von Julius Endert, 8.2.13
“To Big to Know”, das ist die Herausforderung, die David Weinberger in seinem neuen Buch beschreibt. Im Klappentext heißt es:
“We used to know how to know. We got our answers from books or experts. We’d nail down the facts and move on. But in the Internet age, knowledge has moved onto networks. There’s more knowledge than ever, of course, but it’s different.”
Indem das Wissen aus den Hierarchien ins Netz wandert, erleben wir zugleich eine Krise des Wissens, aber auch ein Vielfaches an Chancen zu seiner Nutzung für eine wesentlich größere Anzahl an Menschen, als das bislang der Fall war, so die These des Netztheoretikers.
Neuer Umgang mit Wissen
Früher wurde Wissen so lange gefiltert und verdichtet, bis es in die wissenschaftlichen Bücher oder Journale passte. Heute wird jede Idee, jeder Entwurf in lose miteinander verknüpften Instanzen im Netz gespeichert. Die Folge: Die Destillation von Wissen durch Reduzierung funktioniert nicht mehr, schreibt Weinberger. Wissen sei nicht mehr, was es einmal war. Früher sorgten die hintereinander geschalteten Filterprozesse dafür, dass nur eine Auswahl der Auswahl einer Auswahl überhaupt veröffentlicht wurde. Im Zweifel waren die Regalmeter in einer Bibliothek die natürliche Grenze für das, worauf der Leser / Student / Journalist Zugriff hatte. Alles andere erschien einfach nicht. Wie einfach und übersichtlich! Heute erscheint alles. Eine Katastrophe!
Im Netz steht Lüge neben Wahrheit
Für Journalisten bedeutet das Zweierlei: In den alten Quellen des vordigitalen Zeitalters findet er nur noch einen Bruchteil des zur Ausübung seiner Tätigkeit erforderlichen Wissens. Im Netz dagegen ist alles vorhanden – was aber zunächst auch nicht weiterhilft. Denn hier steht Wahrheit neben Lüge, Verleumdung neben Zitat, Dichtung neben Gedicht, Fakten neben Spam – nur leider jeweils nicht in seiner Eigenschaft als solches gekennzeichnet. So ein Pech.
Neue Strategien und Filter sind also erforderlich, um an journalistisch verwertbares Wissen zu gelangen. Weinberger zitiert Clay Shirky, spricht von sozialen Filtern oder Algorithmen, die uns helfen sollen, und Filterversagen, wenn uns das dennoch nicht gelingen mag. Denn: Das Phänomen des Information-Overloads ist von einem individualpsychologischen Phänomen – das es schon seit der Antike gibt – zu einem kulturellen Problem geworden. Information-Overload is not a bug, it’s a feature, so könnte man es umschreiben.
Die Konsequenz für den Journalismus kann nur sein, dass er dem Wissen ins Netz folgen muss.
Und, oh großes Erstaunen, trotz aller Klagen um den Zustand der Zunft mit seinen zerbröselnden Finanzierungsmodellen: Die Voraussetzungen dafür sind sogar gut. Ja, Journalismus erlebt gerade eine Explosion in seinen Formen und Ausdrucksmöglichkeiten. Für Beobachter aus der alten Gutenberg-Galaxis muss das aussehen wie eine Super-Nova oder wie ein schwarzes Loch – je nach Beobachtungsstandort.
Dabei sind die sich aus dem Zusammenspiel von Digitalisierung und Vernetzung über das Internet ergebenden Möglichkeiten noch nicht einmal ansatzweise erfasst, geschweige denn umgesetzt. Und fast im Wochenrhythmus gibt es neue Entwicklungen, die das Feld noch einmal erweitern. Als Beispiel sei nur der “Truth Teller” der Washington Post genannt, als eine Spielart des Robo-Journalismus.
Unendliche Anzahl neuer Möglichkeiten
Und sonst? Video, Livestreaming, Crowdsourcing, Crowdfunding, Datenjournalismus, Fact-Checking, neue hybride Formate, Youtube, Storytelling via Games oder Comics – die Reihe ließe sich fast beliebig fortsetzen.
Journalismus wandert also ins Netz und ist bei diesem Marsch nicht mehr aufzuhalten. Er funktioniert nur noch vernetzt, und er vernetzt: Er verbindet Menschen mit Themen, Quellen mit anderen Quellen, Daten mit Deutung. Zudem wird der Unterschied zwischen so genannten Profis und so genannten Laien immer undeutlicher und verschwimmt, am Ende ist er vielleicht gar nicht mehr wichtig.
Beispielsweise findet nicht nur in den zahllosen Blogs guter Journalismus statt, auch auf der Wikipedia ist er anzutreffen. Nämlich dann, wenn nach einem Unglück oder einem Anschlag wie dem Amoklauf von Newtown dort wie von unsichtbaren Kräften gemeinschaftlich Hintergrundinformationen zusammengetragen werden, und zwar nicht in Form eines statischen Artikels, sondern als eine sich ständig erneuernde Informationsquelle.
Aber auch die Grenze zwischen Programmierern und Schreibern schwindet. So ist die Hacks/Hackers-Bewegung ein weiteres Beispiel für das Aufbrechen alter Systeme. In meinen Augen eine der wichtigsten Bewegungen im Journalismus dieser Tage. Denn wenn Journalisten und Hacker sich annähern und voneinander lernen, werden sie (hoffentlich) die Werkzeuge entwickeln, die erforderlich sind, um das Wissen unserer Zeit hervorzubringen, zu verarbeiten, zu analysieren und darzustellen: Drohnen sollten nicht nur militärisch genutzt werden, sondern auch zur Informationsgewinnung. Big Data darf nicht nur ein Thema für die Industrie sein, sondern muss auch für Journalisten zugänglich gemacht werden.
Die Rezipienten sind derweil schon vorangegangen, eine wichtige Erkenntnis dabei: Menschen vernetzen sich über Themen (und Hashtags). Sie bilden spontane, manchmal dauerhafte, Themengemeinschaften auf den im Netz vorhandenen Plattformen. Stets wird von der einen Milliarde Nutzer auf Facebook geredet, doch in wie viele thematisch gegliederte Untergemeinschaften sie sich aufteilen, ist nicht erfasst.
Wunsch nach Vernetzung
So wie Facebook sich diesen Wunsch nach Vernetzung zu eigen macht und wirtschaftlich nutzt, so müssen Journalisten und Medienunternehmen hier ihre Chance erkennen, diese thematischen Netze mit ihren Inhalten zu fördern und zu befeuern. Sie sind dabei wie Kristallisationskerne, um die sich neue Gemeinschaften bilden.
Mit diesem Kniff ließe sich auch das Relevanzproblem, jedenfalls ansatzweise, in den Griff kriegen. Denn die Frage: Worüber soll ich eigentlich berichten? lässt sich heutzutage nicht mehr eindeutig klären. Zwar ist das Platzproblem der Zeitungen und Magazine einer theoretischen digitalen Unendlichkeit gewichen – doch weder die Arbeitszeit der Journalisten noch die Aufnahmefähigkeit der Rezipienten lassen sich entsprechend skalieren. Wohl nicht zuletzt deshalb sind gerade in letzter Zeit einige Tools wie 10000flies oder tame an den Start gegangen, um uns hier Orientierung zu schaffen. Wer erkennt, worüber im Netz geredet wird, wird vielleicht auch eher zu seiner nächsten Geschichte finden.
Das Fazit fällt sehr kurz aus: Too big to know? Journalismus braucht netzwerkbasierte Methoden!
Julius Endert bloggt auf Netz-Lloyd.
- Ebenfalls zum Thema: Florian Schneider, Wohin kann das Dokumentarische flüchten? Von neuen Wegen in eine neue Wirklichkeit