von Christian Soeder, 10.5.14
Bei Günter Grass habe ich vor einiger Zeit das Bild von den „geborenen” und von den „gelernten” Sozialdemokraten gefunden. Das ist ein sehr treffendes Bild. Was meint Grass damit?
Er meint natürlich nicht, dass es irgendwie genetisch festgelegt ist, ob man zum Sozi wird oder nicht. Gemeint ist, dass manche Leute gleichsam in die Sozialdemokratie hineinwachsen, weil sie aus einem bestimmten Milieu kommen.
Früher war das vor allem das Arbeitermilieu. Das gibt es heute nicht mehr. Heute sind es Menschen, die aus ihrer Erfahrung heraus Sozi werden: Weil sie gemerkt haben, dass man gemeinsam bessere Löhne aushandeln kann, oder dass man sich gemeinsam mehr leisten kann – ein schöneres Clubhaus zum Beispiel.
„Geborene” Sozis gibt es in einer immer pluralistischer werdenden Gesellschaft tendenziell immer weniger. Es gibt sie noch, es gibt die Stadtteile, in denen die Wahl der SPD überhaupt keine Frage ist, sondern eine Selbstverständlichkeit und eine Frage der Ehre.
Viel schwieriger ist es, „gelernte” Sozialdemokratin und „gelernter” Sozialdemokrat zu werden: Sozialdemokratie als politisches Prinzip ist ja nicht immer unmittelbar sofort einsichtig. Wenn man zum Beispiel sagt, dass man gegen ein höheres Kindergeld ist, weil man Geld eben nur einmal ausgeben kann, dann wirkt das auf den ersten Blick hart und kalt.
Auf den zweiten Blick wirkt das immer noch hart und kalt. Als PolitikerIn oder gar als MinisterIn mit hohem Einkommen Familien zu sagen, dass sie nicht mehr Geld im Monat bekommen, das ist nicht leicht. Es ist nicht sehr warm und freundlich.
Aber es ist sozialdemokratisch richtig gedacht! Denn auf den dritten Blick sagt man das ja nicht, weil man Familien Übles will; man sagt es nicht, weil man vermutet, dass die Familien das Geld verschwenden.
Hier sei angemerkt: Ganz und gar nicht sozialdemokratisch ist es, Eltern zu unterstellen, dass sie nicht das Beste für ihre Kinder wollen: 99 Prozent aller Eltern tun alles für ihre Kinder und wollen, dass es ihnen gut geht. Menschenverachtende Sarrazin-Sprüche sind alles, aber nicht sozialdemokratisch.
Warum also sagt man das? Man sagt es, weil man Geld eben nur einmal ausgeben kann.
Gleichzeitig will man das Geld, das die Bürgerinnen und Bürger dem Staat über ihre Steuern anvertrauen, möglichst gut investieren. Und Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind tendenziell der Überzeugung, dass es sinnvoller ist, Geld in Strukturen zu stecken und keine Gießkannenpolitik zu betreiben.
In diesem Fall hieße das also: Man investiert die Milliarden, die eine Kindergelderhöhung kosten würde, stattdessen lieber in die frühkindliche Betreuung. 10 Euro mehr Kindergeld im Monat sind vielleicht angenehm – aber ein guter und hochwertiger Kindergartenplatz gehört in eine ganz andere Liga. Nur die Gemeinschaft kann solche Summen aufbringen. Gemeinsam ist man stärker.
Doch was kommt in der Wirklichkeit an?
Klar, die Union will was für die Familien tun. Und die SPD verweigert Familien 10 Euro mehr im Monat.
Der sozialdemokratische Politikansatz ist technokratisch: Er ist in den meisten Fällen nicht ummittelbar einsichtig.
Der konservativ-christdemokratische Politikansatz ist das genaue Gegenteil: Er ist leicht zugänglich – “Mehr Geld für Familien!” ist leicht verständlich, direkt und menschenfreundlich.
Außerdem ist er ineffizient und falsch.
Das aktuelle Beispiel ist die Kalte Progression. Menschen entlasten klingt ja erst einmal super: Der Staat hat einige Extramilliarden an Einnahmen – warum verteilt er das Geld nicht an die BürgerInnen?
Weil es nichts bringt.
Die paar Euro mehr im Monat, die übrigens nur ab einem gewissen Gehalt bemerkbar wären, machen den Bock nicht fett. 40 Milliarden Euro, die zusätzlich in Straßen und Breitbandausbau gesteckt werden können, sind hingegen großartig. Damit kann man richtig was anfangen. Das bringt einen massiven Wachstumsschub und hilft der Konjunktur.
Sozialdemokratie muss man lernen. Es ist nicht immer leicht, aber wenn man es abgewogen hat, kann man die meisten Politikfelder bearbeiten.
Das Individuum ist wichtig, aber die Gemeinschaft ist es auch. Das ist die Dialektik der sozialen Demokratie.
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