu erwecken, man warte nur darauf bis die Wähler wieder auf den sozialdemokratischen Pfad der Tugend zurückkehren, hätte die SPD vor ein paar Monate offen die schwierige Ausgangslage und, ja, manche Fehler der Vergangenheit ansprechen müssen.

Die in vielerlei Hinsicht medial verunglückte Vorstellung des SPD-Kompetenzteams wäre einer von vielen möglichen Anlass gewesen, rechtzeitig öffentlich auf die Reset-Taste zu drücken und das Land, Parteimitglieder und Sympathisanten einzuladen, am Projekt einer zur Erneuerung bereiten Sozialdemokratie mitzuwirken. Dabei hätte man sich weder von den Reformen der Vergangenheit distanzieren noch gegenüber den Kritikern in Sack und Asche zu gehen müssen.

Nötig gewesen wäre vielmehr ein Neustart in Ton und Stil, der den vielen enttäuschten und demotivierten SPD-Anhängern das Gefühl gegeben hätte, gehört und verstanden worden zu sein und es ihnen so möglich gemacht hätte, sich wieder mit der Sozialdemokratie zu versöhnen. Steinmeier hat dies zuletzt, etwa bei der Abschlusskundgebung am Brandenburger Tor, mit der Aussage, die SPD sei „nicht unfehlbar“, aber verfüge wenigstens über den richtigen „Kompass“, versucht. Aber ein wirklich überzeugendes Signal, dass man sich der Enttäuschung vieler Anhänger bewusst ist, diese ernst nimmt und bereit ist, dazuzulernen, hat es nicht gegeben.

Just darin, in einem Führungsverständnis, das der eigenen Anhängerschaft eine zentrale Rolle einräumt und Kommunikation nicht als Einbahnstraße versteht, besteht die wichtigste Lektion des in den vergangenen Monaten viel bemühten, um nicht zu sagen überstrapazierten Wahlkampfs Barack Obamas. Obama sucht auch an der Regierung regelmäßig den Dialog mit seinen Wählern – nicht aus hehren demokratiepolitischen Motiven, sondern vor allem aus Kalkül: um sich die Unterstützung seiner Anhänger zu sichern und um die aggressive Kritik der konservativen Rechten zu kontern, die den Präsidenten wahlweise als Kommunisten, Faschisten oder gebürtigen Keniaer diffamiert, der folglich kein legitimer US-Präsident sein könne.

Obamas Strategie zugrunde liegt die Erkenntnis, dass politische Führung aus zwei Akteuren besteht: Dem Führenden auf der einen und seinen potentiellen Anhängern auf der anderen Seite. Erst der imaginäre Pakt, den beide schließen, macht den Führenden zum Führenden und die Anhänger zu Anhängern. Das heißt nicht, dass sich der Führende in jeder Einzelfrage von den Präferenzen seiner Anhänger abhängig machen muss, schließlich gehört es zum Wesen der Repräsentation, dass die Führenden im Namen ihrer Anhänger aber ohne deren bindenden Auftrag handeln.

Doch Führung erfordert den kontinuierlichen Dialog, damit sich Führender und Geführte stets die Grundlagen ihrer Beziehung übermitteln und deren bestehende Gültigkeit überprüfen können. Just diesen Dialog pflegt Obama mit seinen Anhängern und der US-Öffentlichkeit insgesamt auch nach der Wahl. Auf Grundlage dieses „neuen Gesellschaftsvertrags“ konnte sich Obama nach Amtsantritt diverse Male bei seinen Anhängern öffentlich für Fehler entschuldigen. Solche Schuldeingeständnisse waren bei der noch aktuellen SPD-Spitze nicht vorstellbar. Selbst am Montag nach der Wahl reklamierte sie Führung – über den Übergangsprozess – und den Anspruch, eine Partei zu vertreten, deren Mitglieder sich längst und spürbar von ihr abgewandt hatten.

Angesichts ihrer nachlassenden Bindungskraft geht es auch für die deutschen Parteien immer mehr darum, die von ihnen getroffenen Entscheidungen nicht nur ex-post an die Bürger zu vermitteln, sondern sie im kommunikativen Austausch nach innen und außen zu erarbeiten und zu begründen. Münteferings Kurz-Satz-Reden dagegen hallte immer ein „genug gequatscht“ nach.

Tempi passati. Die zukünftige Parteiführung um Sigmar Gabriel steht vor der Herausforderung einen Dialog mit Parteimitgliedern, Anhängern und der breiten Öffentlichkeit in Gang zu setzen, der nicht nur die Frage der Öffnung zur Linkspartei zum Inhalt hat, sondern auch das Selbstverständnis und den modus operandi der Sozialdemokratie insgesamt. Man muss hier gar nicht Obama bemühen. Es reicht der Blick auf die eigene Parteigeschichte. Denn es war Willy Brandt, der wie kaum ein anderer auf die Fähigkeiten von Mitgliedern und Funktionären setzte und sie einlud, Initiative zu ergreifen und Teil eines gemeinsamen Projektes zu sein. Die SPD braucht ein neues Zentrum, das unter Führung mehr versteht als Autorität, Gefolgschaft und Disziplin.

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