von Reinhart Gruhn, 6.8.13
Der Anschlag auf die Twin Towers (WTC) in New York und das Pentagon in Washington am 11. September 2001 haben die Lage in der Welt grundlegend verändert. Die USA, zum ersten Mal in ihrer Geschichte von einer fremden Macht auf eigenem Boden angegriffen und schwer getroffen (da reicht nicht einmal die Symbolkraft des Angriffs Japans auf Pearl Harbour am 07.12.1941 heran), erklärten den “war on terror”. Es war so etwas wie eine Kriegserklärung an den Terrorismus in der ganzen Welt.
Unter dem Eindruck der Schockwelle, die durch die westliche Welt lief, erklärte der damalige Bundeskanzler Schröder seine “bedingungslose Solidarität” mit den USA im Kampf gegen die Terroristen. Dieser Kampf wurde als gemeinsame Verteidigung der westlichen Wertegemeinschaft begriffen, nahezu als Kulturkampf, da die Terroristen von Al-Qaida sich als islamistisch bekannten.
Ab 2001 wurden neue Sicherheitsapparate gegründet (Department of Homeland Security) und die vorhandenen Sicherheitsorgane in einem nie da gewesenen Umfang ausgeweitet und mit nahezu unbegrenzten Finanzmitteln und technischer Ausrüstung ausgestattet. Dies betraf in erster Linie die USA, hatte aber seine Auswirkungen in den befreundeten Ländern der westlichen Welt ebenso, wie in den neuen Sicherheitsanforderungen, zum Beispiel im weltweiten Flugverkehr. Kaum mehr als eine Erinnerung ist heute daran geblieben, wie einfach und unkompliziert das Fliegen vor 2001 gewesen ist. Die Terroranschläge von Madrid (11.03.2004) und London (07.07.2005), sowie der versuchte Anschlag mit Kofferbomben im Hauptbahnhof Köln (31.07.2006) zeigten, dass die Gefahr auch hier in Europa keineswegs abstrakt war, und nicht nur ferne Länder (Anschläge von Bali 2002 und 2005) betraf.
Die Durchführung von Großereignissen wie Weltmeisterschaften oder die Olympischen Spiele standen fortan unter ganz besonderen Sicherheitsanforderungen. Wir kennen diese Entwicklung und sind an Terrorwarnungen (wie gerade wieder, westliche Botschaften in arabischen und afrikanischen Ländern betreffend) und ausgedehnte Sicherheitsmaßnahmen gewöhnt, auch wenn sie immer unbequem waren und bleiben werden.
Die Zunahme von Überwachungskameras, von Sicherheitsdiensten auf Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen, wird als selbstverständlich erachtet, auch wenn es hier weniger gegen Terroristen geht, als um Sicherheit gegenüber dem ganz alltäglichen Verbrechen mit Überfällen und Raub und Totschlag. Rasterfahndung, Vorratsdatenspeicherung, der geplante Aufbau eine europäischen Grenz-Kontrollsystems wie in US-Amerika sind die Stichworte aus jüngster Zeit, welche die Weiterentwicklung von Sicherheitsmaßnahmen und den Ausbau des Faktors Sicherheit zum “Supergrundrecht” (Innenminister Friedrich) aktuell kennzeichnen.
Noch einmal: Wir hatten uns daran gewöhnt.
Wir hatten – denn ich denke, dass der 31. Juli dieses Jahres (7/31 in US-Schreibweise) einen Wendepunkt bezeichnen könnte.
Er wird eher nicht als Datum im Gedächtnis bleiben, sondern mit einem anderen Begriff: XKeyscore. Am 31. 07. veröffentliche der britische Guardian Dokumente und Folien, die aus dem umfangreichen Material Edward Snowdens stammen, über ein umfassendes Auswertungsprogramm mit weltweit verknüpften Datenbanken mit diesem Namen: “XKeyscore: NSA tool collects ‘nearly everything a user does on the internet’”, oder mit dem Titel der FAZ: “Alles, was du rausholen willst.”
Seitdem ist klar, und jeder kann und sollte es wissen, dass unsere verschrobensten Befürchtungen, die man bis dahin einer Paranoia zugeschrieben hätte, Wirklichkeit sind. Alles, was im Internet passiert, kann live und instantan abgegriffen und ausgewertet werden.
Da hilft offenbar keine der bekannten Sicherheitsmerkmale wie VPN, Sicherheitszertifikate, usw. Selbst Verschlüsselung (PGP) sei kein wirkliches Hindernis, zumindest erfahren verschlüsselte Mails besondere Aufmerksamkeit. Man beachte außerdem: Dies alles gibt den technischen Stand von 2008 wieder, also von vor fünf Jahren.
Kaum auszudenken, was demnach heute möglich ist: wohl mehr, als wir uns vorstellen können. Hinzu kommt die freiwillige oder erzwungene Mitarbeit US-amerikanischer und europäischer Kommunikationsdienstleister auf allen Ebenen. Es gibt wohl keinen Dienst, der nicht über entsprechende Hintertüren oder Masterkeys verfügt. Es gibt sie nicht “für alle Fälle” – seit Snowdens Bekanntmachung von Xkeyscore wissen wir: Sie werden genutzt, tagtäglich, stündlich, millisekündlich.
Das Internet hat mit allem Privaten restlos aufgeräumt.
Das Netz ist aber wesentlicher Teil unserer Alltagswelt geworden, und der alltägliche Gebrauch nimmt ständig zu. Es gibt praktisch niemanden hierzulande, der sich heute der Allgegenwart des Netzes und seiner Überwachung entziehen könnte. Mobiltelefonieren, Festnetztelefon, künftig nur noch IP-Basiert, Lokalisierungsdienste via GPS, Onlinebanking, Kreditkarten, Online-Einkauf, Bezahlen mit dem Smartphone, Hotelbuchung, Ticketbuchungen, TV-, Video-, Music-Streaming, Online-Spiele, aber auch ‘intelligente’ Stromzähler, Wärmemessgeräte, alles unter dem Stichwort “Smart Home”, ferner moderne Medizintechnik und die Fortentwicklung des Gesundheitssystems mit entsprechenden Chipkarten und netzgestützter Auswertung, aber auch Sensoren und ‘intelligente’ Assistenten in den modernen Automobilen, usw. usw.
Mit Leichtigkeit entsteht so binnen kürzester Zeit aus den Datenspuren, die wir fast notwendigerweise hinterlassen, ein abrufbares Bild unserer Bewegungen, unseres Verhaltens, unserer Gewohnheiten und Vorlieben, unseres Bekanntenkreises (auch ohne den Inhalt einer E-Mail zu lesen, was aber auch keine Schwierigkeit ist für XKeyscore), die eine treffsichere Vorhersage unseres wahrscheinlichen Verhaltens in der Zukunft ermöglichen. Die Algorithmen dazu sind selbstlernend. Seit XKeyscore wissen wir: Unsere Privatsphäre ist bereits fast vollständig verloren. Dazu bedarf es nicht erst des “Bundestrojaners”, der passt nur allzu gut und fast schon anachronistisch ins Bild.
Der 31. 7. 2013, XKeyscore könnte zum Symbol werden. Es könnte den Wendepunkt bezeichnen, an dem wir, an dem Bürger in Amerika und Europa, den Kampf um die Privatsphäre, den Kampf um das Recht der Persönlichkeit, den Kampf für die Bewahrung und den nachhaltigen Schutz des Privaten aufnehmen.
Der bulgarische und in Wien lebende Schriftsteller Ilja Trojanow schreibt in einem Gastkommentar der Neuen Zürcher Zeitung:
Nicht wenige unserer Zeitgenossen wischen die Bedrohung der totalen Überwachung mit dem Einwand weg, sie hätten ohnehin nichts zu verbergen und daher nichts zu befürchten. Überschreite nicht die Grenzen des (kreuz)braven Geschmacks, dann hast du auch nichts zu befürchten – dies gilt dem Biedermann seit je als Losung. Wer aber nichts zu befürchten hat, der hat auch nichts zu sagen. [..]
Das Recht darf nicht gezwungen werden, sich technischen Entwicklungen zu beugen. Wenn unsere Regierungen Persönlichkeitsrechte der Bürger nicht ernst nehmen, nehmen sie die Verfassung an sich nicht ernst, was nicht wenig zur sogenannten Politikverdrossenheit beiträgt, die eher eine Systemverdrossenheit ist, denn vor den Augen des Bürgers werden vermeintliche Grundwerte ohne Diskussion und Not im Sumpf neuer Unübersichtlichkeiten versenkt und wird der Bürger am lebenden Körper zu einem Untertan umoperiert.”
7/31, XKeyscore hätte es verdient, zum Symbol zu werden, den unkontrollierten Mächten des Sicherheitswahns und der Sicherheitsindustrie das Recht entgegen zu stellen.
“Überwachung ist inzwischen keine Verschwörungstheorie, sondern ein Geschäftsmodell.” Jacob Appelbaum
Dieser Kampf um das Recht muss politisch, öffentlich aufgenommen werden.
Den Regierenden darf Unkenntnis, Verharmlosung, Beschwichtigung, Verdrehung, Vertuschung und Lüge nicht mehr durchgelassen werden. Auch alte Freundschaften unter Ländern und Staaten gehören auf den Prüfstand, wo Schweigen und Nachgiebigkeit bedeuten würde, mit den Verletzern und Missachtern unserer Grundrecht und Grundwerte gemeinsame Sache zu machen. Die geschichtlichen Verdienste der USA gegenüber Deutschland sind dann keine Basis mehr, wenn um eigener Machtinteressen willen Recht gebrochen und Freiheit zerstört wird.
Snowden gebührt Anerkennung und Schutz, gerade auch durch Deutschland, das sich politisch Verfolgten verbunden wissen sollte. Die “Wertegemeinschaft” mit den USA ist schon seit Abu Ghraib und Guantanamo, spätestens aber seit XKeyscore zum großen Teil Geschichte. Auch die Zusammenarbeit in Europa gehört auf den Prüfstand, Stichwort GCHQ und seine maßgebliche Rolle in der weltweiten Überwachungspraxis im Verein mit multinationalen Privatfirmen.
Es gibt viel zu tun, wenn die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse wieder auf die Basis des Rechts gestellt und mit neuen Verträgen abgesichert werden sollen. Das geplante Freihandelsabkommen mit den USA könnte ein Weg zu neuen Verträgen und Abmachungen sein, Privatheit und Freiheit in internationalen Beziehungen auf die Basis des Rechtes zu stellen.
Nach 9/11 war nichts mehr, wie es vorher war, sagt man. Es wäre gut, wenn man auch bald sagen könnte: Nach 7/31, nach XKeyscore ist nichts mehr, wie es vorher war.
Crosspost von publicopinia