von Thilo Specht, 3.9.10
Amir Kassaei, einer der berühmtesten und wohl auch berüchtigsten Kreativen, die es gibt, wird nicht müde zu betonen, dass das Internet längst kein reiner Publishing-Kanal mehr ist, sondern viel mehr Infrastruktur: “Es ist die Elektrizität des 21. Jahrhunderts. Oder wenn wir weiter gehen wollen, es ist das Nervensystem unserer globalen Existenz.”
Das Internet – so einfach wie Strom. Das ist nicht pure Zukunftsmusik, sondern passiert schon längst. Smart Metering, VOIP, IPTV und was es sonst noch alles gibt, beanspruchen immer größere Anteile des verfügbaren Breitbandes für sich. Aufgrund dieser Entwicklung fühlt sich Chris Anderson genötigt, das Web für tot zu erklären. Vorschnell, wie BoingBoing meint. Es zappelt noch.
Doch in der Tat, es gibt Tote. Sehr bald. Und es wird eine sehr fröhliche Beerdigung.
Everything Changes – Take That
Fakt ist: Durch die Digitalisierung in allen Bereichen verändern sich ganze Branchen und Geschäftsmodelle. Die Musikindustrie musste sich als eine der ersten dieser Realität stellen. War das Internet erst der Feind, den es mit all seinen illegalen Tauschbörsen und kriminellen Elementen zu bekämpfen galt, haben sich heute viele Unternehmen der Musikwirtschaft mit den Gegebenheiten arrangiert: Die Deutschen kaufen immer mehr Musik im Netz. So stiegen die Umsätze mit Musikdownloads in den ersten sechs Monaten dieses Jahres um fast 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Physikalische Tonträger haben jedoch keine Zukunft mehr (Sony sieht das freilich anders, wie schon damals bei der MiniDisc). Die Erlösmodelle für das 21. Jahrhundert sind neu: “Im Digitalen gehen die Veränderungen tiefer als den meisten klar ist. Denn viele wirtschaftlichen Vorgänge und gesellschaftlichen Vorstellungen basieren auf Knappheiten, die aktuell nach und nach wegbrechen”, merkt Marcel Weiß an.
Das Nadelöhr der Distribution ist verschwunden. Independent Label gründen sich heute schon konsequent als Netlabel. Das Veröffentlichen eigener Kompositionen oder Remixe ist so einfach wie nie zuvor. Der Autor Markus Albers veröffentlichte sein Hörbuch selbst – ohne Verlag. Social Media wie MySpace, last.fm, blip.fm, Spotify und viele andere emanzipieren das Musikerlebnis von den Casting-Shows, Radiostationen und dem kommerziellen Musikfernsehen.
Die Folgen: Es gibt in Deutschland keine echten Superstars mehr, die Verkäufe von Einzeltiteln gingen in den letzten Jahren drastisch zurück. Und das, obwohl die Musikindustrie auf Massenkompatibilität setzt, wie sie freimütig zugibt:
Ein Vorurteil von unerträglicher kultureller Arroganz, bei dem Massentauglichkeit mit mangelnder Qualität gleichgesetzt wird. Dabei wird oft vergessen, dass in der Musikindustrie Hits – wie beispielsweise auch in Buchverlagen Bestseller – die finanzielle Basis für die Förderung von Nischenprodukten sind. […] Die Musikindustrie ist nicht dazu da, über den Geschmack ihrer Konsumenten zu richten. Ihre Aufgabe ist es, den Verbrauchern ein möglichst großes Angebot zu machen, aus dem diese dann auswählen können.
Ach ja? Warum sehen dann alle Casting-Shows gleich aus?
Die Aufgabe der Musikindustrie bringt Oliver Lubick in seiner hervorragenden Diplomarbeit über “Das Ende der Musikindustrie” (lesen!) freilich treffender auf den Punkt: “Die Musikindustrie besteht aus Unternehmen, deren erstes Ziel wirtschaftliche Gewinne sind. Die Musik selbst ist dabei die Ware.”
Früher sicherten die Kontrolle über den Marktzugang und die künstliche Erzeugung von Nachfrage das lukrative Geschäft der Musikindustrie. Heute ist die persönliche Empfehlung nur einen Mausklick entfernt und macht klassischen Werbern das Leben schwer. Oder wie Steve Jobs sagt:
One of the biggest things we focused on with iTunes is discovery. How do you find out about new stuff? People are always asking, what are my friends listening to? What are my favorite artists up to? There must be a better way.
Seine Antwort ist das Social Network Ping, integriert ins hauseigene Musikprogramm iTunes.
Hello (Turn Your Radio On) – Shakespears Sister
Das Problem der klassischen Werber ist der Long Tail: Selling less of more. Die Portfoliostrategie der Majors ist dummerweise eine andere, sieht man sich die unzähligen austauschbaren Retortenbands an. Deren sterile Musikerzeugnisse sind Hauptbestandteil in den Begleitprogrammen der Formatradios mit den “größten Hits der 70er, 80er, 90er und von heute!”. Diese sind auf eine möglichst breite Akzeptanz in der werberelevanten Zielgruppe und eine enge Hörerbindung ausgerichtet. Sie umfassen gerade einmal 120 bis 150 Titel, die in ständiger Rotation gespielt werden.
Blöd nur, dass die Digitalisierung des Radios diesen Formaten bald einen Strich durch die Rechnung machen wird. Laut ARD-ZDF-Onlinestudie 2010 hören immerhin 52 % aller deutschen Onliner zumindest gelegentlich Audioformate aus dem Internet. Schon 44 % aller Web-Radios sind über mobile Endgeräte empfangbar. Die Arbeitsgemeinschaft Medienanalyse e.V. erkennt einen deutlichen Trend zum Internetradio und wartet mit einer überraschenden Erkenntnis auf: “The listener is not interested on the channel. The listener is listening to radio – and what radio is, is, what he defines as radio.”
Das kann alles sein: Livestreams, Podcasts, eigene Playlists bei Online-Dienstleistern und Smart Radio wie last.fm. Eins ist es am Ende sicher nicht: Adult Contemporary, auch Dudelfunk genannt. Die unzähligen Online-Formaten bedienen mitunter sehr spitze Zielgruppen. Den Werbern bereitet das Kopfzerbrechen – denn 14 bis 49 ist damit als “Eingrenzung” so sinnvoll wie das Attribut “Tot” für die Beschreibung einer Mumie (um bei unserer Analogie zu bleiben).
Kill Your Ideals – Phillip Boa
Tatsächlich erzielte Radiowerbung 2003 mit 5,3 % Anteil an den Bruttowerbeaufwendungen für die klassischen Medien den niedrigsten Wert seit 1975. Im Jahr 2010 sind es immerhin 5,7 % – mit ganzen 1,6 % Wachstum seit dem Vorjahr. Zum Vergleich: Klassische Online-Werbung (SEM/Banner) kommt auf 9 % Anteil an den Bruttoaufwendungen – bei einem Wachstum von sage und schreibe 30,6 %.
Es ist davon auszugehen, dass sich die Werbeausgaben weiter Richtung Online verschieben werden. Diese Krise wird irgendwann auch das Fernsehen ereilen, das mit 42 % der Bruttoaufwendungen immernoch den Löwenanteil der Werbeausgaben erhält. Das schrieb schon Thomas Knüwer unlängst in einem recht guten Artikel. Wirklich aufschlussreich sind die teils brillianten Kommentare von Insidern zum Artikel. Kurz zusammengefasst:
Das deutsche Fernsehen hat a) ein Distributionsproblem und b) ein Qualitätsproblem. Wie im Musikbereich auch, ist dank ordentlicher Bandbreite das Streamen von Filmen in HD möglich. Anbieter wie Apple, Google, Amazon, Netflix, Hulu, etc. pp. garantieren die permanente Verfügbarkeit von Inhalten.
Apple TV – und bald auch Google – bringt die neuesten Hollywood-Filme und TV-Serien via Streaming ganz einfach auf den Bildschirm jedes Fernsehers – ohne Werbeunterbrechung. Damit wird es zum Problem der heimischen Fernsehsender: Diese zeigen Serien in der Regel sehr viel später, als diese in den Handel kommen. Echte Serien-Junkies haben die neuesten Folgen schon längst via Stream, iTunes oder DVD gesehen, bevor sie in irgendeinem Abendprogramm, mit unerträglichen Werbeblöcken garniert, gesendet werden.
Fernsehsender als Zwischenhändler für Inhalte verdienen aber ihr Geld mit dieser Werbung, oder, wie es in einem Kommentar zu Knüwers Artikel so schön heißt:
Sie würden auch ein Testbild senden, wenn 10 Millionen zusehen würden und sich Werbung verkaufen ließe. Sie erzielen kaum “Mehrwert” aus eigenproduzierten Formaten, weil die Zweit- und Drittverwertung fast vollständig wegfällt und sie keine Abomodelle fahren können. Außerdem weil sie fast nichts selbst produzieren sondern nur “Abspielstationen” für die Inhalte anderer sind.
In den USA, Heimat der meisten TV-Produktionen, ist das längst nicht so, wie ein anderer Kommentator anmerkt:
Die USA braucht durch die Mischfinanzierung aus Werbung und Abo-Gebühren nicht mehr als 3,5 Millionen Zuschauer um solche Serien zu refinanzieren und zusätzlich erzielen sie auch noch Einnahmen aus Lizensierung der Serien ins In- und Ausland und der Zweitverwertung auf DVD.
Seinfeld hat z.B. 2,7 Milliarden (ja richtig) alleine durch die Zweitverwertung im Inland (Syndication) eingespielt und Syndicationverträge bringen tweilweise bis zu $800.000 pro Folge einer Hitshow ein. Auslandsverwertung und DVD nicht eingerechnet. Die US-Sender refinanzieren sich nicht alleine durch Werbung sondern direkt durch die eigenproduzierten Inhalte und deren “Qualität”. Eine Einnahmequelle die den deutschen Sendern nicht offen steht.
Der entscheidende Unterschied ist also: US-Sender produzieren selbst, und zwar Qualität, wie auch in der Welt Online zu lesen ist:
Das extrem privat finanzierte US-Fernsehen produziert Qualität nicht als Gegenentwurf zu den Gesetzen des Marktes, sondern, weil dem Markt und damit den Konsumenten ein reflektiertes Interesse am Geschehen in der Welt unterstellt wird. In Deutschland werden bisher leider Kultur und Quote als Antagonismen verstanden. Das sieht man dem Fernsehen an.
Dass es sich hierbei nicht um eine böswillige Unterstellung handelt, beweist ein Interview des Hollywood Reporter mit dem Einkäufer Jan Frouman von ProSiebenSat.1:
Reps from one of Europe’s most powerful station groups, ProSiebenSat.1, did comment on what the general predilection of audiences on the continent is right now: “Accessible” is the key word, said one of the group’s key execs, Jan Frouman. “Nothing too complicated, strong characters and a story that can be followed.
Das deutsche Fernsehen mag uns nicht. Wir mögen das deutsche Fernsehen nicht. Zeit, getrennte Wege zu gehen.
Want Ads – Hone Cone
In Deutschland gibt es knapp 4o Millionen Haushalte. Laut Goldmedia werden 2015 fast 23 Millionen Haushalte mit internetfähigen TV-Geräten ausgestattet sein – mehr als die Hälfte. Glaubt man einer Studie der Bitkom, will fast jeder zweite Deutsche seinen Fernseher ans Internet anschließen. Das ahnen auch die Sender und planen schon eine eigene kostenlose Online-Plattform für die selbst produzierten und lizensierten Inhalte.
Das Qualitätsproblem lösen sie damit jedoch nicht. Zudem werden es die Sender schwer haben, mit einer eigenen Plattform gegen Anbieter wie Apple, Google und Amazon zu bestehen. Und dann ist da auch noch das Erlösmodell: Werbung.
Warum sollen Studios, Produzenten und Vermarkter in Zukunft ihre Filme über die Streaming-Plattformen von Sendern ausliefern, die diese mit Werbung aufpimpen, um daran zu verdienen? Wenn schon Werbung, dann können die Produzenten selbst daran verdienen, meint zum Beispiel Kevin Rose in Bezug auf das Potential von Apple TV:
With Apple’s iAds, content producers (eg. ABC/NBC/etc.) can directly monetize and distribute their content. This will eventually destroy the television side of the cable and satellite industry, as your only requirement to access these on-demand stations will be an internet connection. Say goodbye to your monthly cable bill.
Eigentlich ist es ganz einfach: Zusätzlich zum bisherigen Product Placement werden dann noch “Jetzt kaufen!” Buttons zu sehen sein. Das tolle daran: Die Klickrate lässt sich messen – Fernsehwerbung wird dank Internetanbindung schonungslos auf Erfolg zu analysieren sein. Schwere Zeiten für Werber.
Denn bisher wird lediglich die Reichweite von Werbung erhoben, aber nicht die Wirksamkeit. Die Messung erledigt in Deutschland die AGF: Aus dem Sehverhalten von knapp 13.000 Personen in 5.600 Haushalten wird die Quote für 72 Millionen Fernsehzuschauer hochgerechnet.
Noch. Denn Werbegigant Google hat bereits zwei Patente auf Reichweitenmessung in Receivern angemeldet.
Sooner Than You Think – New Order
Vielleicht dauert es fünf Jahre, vielleicht sogar zehn. Doch irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft werden Fernsehsender keine Daseinsberechtigung mehr haben. Genauso wenig wie Dudelfunk. Denn die Distribution passender Inhalte erledigen andere Anbieter schon heute viel besser, smarter und kundenfreundlicher. Wir werden für Inhalte zahlen, die wir uns selbst zusammenstellen oder Werbung in Kauf nehmen, die nicht mehr auf 14 bis 49 zugeschnitten ist, sondern unseren tatsächlichen Interessen entspricht.
Für Unternehmen heißt es dann umdenken – und die Chancen zu erkennen. Denn wo es kein Sendeschema gibt, ist Platz für Vielfalt. Sogar für relevante Inhalte von Unternehmen, die das Interesse ihrer Zielgruppen finden. Wie zum Beispiel bei Daimler, die mit dem Format Mixed Tape einen tollen Kontrapunkt zum Dudelfunk liefern. In Zukunft heißt es nicht mehr “diese Sendung wird präsentiert von”, sondern “diese Sendung wird produziert von”.
Platz ist dann allerdings auch für Inhalte, die Unternehmen schaden können. Welche packenden Reportagen aus den Regenwäldern Indonesiens dürfen wir in Zukunft von Greenpeace erwarten?
Was Black Hat Agenda Setting bedeutet, erfährt heute ausgerechnet – welche Ironie – der Satellitenbetreiber Astra und seine Partner, die wegen der starken Limitierungen ihres Angebots HD+ in der Kritik stehen. Was es mit dem Angebot auf sich hat, macht gerade per YouTube die Runde als sehr professionell gedrehte Reportage – absolut fernsehtauglich. Mehr als 50.000 Abrufe erzielte das Video schon, obwohl es die HDPlus GmbH immer wieder löschen lässt. Danach taucht es an vielen anderen Stellen auf, bereitgestellt von einigen der vielen Unterstützer. Vielleicht hat HDPlus mittlerweile von Frau Streisand gehört: Am Ende trägt diese Löschaktion wieder zur Bekanntheit des Videos bei.
Wer hinter dem Video steht, weiß niemand. Ein Blog gibt es, aber keinen Namen, keine Adresse, keine Kontaktdaten. Anonymus lässt grüßen.
Schönes neues Fernsehen.
Crosspost von Cluetrain PR.