#Apple

Abgesang des Nationalstaates

von , 14.2.16

Hoheitsaufgaben werden outgesourct, Staatseigentum privatisiert und die öffentlichen Leistungen reduziert. Trotzdem steigen die Staatsschulden, weil die Megakonzerne aus ihrer Verantwortung entlassen werden. Apple hat in den vergangenen fünf Geschäftsjahren gerade einmal 40 Millionen Euro Ertragssteuern an den deutschen Fiskus bezahlt. Im gleichen Zeitraum erzielte der Konzern nach Schätzungen der ZEIT allein mit dem Verkauf von iPhones auf dem deutschen Markt einen Bruttogewinn von 4,5 Milliarden Euro. Nach einer regulären Schätzung hätten dafür rund 1,3 Milliarden Euro Steuern fällig werden müssen.

Am Beispiel der USA hat der Ökonom Gabriel Zucman aufgezeigt, dass die effektiven Steuersätze auf Unternehmensgewinne kontinuierlich sinken. Doch das sind nur aktuelle Beispiele einer langen Entwicklung. Über den “Unsinn der Nationen” schrieb unlängst der Spiegel und lieferte nebenbei eine für die globale Geldelite wohlfeile Story. Denn die spart schätzungsweise 190 Milliarden Dollar jedes Jahr weltweit durch Steuerflucht und Steuervermeidung alleine aus Finanzvermögen. Im Gegenzug blüht das steuerrechtlich äußerst lukrative Stiftungswesen auf, was ab einer gewissen Größenordnung nichts anderes als eine Privatisierung und Entdemokratisierung der Bildungs- und Sozialpolitik bedeutet.

Will man Konzerne an sozialen oder ökologischen Kosten „übermäßig“ beteiligen, droht der Gang vor unabhängige Schiedsgerichte, was Regierungen Milliarden an Schadensersatz kosten kann. Mit dem Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) wird ein Instrument zunehmend gegen die Industriestaaten eingesetzt, welches gegen Ende der 50er Jahre entworfen und 1965 von der Weltbank durchgesetzt wurde, um die Investitionen westlicher Firmen in den postkolonialen Staaten zu sichern.

Noch 2008 zwang die Weltfinanzkrise den Interventionsstaat zu einem kurzen Comeback. Was dann folgte, war ein tragischer Epilog. Die kurze Episode der keynesianischen Intervention avancierte zum Pyrrhussieg. Die EU-Mitgliedsländer, gerade noch für gut genug befunden, mit Rettungsmaßnahmen und Konjunkturpaketen das System vor dem totalen Kollaps zu bewahren, befolgten unter dem Druck der eben erst geretteten Märkte eine Austeritätspolitik. Und die Finanzkrise wurde kurze Zeit später zu einer “Staatsschuldenkrise” umgeschrieben.

In seinem Buch “Vom Aufstieg und Untergang des Staates” prognostiziert der israelische Historiker Martin Van Creveld, dass die Kräfte der Globalisierung im Allgemeinen und die europäische Einigung im Speziellen viele Staaten noch zu unseren Lebzeiten in den Zusammenbruch oder zur Aufgabe weiter Teile ihrer Souveränität führen würden. Das war 1999. Längst sind Crevelds Thesen nicht nur ein politikwissenschaftlicher Allgemeinplatz – sie wurden auch von der Gegenwart eingeholt.

Es besteht kein Zweifel, dass sich das Modell des demokratischen Rechts- und Sozialstaates in einer tiefen Krise befindet. Sie reicht von Portugal bis Griechenland, das unter dem Druck der “Institutionen” Inseln und öffentliches Eigentum an private Investoren verscherbeln muss. Sie zeigt sich auch in der Flüchtlingskrise, in der die völlig außer Rand und Band geratenen Migrantenströme ein nicht nur symbolisches Äquivalent zu den enthemmten Waren- und Finanzströmen bilden. Sie offenbart sich in einer Handlungsunfähigkeit, die sich einst als Merkmal der failed states der Dritten Welt nun auch zunehmend in den Staaten der westlichen Welt manifestiert.

Schocktherapien und Visionen der Globalisierung

Die Geschichte des Niedergangs beginnt Anfang der 1970er Jahre: Mit dem Zusammenbruch von Bretton Woods brachen auch die Dämme der Kapitalströme. Mit den nun freien Wechselkursen, der Aufhebung der Kapitalverkehrskontrollen, der Deregulierung der internationalen Finanz- und Devisenmärkte im Laufe der 70er und 80er Jahre konnten auch die Notenbanken eine monetaristische Hochzinspolitik betreiben. Die ehemals regulierten nationalen Märkte waren nun dem globalen Standortwettbewerb ausgesetzt. Eine autonome nationale Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik schien auf einem Schlag illusorisch. Stattdessen waren die Staaten nun der „Disziplinierungsfunktion“ der Finanzmärkte unterworfen. Jeder Versuch, sich dem zu widersetzen, wird von den Ratingagenturen mit einer Herabstufung der Bonität abgestraft.

Der immer weiter gehende Abbau von Handelshindernissen, der sich nun mit dem Freihandelsabkommen TTIP in einer bisher noch nicht dagewesenen Weise radikalisiert, eröffnete den Unternehmen die freie Wahl zwischen den Produktionsstandorten. In Folge der sich globalisierenden Finanzmärkte entstanden die heute so machtvollen transnationalen Megakonzerne und Produktionsnetzwerke.

Ungeachtet der bedrohlichen Folgeerscheinungen dieser Entwicklungen weinen viele – vom linken bis ins libertäre Lager -, die wie der Wirtschaftsjournalist Henrik Müller im Spiegel ohnehin offene Grenzen fordern, dem Staat keine Träne nach. Doch die nächstliegende Frage, was danach denn kommen soll, wird allenfalls in Hörsälen oder im Silicon-Valley gestellt, wo vom transnationalen, massentauglichen Kosmopolit der Zukunft geträumt wird.

Dabei sind die Pioniere des Silicon-Valley vor allem eines: Anhänger einer liberal-libertären Ideologie. Der Idee, dass man keine Regierung, keinen Staat mehr brauche, wollen sie zur Hegemonie verhelfen. Unternehmen wie Google, Triebkräfte der Globalisierung in ihrer radikalsten Form, trachten danach, all seine Aufgaben selbst zu übernehmen. Und sie sind dabei auf einem guten Weg.

Etwa findet die Idee einer völlig neuen Demokratie, einer Weltveränderung, wie sie Google unterstützt, Anschluss in der Politikwissenschaft und politischen Philosophie. Die Philosophin Catherine Colliot-Thélène glaubt, im Rahmen der Globalisierung und der Entnationalisierung der Staatsbürgerschaft neue Perspektiven für eine Demokratie ohne demos und jenseits des staatlichen Gemeinwesens erkennen zu können.

Ihre Thesen zeigen, wie sehr das Bild des starken Staates der Nachkriegsgeschichte verblichen ist: Da sich das moderne politische Subjekt durch die überall zu beobachtenden gesellschaftlichen Partikularisierungsprozesse jeder Zuordnung zu einer Gemeinschaft entziehe, könne man „sich von der Idee und dem Ideal einer demokratischen Gemeinschaft (…) verabschieden.“ Wenn das stimmen sollte, wird Thatchers berühmtes Postulat zur selbsterfüllenden Prophezeiung: “There is no Society”.

Die vergessene Frage des Rechts

Doch das Modell einer transnationalen Bürgerschaft überzeugt Colliot-Thélène auch nicht. Sie sieht das entscheidende Problem: eine solche nichtstaatliche Gemeinschaft stellt kein Kollektiv dar, das „durch die Autorität einer Macht zusammengehalten wird, welche über das Monopol der legitimen Gewaltanwendung verfügt“.

Damit berührt Colliot-Thélène den neuralgischen Punkt aller postnationalen Entwürfe: Sie übersehen oder ignorieren die Bedeutung des durchsetzbaren Rechts für die Wirtschaftsordnung. Just diese Rechtsnormen privat- und öffentlich-rechtlichem Typs sind es aber, die sich vom “primitiven Recht”, nämlich Rechte und Pflichten ohne zuständiges Gewaltmonopol, unterscheiden.

Während die zentralen Kategorien des Privatrechts wie Eigentum, Freiheit und Vertrag eine direkte Gewährleistungsfunktion für die Marktwirtschaft innehaben, basiert Öffentliches Recht auf Unfreiheit, Unterordnung und Befehl. Aus diesem Grund wird das Öffentliche Recht von den Apologeten des freien Marktes zu Unrecht als Hindernis der wirtschaftlichen Prosperität ausgemacht. Doch seine erst einmal repressiven Eigenschaften sind es, die Stabilität gewährleisten. Alleine sie können einen fairen sozialen Ausgleich organisieren. Es ist gleichsam das Öffentliche Recht, das “auf privater Macht gegründete oder gar auf Gewalt rekurrierende Durchsetzung von Interessen minimiert”, wie der Rechtswissenschaftler Rolf Knieper schreibt.

Da Recht also mit der Macht zu seiner Verwirklichung aufs engste verbunden ist, steht die libertäre Parole “Markt statt Staat” – sprich Privatrecht ohne Öffentliches Recht – für eine marktfundamentalistische Dystopie. Ob es nun um private Schiedsgerichte im Rahmen des Freihandelsabkommen TTIP oder gar um eine gänzlich staatenlose Welt geht: Anders als Anarchokapitalisten wie die Silicon-Valley-Akteure oder der Milton-Sohn David Friedman propagieren, führt ein staatenloser Markt zu Chaos und Zerfall.

Ein Wirtschaftsprozess, der ausschließlich auf privatrechtlichen Verträgen basieren würde (“freier Markt”), ohne jede öffentlich-rechtliche Einschränkung der Verträge oder ohne jede Möglichkeit zur öffentlich-rechtlichen Vollstreckung der privaten Rechte könnte nur in der Theorie als Wirtschaftsprozess bezeichnet werden. Ein Prozess auf der Basis des Rechts wäre es jedenfalls nicht. – Academy for New European Political economics

Dessen Beispiele gibt es nicht nur in Zentralafrika genug. Es reicht ein Blick auf die Geschichte seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Zum ersten Mal konnte man Zeuge werden, wie ganze Staaten abgewickelt wurden. Die DDR durch die Treuhand, die Sowjetunion unter dem Einfluss der als Regierungsberater eingereisten Chicago Boys. In der Negation der Notwendigkeit des Aufbaus und der Erhaltung rechtsstaatlicher sowie sozialer Strukturen und Institutionen, wurde die rasche Privatisierung der Staatsindustrie, die Boris Jelzin Ende 1992 beschloss, dabei im Wesentlichen von internationalen Finanzinstitutionen und der US-Regierung getragen.

Im Geiste des “The market does it all” beschränkte man sich aber nicht nur auf Privatisierungen. Auch die schnelle und vollständige Liberalisierung des Handels, der Finanzmärkte, des internationalen Zahlungs- und Kapitalverkehrs, die kurzfristige Deregulierung und Autonomisierung des unternehmerischen Handelns wurde durchgesetzt. Den Staat schickte man auf Totalrückzug – in dem Glauben, Hayeks “spontane Ordnung” und ein wenig “Privatinitiative” wären das einzige, was es bräuchte, um “effiziente Märkte” entstehen zu lassen.

Entgegen dem Versprechen, dass die “kurze” Schockphase zu Wirtschaftswachstum und Wohlstand führen würde, entstand eine Raubökonomie. Neugegründete Privatbanken wickelten den gesamten Zahlungsverkehr des Staates ab, inklusive der Rentenzahlungen. Mit dem deponierten Geld wurden keine operativen wirtschaftlichen Vorgänge finanziert, sondern an den Devisen- und Anleihemärkten spekuliert. Die unregulierten Veräußerungen in einer Periode kaum noch funktionierenden öffentlichen Rechts führten zum Aufstieg der russischen Oligarchen und zur Verelendung weiter Teile der Bevölkerung. In einer Zeit des anarchokapitalistischen Chaos sank die durchschnittliche Lebenserwartung der Russen um 10 Jahre.

Selbst im alten Europa kann man nun Zeuge werden, wie fahrlässig der bisweilen freudige Abgesang auf den Staat ist. Mit voranschreitenden Deregulierungen und knapp 20 Jahren Verspätung hat die Finanzkrise auch hier nicht nur die allgemeine Gleichgewichtstheorie der Märkte falsifiziert, sondern auch die demokratiezersetzende Macht der Finanzindustrie und Investmentbanken verdeutlicht. Sie hat die daraus resultierende Notwendigkeit der Kontrolle und Regulierung der Märkte bewiesen; und zu guter Letzt: die Unabdingbarkeit, eine gerechtere Verteilungspolitik der erwirtschafteten Vermögen zu erreichen.

Vom demokratischen Rechtsstaat zur neoliberalen Verrechtlichung

Wie die Geschichte zeigt, sind Rückzug und Entmachtung der Nationalstaaten nicht nur Produkt eines unaufhaltsamen Schicksals der ökonomischen Globalisierung. Es waren nationale Regierungen, die sie überhaupt erst ermöglichten. Hinter der Entwicklung, die derzeit mit der neoliberalen Verrechtlichung der EU weiter voran getrieben wird, steht ein politischer Wille.

Diesem Willen entsprechend zielt der Steuerungsanspruch der EU vor allem auf die Schaffung eines gemeinsamen Marktes. Obwohl das Recht weiter an die Nationalstaaten mit ihren Gewaltmonopolen gebunden bleibt, wie das Bundesverfassungsgericht mit dem Lissabon-Urteil klarstellte, werden mit der Übertragung hoheitlicher Kompetenzen zugunsten eines EU-“Primitivrechts” die Geltungsbereiche der nationalstaatlichen Verfassungsordnungen weiter verringert.

Ein größerer staatlicher Regulationsraum, der verhindert, dass die transnationale Groß- und Finanzindustrie die Länder gegeneinander ausspielt, entsteht so gerade nicht. Stattdessen wird ein neoliberaler (De)Regulationsraum geschaffen, der im Interesse der Konzerne und des Finanzkapitals marktkonform gelenkt und regiert wird. Am Beispiel TTIP und der privaten Schiedsgerichte wird deutlich, dass nicht länger das Öffentliche Recht das Privatrecht schaffen und gewährleisten soll, sondern umgekehrt (!).

Demokratie und formelles nationalstaatliches Gewaltmonopol werden damit obsolet. Die Ergebnisse manifestieren sich in Vorschlägen, die jedes Wahlprogramm sprengen würden: Strategie Europa 2020. Europäisches Semester. EFSF. EFSM. Euro-Plus-Pakt. Six Pack. Two Pack. ESM. Fiskalpakt. Bankenunion. Verträge für Wettbewerbsfähigkeit. Nimmt man sich die Zeit, die Tragweite dieser in immer dichterer Abfolge durch die apathischen nationalen Parlamente gepeitschten Abkommen zu erfassen, bleibt eine Dystopie des 21. Jahrhunderts: Die Ökonomisierung ziviler und politischer Strukturen.

Abschied vom Gemeinwesen als Voraussetzung der Demokratie

Mit dem Nationalstaat wird den Bürgern das Instrument genommen, mit dem sie beginnend mit der Französischen Revolution ihre Interessen wahrnehmen konnten. Genau darauf rekurriert auch Colliot-Thélène: die Transformation der Bedeutung von Demokratie, die auch die Bestimmung der Figur des politischen Subjekts infrage stellt. Der Staatsbürger wird vom Kunden abgelöst, dem die Zukunft im Neusprech der Verwaltungsreformen seit den 1980er-Jahren ohnehin gehört. Doch der „Kunde“ ist kein politisches Subjekt, er teilt keine gemeinsame politischen Vision, keinen politischen Willen.

Öffentlichkeit bedeutete ursprünglich die Fähigkeit, den gemeinsamen Willen der Civitas herzustellen und durchzusetzen. Das Verschwinden dieses Politischen, der Idee eines Staates als politischem Gemeinwesen (Polis), ist die eigentliche Krise der Öffentlichkeit. – Rüdiger Suchsland

Die Krise der Demokratie ist die Krise des Staates und umgekehrt. Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit sind Errungenschaften, die mit dem Ausbau des Staates, seiner Institutionen und durch die Demokratisierung des Staatswesens erst ermöglicht wurden. Durch den Schutz der Grundrechte – und dabei sind die sozialen und politischen Rechte des Bürgers elementar – bezog der Staat seine historische Legitimität. Opfert er diese Rechte, schafft er sich selbst ab.

Ohne staatliches Gewaltmonopol aber, ohne ein staatlich kontrolliertes Bankensystem, ohne den Schutz der Bürger vor Betrügern, Schwindlern und Gewalttätern dient die Privatisierung alleine den Starken. Der Wettbewerb wird so zur Chimäre. Denn der freie Markt ist nichts ohne die Institutionen, die ihn regulieren und den Marktteilnehmern Erwartungssicherheit geben.

Die Geschichte hätte anders verlaufen können. Wenn, wie in der ursprünglichen Gründungsvision der EWG von 1957 beabsichtigt, die EU eine echte Verfassung hätte. Wenn alle ihre Organe demokratisch gewählt würden. Die Bürger hätten oben hinzugewonnen, was sie unten abgegeben haben. Ein solcher Machtzuschnitt, nebst einem offensiven Ausbau der EU zu einem demokratischen, sozialen Rechts- und Bundesstaat mit an gesamtwirtschaftlichen Zielen orientierter gemeinsamer Wirtschafts-, Geld-, Fiskal- und Sozialpolitik, ist jedoch über 50 Jahre hinweg verhindert worden.

Bei allem Abgesang: Das Ende der Staatlichkeit kann keine glaubhafte Vision bilden. Es bleibt zu hoffen, dass Totgesagte länger leben.

 


Möchten Sie regelmäßig über neue Texte und Debatten auf Carta informiert werden? Folgen (und unterstützen) Sie uns auf Facebook und Twitter.

 

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.