von Helmut Wiesenthal, 23.10.12
Dass die Kanzlerin Annette Schavan prompt Rückendeckung gab und ihr „vollstes Vertrauen“ (nicht der Person, nur der Ministerin) aussprach, unterscheidet sich nicht von ihrer Reaktion auf die Plagiatsvorwürfe gegen Guttenberg. Dennoch sind die beiden Fälle von ungleichem Kaliber. Der 40-jährige Guttenberg wurde als gewissen- und skrupelloser Fälscher und Lügner enttarnt, die 25-jährige Schavan als schummelnde Studentin.
Gewiss, hätte es bereits 1980, als die Studentin ihre Arbeit bei der Uni Düsseldorf einreichte, jene Plagiatssensibilität und die modernen Techniken der Plagiatssuche gegeben, die heute üblich sind, wäre die Arbeit kaum angenommen worden. Schavan hätte sie wahrscheinlich auch nicht in dieser Form geschrieben und eingereicht.
Sehr ähnlich sind dagegen die öffentlichen Reaktionen: Auf der einen Seite diejenigen, die die Bildungs- und Forschungsministerin schätzen und nur ungern abtreten sehen würden, auf der anderen die weniger zahlreichen, die sich die vorliegenden Dokumente (den Report des anonymen Plagiatjägers und das Düsseldorfer Gutachten) angesehen haben. Was Letztere angeht, bleibt wenig Raum für Zweifel: Die Autorin hat gegen die Promotionsordnung verstoßen, indem sie Textpartien geklaut und manches Geklaute mittels oberflächlicher Umformulierung kaschiert hat.
Wenn man den Fall Schavan mit anderen Fällen vergleicht, die seit 2011 bekannt geworden sind (Koch-Mehrin, Chatzimarkakis, Althusmann, Mathiopoulos u.a.), kommt man nicht umhin, ein gemeinsames Muster zu entdecken – und zwar auf beiden Seiten, bei den Doktoranden wie den Doktorvätern bzw. Gutachtern. Was die Doktoranden angeht, fällt ihre deutliche Wissenschaftsferne auf. Keiner von ihnen hatte ernsthafte Ambitionen, nach dem Studium im Wissenschaftssystem zu arbeiten. Sie wussten selbst, dass sie aufgrund ihrer bescheidenen Studienleistungen kein Stellenangebot erwarten konnten. Das hatten sie auch gar nicht im Sinn. Mit der Promotion ging es ihnen nur um den Doktortitel. Um Anerkennung, Karriere und Einkommen außerhalb der Wissenschaft. Und das blieb der anderen Seite, den Doktorvätern und Gutachtern, nicht verborgen.
Allerdings ist das ganze Promotionsverfahren – im Widerspruch zur Motivation vieler Doktoranden – der Idee nach als Filter konstruiert, den nur diejenigen passieren sollen, die das Zeug zur selbständigen wissenschaftlichen Arbeit haben. Indes, die Befähigung zum wissenschaftlichen Arbeiten ist leider nichts, was sich so einfach messen und konstatieren ließe. Gibt es doch sehr unterschiedliche Kombinationen aus Intellektualität, Belesenheit, Fleiß, Kreativität, Logik, methodologischer Kompetenz, Kommunikations- und Präsentationsvermögen usw.
Kaum ein Wissenschaftler vermag in allen Dimensionen zu glänzen. Und kein Doktorand versagt in jeder Hinsicht. Genau deshalb bedarf es begutachteter Leistungen. Und irgendeine Leistung lässt sich in jeder Doktorarbeit entdecken. So tritt an die Stelle des „eigentlich“ angemessenen dichotomen Urteils (passt – passt nicht) ein graduelles (summa cum laude, magna cum laude, cum laude, rite). Denn die wissenschaftliche Auslese dient nicht nur der Wissenschaft, sondern auch dem Distinktionsbedürfnis jener gesellschaftlichen Gruppen, die Wissenschaft finanzieren (und ermöglichen). Da haben, wie man am Fall Guttenberg sah, sogar rücksichtslose Fälscher eine Chance auf das höchste Qualitätsprädikat.
Das Schummeln der wissenschaftlich Unambitionierten oder Unbegabten (aber welcher Doktorand ist völlig unbegabt?) resultiert aber nur selten aus dem faustischen Kalkül eines Tauschs von Anständigkeit gegen Karrierechancen. Wer sich als Minderbegabter an den Schreibtisch setzt, um eine Dissertation zu verfassen, sieht sich in aller Regel in einer vertrackten Situation. Denn er muss Fähigkeiten nachweisen, die er nicht hat. Das Dilemma äußert sich typischerweise in schmerzhaften Formulierungsproblemen; im Verlangen, etwas ausdrücken zu wollen, was man mit eigenen Worten nicht auszudrücken vermag. Darunter fällt auch das sachlich angemessene und wissenschaftsübliche Vorgehen, eine fremde Position in indirekter Rede mit eigenen Worten und klarem Quellenbezug zu referieren. Denn das kann nur, wer verstanden hat, worum es geht. Aus diesem Dilemma findet nur heraus, wer es – auf ausreichender Wissensgrundlage – wagt, einen eigenen Standpunkt zu formulieren und sich damit selbst als Wissenschaftler zu präsentieren. Ängstliche, unsichere und unbeholfene Kandidaten scheitern an dieser Stelle.
Das Scheitern hat viele Gesichter. Es sind nicht ausschließlich die Unfähigsten, die den Versuch abbrechen und die Uni ohne den angestrebten Doktorgrad verlassen. Unter ihnen sind manche, die uneinlösbar hohe Ansprüche an sich selbst entwickelt haben, aber gleichzeitig den Test auf ihre Fähigkeiten scheuen. Andere sind mutiger und stehen dann vor dem Dilemma, entweder aufzugeben oder „nur ein bisschen“, „so wie andere“ und „fast unmerklich“ zu schummeln. Die übergroße Mehrheit der Schummler bleibt zeitlebens unentdeckt – und behält den Doktorgrad. Pech hat nur, wer eines Tages zum Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit wird. Wieder andere finden kein Ende des Lesens, Sammelns und Schreibens – bis ihnen das Geld ausgeht oder sie eine erkenntnisarme, aber unendlich umfangreiche Dissertation zuwege gebracht haben.
Die Doktorandin Annette konnte 1980 nicht wissen, dass sie eines Tages als Bundesministerin an ihre teilerschummelte Promotion erinnert werden würde. Sie hat damals nur getan, was man in ihrer Lage zu tun pflegte, wenn man Fleiß und Ehrgeiz, aber noch nicht genügend wissenschaftlichen Durchblick und wissenschaftliches Berufsethos entwickelt hat. Sie war ja noch so jung. Heute würde sie es anders machen. Dumm gelaufen. Immerhin bleiben ihr vier Ehrendoktorhüte.
Crosspost von Helmut Wiesenthal