von Frank Lübberding, 24.6.14
Barack Obama ist wirklich nicht zu beneiden. In der Ukraine findet er keine Lösung. Im Mittleren Osten fällt mit dem Vormarsch von ISIS das etablierte Staatensystem auseinander. Und in Südostasien testet die Großmacht China mit gezielten Nadelstichen in Konflikten mit Japan, Vietnam und den Philippinen die USA als pazifische Ordnungsmacht.
Obama hat seit seinem Wahlsieg 2009 ein politisches Ziel: Die Überdehnung amerikanischer Weltmachtansprüche zurückzunehmen, um Raum für innenpolitische Reformen zu bekommen, die spätestens mit dem Zusammenbruch des amerikanischen Finanzsystems offenkundig geworden sind. Heute muss man Obama als Konkursverwalter begreifen. Er verwaltet die Hinterlassenschaft einer Welt, die in Zukunft ohne die Ordnungsmacht USA auskommen muss.
Diese Erkenntnis widerspricht unserem seit Jahrzehnten eingeübten Kategoriensystem, das von einer von den USA dominierten Weltordnung geprägt war. Wie jede Hegemonialmacht war sie einem Widerspruch ausgesetzt: Es gab keinen weltpolitischen Konflikt, für den die USA nicht verantwortlich gemacht wurden – um aber gleichzeitig von Washington die Lösung zu verlangen.
Gerade der dümmste Antiamerikanismus fühlte sich dieser Logik verpflichtet.
Im Grunde behauptete man, ohne die USA existierten diese weltpolitischen Konflikte noch nicht einmal, wo Washington mit unterschiedlichem Erfolg intervenierte. Im Wahnsystem der Neokonservativen im Umfeld des jüngeren Bush fand diese Sichtweise allerdings ihre Bestätigung. Der Mittlere Osten wäre zwar auch ohne den Einmarsch der USA im Irak ein Pulverfass geblieben, aber Bush verfiel dem Allmachtswahn. Der Irak sollte zum Modernisierungsmotor des Mittleren Ostens werden, der als auslösender Dominostein die anderen autoritären Regime zum Einsturz bringen sollte. Die damaligen Vergleiche des Irak mit der Situation in Deutschland oder Japan nach dem 2. Weltkrieg waren Ausdruck dieser Ideologie.
Heute erleben wir die Folgen dieser Politik, aber anders als geplant. Regionale Akteure operieren nur noch auf eigene Rechnung. Im Kalten Krieg konnten zwar die beiden Supermächte Russland und USA ihre jeweiligen Verbündeten nicht als Vasallen betrachten, aber diese mussten auf die Großmacht-Interessen Rücksicht nehmen. Sie hingen ökonomisch und militärisch von ihnen ab. Die Supermächte hatten dabei ein gemeinsames Interesse: Einen regionalen Konflikt nicht zu einem Weltkrieg eskalieren zu lassen.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die USA als Hegemonialmacht übrig geblieben, aber haben später im Irak desaströsen Schiffbruch erlitten. Der jüngere Bush hat das ökonomische, militärische und politische Kapital der USA verspielt, so dass sie diese Funktion nicht weiter ausüben konnten.
In der neuen Weltordnung gibt es keinen Ordnungsfaktor mehr. Formal operieren die USA zwar noch als Hegemonialmacht, aber sie sind schon längst auf dem Rückzug.
Der Nahe und Mittlere Osten galt allerdings bisher nur wegen seines Ölreichtums als weltpolitische Schlüsselregion. Über den Irak ohne das Thema Öl zu reden, ist schlicht lächerlich. Spätestens seit dem 1. Weltkrieg wurde der Mittlere Osten von den Großmächten nur aus dieser Perspektive betrachtet: als Region, um den Industriegesellschaften ihren Schmierstoff Öl zu sichern. Die Führungsmacht USA sah es als ihre Aufgabe an, dem Westen (und damit Europa und Japan) diese energetische Grundlage ihres Wohlstandes zu sichern. Die Irak-Intervention von 2003 war der Versuch, aus der damaligen Sackgasse zwischen Realismus und Idealismus einen politischen Ausweg zu finden.
Die Bündnisse (und Konflikte) mit den Diktaturen in der Region zur Sicherung der Einflußsphäre verursachten politische und militärische Kosten. Wenn die Transformation dieser Staaten zu westlichen Gesellschaften gelänge, hätte man das Problem gelöst, so die Überlegung der Neokonservativen. Das Scheitern dieser jedem Realisten schon damals als irre erscheinende Idee löste den Katzenjammer aus, den Obama mittlerweile in jeder Erklärung vorsingt.
So geht es wild und blutig durcheinander. Israel bombardiert die Armee Assads, die im Konflikt mit ihren sunnitischen Todfeinden steht. Die Schiiten der Hisbollah kämpfen an der Seite Assads, während die Kurden klammheimlich ihren eigenen Staat gründen. Die Türkei, Saudi-Arabien, die Golf-Emirate und der Iran betrachten Syrien und den Irak als Kampfplatz zur Sicherung eigener Machtansprüche.
Die USA verzichten auf ihre Rolle als Ordnungsmacht, weil sie keine Idee mehr davon haben, wie sie diese Ordnungsfunktion noch ausüben sollen. Auf die Interessen der USA (oder früher der Sowjetunion) nimmt niemand mehr Rücksicht, weil diese keinen Hebel besitzen, um sie effektiv durchzusetzen.
Das zunehmende Desinteresse der USA am Nahost-Konflikt ist kein Zufall. Eine Hegemonialmacht löst keine Konflikte (etwa zwischen Palästinensern und Israelis), sondern zwingt alle Akteure zur Selbstbeschränkung. Die Briten konnten in Indien bis 1948 die Ordnung auf dem indischen Subkontinent sicherstellen, bisweilen mit brutaler Gewalt. Mit dem Ende des British Empire geriet Indien zum Schlachtfeld zwischen Hindus, Muslimen und Sikhs, zur Verzweiflung Gandhis. Eine ähnliche Erfahrung machten sie mit ihrem Völkerbund-Mandat in Palästina. Die Rolle der Briten im weltpolitischen System übernahmen nach 1945 die USA, allerdings bis 1990 in einer Art feindlichen Partnerschaft mit der Sowjetunion.
Wir erleben jetzt das Ende dieser Epoche.
Der Rückzug der USA hat allerdings eine energiepolitische Begründung. Mit dem Fracking-Boom, so die amerikanische Perspektive, kann man sich den weltpolitischen Rückzug als Ordnungsmacht leisten. Die USA sind nicht mehr vom Mittleren Osten abhängig. Warum sollen sie für Japan die Öllieferungen sicherstellen, wenn die Kosten für diese Sicherung unverhältnismäßig erscheinen? Die USA können weder die innenpolitischen Konflikte im Irak, noch die in Syrien oder die zwischen Israelis und Palästinensern lösen. Das bisherige energiepolitische Eigeninteresse ist aber nicht mehr vorhanden.
Die USA entwickeln somit eine Sichtweise, die verblüffenderweise der deutschen entspricht: Man sollte sich aus den Konflikten in dieser Welt heraushalten, wenn keine elementaren Eigeninteressen betroffen sind. So agiert aber keine Ordnungsmacht, sondern die USA werden damit ein Akteur wie alle anderen Mächte. Nur funktionierte diese Debatte in Deutschland bisher unter der Voraussetzung einer amerikanischen Ordnungsmacht. Das hat man vergessen. So ließ sich bequem diskutieren, weil die USA damit zugleich die Rolle des Sündenbocks für alle Übel in der Welt hatten.
Der (für Europäer) Nahe und (für die USA) Mittlere Osten ist zwar eine Widerlegung dieser These, aber die Debatte um die Äußerungen des Bundespräsidenten ist ein Beleg für die Denkfaulheit in Deutschland. Wir werden die Konsequenzen dieser Konflikte spüren, etwa mit den Flüchtlingen vor Europas Haustür. Die USA sitzen dagegen auf ihrem eigenen Kontinent, mit zwei Ozeanen als geografischer Pufferzone.
Angesichts dieser Konstellation ausgerechnet mit Russland einen Großkonflikt um die Ukraine anzufangen, ist ein seltenes Beispiel politischer Dummheit. Während die Auswirkungen der Krisen im Mittleren Osten und um die Ukraine auf die USA zu vernachlässigen sind, sitzt Europa mitten im aufkommenden Orkan.
Energiepolitisch brauchen sie sowohl das Öl des Nahen Ostens, als auch das Gas aus Russland. Russland ist zudem der Akteur, ohne den weltpolitisch kein Staat zu machen ist. Sie sind in Asien das natürliche Gegengewicht zu China, in Syrien der wichtigste Verbündete Assads, und können jede Einigung mit dem Iran im Nuklearkonflikt wirksam torpedieren. Russland ist im Gegensatz zur Sowjetunion zwar keine Ordnungsmacht mehr, aber ein potentiell höchst effektiver Unruhestifter.
In Libyen gelang es, Russland einzubinden, um aber das damit verbundene Signal misszuverstehen. Statt Russland als weltpolitischen Akteur anzuerkennen, nutzt man jede Gelegenheit, um Moskau zu isolieren. Die USA haben zwar keine Idee mehr von ihrer Funktion als Ordnungsmacht, aber deshalb muss man nicht andere Mächte als gleichrangig betrachten.
Es ist der nackte Irrsinn: Die Welt versinkt im Chaos, aber in den USA will man immer noch zuerst Russland und China eindämmen, Europa im etablierten Bündnis halten, und den alten Status als Hegemonialmacht simulieren. Sie sind von den Folgen bekanntlich nicht betroffen.
Die Europäer haben auf diesen Verfall der weltpolitischen Funktion der USA keine Antwort gefunden – und sind gleichzeitig mit sich selbst beschäftigt. Die Debatte um die Besetzung des Präsidenten der EU-Kommission und den zukünftigen Status Großbritanniens in der EU sind nur aktuelle Beispiele. Die USA und Russland sind, beide auf ihre Weise, keine Lösung, sondern ein Teil des Problems.
Europa (und das bedeutet, die EU) wird einen eigenen Standort finden müssen, wenn es nicht zum bloßen Anhängsel werden will. Man hat bisher nicht den Eindruck, dass das in Brüssel und vor allem in Paris und Berlin begriffen worden ist. Aber das kann sich ja ändern.
Crosspost von Wiesaussieht