#Berichterstattung

Angst, Druck, Lobbyarbeit: Warum Journalisten wichtige Themen übersehen

von , 24.5.13

Etwa 20.000 Menschen verklagen pro Jahr die Deutsche Rentenversicherung, weil sie sich von ihr ungerecht behandelt fühlen: Jahrelang wird vor deutschen Gerichten über Krankheiten gestritten, die eine Berufstätigkeit unmöglich machen können – oder eben nicht.

Aber obwohl Zivil-, Arbeits- und Sozialprozesse viel mehr Menschen betreffen als Verhandlungen über Mord- und Todschlag und es sowieso mehr als doppelt so viele von ihnen gibt, berichten Medien fast nur über vermeintlich skandalträchtige Strafprozesse. Die Pressesprecher der Gerichte kommunizieren auch fast ausschließlich deren Termine, entscheiden dadurch mit, was Journalisten relevant zu finden haben – oder eben nicht.

Über den Vollzug der Strafen wird dagegen nur sporadisch berichtet. Dass es eine gesetzliche Arbeitspflicht für Gefangene gibt, sie aber trotz jahrelanger Arbeit keine Rentenansprüche erwerben – kein Thema in den deutschen Medien. Obwohl es 30.000 Menschen betrifft. Die allerdings Straftäter sind. Und keine Pressemitteilungen an Redaktionen verschicken oder vorhaben, Anzeigen zu schalten oder ein Abonnement zu zeichnen.

Beide Themen hat die Initiative Nachrichtenaufklärung 2012 in die TOP 10 der vernachlässigten Themen Deutschlands gewählt – neben die als Lifestyle vermarktete Antibabypille mit erhöhter Thrombosegefahr, gekaufte Kundenbewertungen im Netz und den undurchsichtigen Markt mit der humanitären Hilfe.

Denn die Themen haben – so verschieden sie inhaltlich sind – einiges gemein: Sie wurden von den Medien vergessen, übersehen, nicht thematisiert – obwohl sie für viele Menschen wichtig sind. Sie zu bearbeiten, kostet Mühen: Dass die Bundesländer sich die Rentenbeiträge für Gefangene sparen, veröffentlichen sie nicht von sich aus. Komplizierte Rentenstreits vor Gericht ziehen angestellte und freie Autoren tagelang von anderer Arbeit ab, ohne dass ein aktueller Beitrag dabei herausspringt. Und um professionell gestrickte PR-Lügen zu durchschauen, brauchen Journalisten einen freien Kopf und eine Redaktion, die ihnen unabhängiges Arbeiten ermöglicht.

Gegebenheiten, die in Deutschland nicht selbstverständlich sind.

„Eine Zensur findet nicht statt“, sagt das Grundgesetz in Artikel 5 – die Basis der Pressefreiheit. Dass die innere Pressefreiheit heute mehr in Gefahr ist als noch vor fünf oder zehn Jahren, finden über die Hälfte aller für eine aktuelle Studie des Watchblogs Pressefreiheit in Deutschland befragten Journalisten.

Sie fühlen sich eben nicht frei, zu arbeiten, was und wie sie wollen:

  • Von den 291 Journalisten, die an der nicht-repräsentativen Studie teilnahmen, gaben 73 Prozent an, bestimmte Themen aus Zeitmangel nicht umzusetzen.
  • Gleichzeitig sagten viele (71 Prozent), sie müssten in den Redaktionen heute mehr nicht-journalistische Aufgaben übernehmen.
  • 72 Prozent der Journalisten beobachten, dass in ihrer Redaktion Rücksicht auf die Interessen von Inserenten genommen wird.

Sie selbst dagegen fürchten zunehmend, dass ihr journalistischer Arbeitsplatz aus ökonomischen Gründen eingespart werden könnte. Druck, Angst, Zeitmangel, kombiniert mit verstärkter Berücksichtigung von PR-Interessen, führen zu einer stromlinienförmigen Berichterstattung, diagnostiziert der Autor der Studie: 77 Prozent der interviewten Journalisten haben laut der Befragung bereits „einen Anstieg des vorauseilenden Gehorsams“ bemerkt.

Themen wie die fehlende Rentenversicherung von Strafgefangenen, die – inhaltlich unpopulär – die Behandlung von Tätern kritisieren, die die Werbestrategien großer Konzerne hinterfragen, oder die – rechercheintensiv – die Geldflüsse humanitärer Organisationen durchforsten, haben es so immer schwerer. Und ganz ohne staatliche Zensur hat dann eine andere Art Zensur stattgefunden: Eine, bei der gerechnet wurde, ob es sich für einen freien Autor überhaupt lohnen kann, einen Gerichtsprozess zu begleiten (finanziell wohl eher nicht). Eine, bei der überlegt wurde, ob man mit diesem Thema die Anzeigenkunden verprellt oder beim Verlag einen schlechten Eindruck hinterlässt.

Weil es auch in einem Land ohne verordnete Pressezensur viele Gründe für die Vernachlässigung von Nachrichten gibt, kürt die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) schon seit 1997 einmal im Jahr die TOP 10 der vernachlässigten Nachrichten Deutschlands.

Dafür diskutiert eine Jury aus Wissenschaftlern und Journalisten einen Tag lang über die von Studierenden der Journalistik-, Politik- und Medienwissenschaften verschiedener Hochschulen recherchierten Themen und stimmt anschließend ab.

Die Zusammensetzung der Jury unterscheidet die deutsche Initiative von ihrem Gründungsvorbild Project Censored aus den USA, wo ausschließlich Wissenschaftler über die „zensierten“ Themen entscheiden. Bei der INA sollen die verschiedenen Sichtweisen von Berufspraktikern und Forschern einen ganzheitlicheren Blick auf Themen ermöglichen, überlegten sich bereits die Gründer.

Die Themen schlägt die Bevölkerung vor. Bürger, Journalisten, Wissenschaftler, Vereine oder Organisationen reichen das ganze Jahr über Themen ein, die sie für relevant, aber vernachlässigt halten. In den Rechercheseminaren – aktuell an der Technischen Universität Dortmund, der Universität Siegen und an der Macromedia Hochschule für Medien und Design – überprüfen Studierende die Richtigkeit und Relevanz der Themenvorschläge und mithilfe von Pressedatenbanken die Präsenz beziehungsweise Nicht-Präsenz des Themas in den Medien.

Ist es relevant, aber in den Medien vernachlässigt, kommt es vor die Jury. Wann etwas relevant ist, und wie viel Berichterstattung angemessen ist, wird dabei intensiv und oft auch kontrovers diskutiert. Wie und warum Journalisten bei der Themenfindung Wichtiges übersehen, wie man im Recherchealltag hinter die Oberfläche von scheinbar offensichtlichen Fakten schauen kann – all das lernen dabei die jungen Journalisten und Journalistinnen. Ein Ausbildungsziel, das ebenfalls dazu beitragen soll, den deutschen Journalismus zu verbessern.

Das ist auch insgesamt das Ziel der INA. Nach jeder Jurywahl werden die gekürten Themen als Juryberichte auf der Webseite veröffentlicht – mit Quellen, weiterführenden Informationen, Expertenzitaten: Damit die Themen es doch noch in die Medien schaffen.

Und wir diskutieren in Interviews über die möglichen Gründe, warum diese Themen untergegangen sind: Ist der gängige Nachrichtenbegriff ein Problem, wird zu sehr auf die Prominenz der Gesprächspartner geschaut, auf die Schnelligkeit der Veröffentlichung, orientieren sich deutsche Journalisten zu stark an ihren Kollegen, oder sind sie den Eliten zu nah? Schaut man in die untergegangenen Themen, kann man viele dieser Arbeitsthesen mit Ja beantworten.

Im Juli wird wieder gewählt, am 12. gibt es die Ergebnisse. Entsprechend arbeiten die Rechercheseminare gerade auf Hochtouren, denn auch 2013 wurde über Wichtiges nicht berichtet.
 

Themenvorschläge und Anregungen sind das ganze Jahr über willkommen und kommen über http://www.derblindefleck.de/index.php/thema-einreichen/ oder http://www.derblindefleck.de/index.php/kontakt/ bei uns an.

 

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