von Hans-Jürgen Arlt, 15.2.13
Kurz und bündige Reflexe, wie sie „Spiegel“, „Focus“, „Welt“ und Co. berufsbedingt haben, lesen sich leichter als langatmige Reflexionen. Versuchen wir es trotzdem. Je nach bevorzugtem Sprachgebrauch wird von der industrialisierten, entwickelten, kapitalistischen oder kurz modernen Gesellschaft gesprochen und damit im soziologischen Kern dieses gesagt: Es handelt sich um eine Gesellschaft, die ihre Arbeit wirtschaftlich organisiert. Das war immer eine Verkürzung, denn es gilt der Befund, entweder keiner oder mehrere. Entweder können sich verschiedene Funktionsfelder eigensinnig entfalten, also nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Wissenschaft, der Sport, die Kunst, das Recht oder es existiert ein überwölbendes gemeinsames Dach – „die Partei“, „die Kirche“, „die Monarchie“ –, unter das sich alle zu ducken haben. Wenn sich die gesellschaftliche Arbeit ausdifferenziert und auf ihrem jeweiligen Gebiet „frei“ entfalten kann, dann gilt das nicht nur für die Arbeit in ökonomischer Form. Dann können sich auch die wissenschaftliche, die pädagogische, die künstlerische Arbeit etc. an ihren jeweiligen Fach- und Sachkriterien ausrichten. Zu den Folgen gehört einerseits das Aufblühen der Leistungsfähigkeit jedes Arbeitsfeldes. Andererseits liegen Konflikte in der Luft, weil sich die spezifischen Kriterien dort, wo sie aufeinander treffen, logischer Weise nicht miteinander vertragen: Ein Künstler, eine Wissenschaftlerin und ein Jurist werden zu einem schwierigen Trio, wenn sie sich auf etwas einigen sollen. Diese Ungleichartigkeit könnte sich mit Gleichrangigkeit im Prinzip vertragen. Das Konfliktpotential erscheint beherrschbar. Wo ist das Problem?
In ihrer Selbstdarstellung preist die moderne Gesellschaft ihre Geburt als große Befreiung, eben weil sie die einzelnen Arbeitsfelder dem Zugriff einer übergeordneten Herrschaft entzieht. Dieses Selbstlob ginge in Ordnung, würde nicht verschwiegen, dass gleichzeitig eine große Zwickmühle aufgestellt wurde, die als „Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit“ Geschichte macht. Wie sie diese strukturelle Falle auch für sich ausdeuten, ob sie sagen, alles wunderbar oder alles ganz schrecklich oder ob sie für kompromissbereiten Pragmatismus plädieren, Sozialpartnerschaft genannt – die Menschen sitzen in der Falle und müssen schauen, wie sie damit klar kommen. Es ist die Zwickmühle zwischen wirtschaftlicher Rationalität und sozialer Sicherheit. Wie entsteht sie?
Arbeit wirtschaftlich zu organisieren, müsste für sich genommen nicht wesentlich mehr Dramatik auslösen als die wissenschaftliche, familiäre, medizinische Organisation von Arbeit. Ökonomisch arbeiten heißt nur, das Verhältnis von Aufwand und Resultat in der Weise zu bedenken, dass mit möglichst geringem Aufwand ein möglichst gutes Ergebnis erzielt wird. Nichts klingt vernünftiger. Problematischer wird es, sobald es nur noch auf die Ökonomie ankommt. Der Arbeit, die rein wirtschaftlich gesehen und verrichtet wird, darf es nämlich nur auf die Differenz zwischen Ausgaben und Einnahmen ankommen. Ob Verlust oder Gewinn gemacht wird, daran entscheidet sich das wirtschaftliche Schicksal. Für sich genommen auch kein Beinbruch. Klar ist dann nur, dass solche Arbeit liegen bleibt, mit der kein Gewinn zu machen ist. Sofern sie als notwendig erachtet wird, müssen sich andere darum kümmern, die Wirtschaft lässt die Finger davon. Offenkundig ist auch, dass die Wirtschaft alles, was sie braucht, am liebsten kostenlos hätte – man spricht von Externalisierung – , denn so sind die Chancen, Gewinn zu machen, am besten.
Im Fall wirtschaftlich organisierter Arbeit dominiert die Tatsache, dass Arbeit als Kostenfaktor behandelt werden muss. Die Produktivität mit Hilfe der Technik zu steigern und die Kosten für Arbeit zu senken, indem diese möglichst intensiv genutzt und/oder möglichst billig entlohnt wird, sind die beiden klassischen Wege, um die Wirtschaftlichkeit der Arbeit zu garantieren. Man kann an dieser Stelle, wenn man es aus politisch-ideologischen Gründen für opportun hält, ein langes Lamento über kapitalistische Ausbeutung oder ein lautes Loblied über marktwirtschaftlichen Wohlstand anstimmen. Schenken wir uns beides, keines macht klüger. Der Satz, dass kein Prinzip seine letzte Konsequenz verträgt, gilt keineswegs nur für das wirtschaftliche. Allerdings redet sich die moderne Gesellschaft mit religionsähnlichem Eifer ein, dass ökonomisch organisierte Arbeit die Idealform der Arbeit sei.
Die strukturelle Falle der Moderne entsteht erst dadurch, dass die individuelle Erwerbsarbeit zum zentralen Schlüssel für die Lebensbedingungen aller Einzelnen wird, die nicht das Glück haben, reiche Erben zu sein. Wichtig für den Hinterkopf: Es ist nicht das selbe, ob man von der generellen Abhängigkeit zum Beispiel einer Nation von ihren vergangenen und gegenwärtigen Arbeitsleistungen spricht; oder ob man über die Kopplung der individuellen sozialen Existenz an Erwerbsarbeit redet. Arbeit ist in jedem Fall ein kollektiver, Generationen übergreifender Prozess; wie ihre Früchte verteilt werden, ist eine ganz andere Frage. Und es sind auch sehr verschiedene Dinge, ob eine Gesellschaft glaubt, Würde und Anerkennung der Einzelnen entspringe beispielsweise göttlicher Gnade, oder sie seien ein unabdingbares Menschenrecht für Fleißige wie für Faule, oder Würde und Anerkennung resultierten aus der (Arbeits-)Leistung der Einzelnen. Halten wir fest, dass heute die Vorstellung vorherrscht, die Einzelnen hätten sich ihr Leben und ihre Anerkennung via Erwerbsarbeit zu verdienen.
Um die Zwickmühle auf den Punkt zu bringen: Einerseits wird die soziale Existenz der Einzelnen an ihre individuell geleistete Erwerbsarbeit gekoppelt. Andererseits gilt die wirtschaftliche Organisation der Arbeit als die Idealform moderner Arbeit, also genau die Arbeit, die als zu minimierender Kostenfaktor behandelt wird. Die individuelle soziale Existenzbasis ist – strukturell festgeklopft – eine ökonomische Last. Genau das ist das Drama der Moderne.
Die Auswirkungen der Zwickmühle zwischen ökonomischer Rationalität und sozialer Sicherheit sind Legion. Es fängt mit merkwürdigen Verkehrungen an. Wie es keine Kunst, keine Wissenschaft, kein Familienleben ohne Arbeit geben kann, so gibt es auch keine Wirtschaft ohne Arbeit. Aber uns stellt sich das Problem genau umgekehrt dar, wir glauben, dass es ohne Wirtschaft keine Arbeit gibt. Wir sind aufgefordert, die Wirtschaft zu hegen und zu pflegen, dem scheuen Reh Kapital nicht zu sehr auf den Pelz zu rücken, damit die Arbeitsplätze nicht exportiert oder überhaupt abgeschafft werden. Und das ist ja keine Einbildung, es ist tatsächlich so; allerdings ‚nur‘ unter der doppelten Voraussetzung, dass die gesellschaftliche Arbeit weitgehend in wirtschaftlicher Form geleistet und der einzelne Mensch von seiner individuellen Erwerbsarbeit abhängig gemacht wird. Es entsteht darüber hinaus die Vorstellung, die Menschen würden nichts tun, wenn sie nicht gezwungen wären, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Das hat die Qualität des Arguments, dass den Mund nicht mehr aufmacht, wer nicht regelmäßig Reden halten muss.
Es geht damit weiter, dass Arbeit um der Arbeit, richtiger: der Bezahlung willen, zu einer vernünftigen Idee wird. Auf diese Idee ist vorher Jahrhunderte lang niemand gekommen. Arbeit, was immer sie sonst sein mag, ist jedenfalls keine Tätigkeit um ihrer selbst willen, darauf haben schon die alten Griechen bestanden. Deshalb findet sich auch heute weit und breit keine Organisation (abgesehen von eigens dafür gegründeten „Beschäftigungsgesellschaften“ oder dem deswegen etablierten real nicht mehr existierenden Sozialismus), die Arbeit anbieten würde, weil jemand Arbeit braucht. Nicht einmal die Kirche oder die Gewerkschaft schaffen bei sich Arbeitsplätze, weil Menschen arbeitslos sind, sie verlangen es nur von anderen. Die Zahl der angebotenen Arbeitsplätze, von der soviel abhängt – wie wir seit Weimar wissen, sogar der Bestand einer Republik – ist nur eine Nebenfolge von Entscheidungen, die allen möglichen, aber in jedem Fall anderen Zielen dienen. Das Original-Ziel Arbeitsplatz gibt es nur als künstlich, respektive staatlich geschaffenes, etwa im Sinne des Keynesianismus, der Gräben ausschaufeln und wieder zuschütten lassen will. Arbeitsplätze zu erhalten oder zu schaffen, ist ein vorzüglicher Vorwand, um zum Beispiel die Umwelt zerstören oder Drecksarbeit anbieten zu können, der eigentliche Zweck ist immer ein anderer.
Vor allem führt die strukturelle Falle moderner Arbeit zu einem Rattenschwanz an Anstrengungen und Auseinandersetzungen. Die Anstrengungen zielen darauf, Menschen in Arbeit zu bringen; der große Apparat der staatlichen Arbeitsvermittlung, die vielen privaten Vermittler und Berater, Schulungs- und Weiterbildungseinrichtungen arbeiten daran. Die Auseinandersetzungen drehen sich immer darum, wie die Lage und wer schuld ist, wenn sie so schlecht ist wie meistens. Die einen kritisieren die Probleme des Arbeitsmarktes, die anderen beschimpfen dessen Problemgruppen, die Alleinerziehenden, die Migranten, die Langzeitarbeitslosen. Gibt es zu wenig Ausbildungsplätze oder zu wenig fähige und willige Jugendliche? Wie groß ist der Unterschied zwischen registrierten Arbeitslosen und tatsächlich Arbeitsuchenden?
Es hört mit Gender- und Bildungsfragen noch lange nicht auf und spitzt sich in der Politik richtig zu. „Arbeit für die Menschen – das ist der Maßstab unseres Handelns“, sagen die Parteien, weil sie wissen, alle, die auf Erwerbsarbeit angewiesen sind, gehen irgendwann zur Wahl oder aus Frust auch irgendwann nicht mehr. Aber die Falle schnappt regelmäßig und unerbittlich zu, beschädigt die Menschen und macht die Politik unglaubwürdig bis zum großen Verdruss. Von der einen Seite schallt es unter dem Motto „fordern und fördern“: Besser Arbeit als Sozialleistung, „keine Arbeit ist so schlimm keine!“ Von der anderen Seite dröhnt es: Besser Wirtschaftlichkeit als Arbeitskosten, „Arbeit muss sich rechnen!“. Eine der fatalen Lösungen heißt Niedriglohnsektor. Billiglöhne kosten ökonomisch wenig und sozialpolitisch – es sei denn, es muss aufgestockt werden – im Moment gar nichts. Die Probleme kommen dann mit der Rente, die automatisch eine Armutsrente ist.
Die herrschende Meinung und ihre journalistische Fankurve haben sich entschieden. Sie setzen auf die Wirtschaftlichkeit der Arbeit und lesen den Fortschritt als Bilanz. Sie lassen die Wirtschaft gewinnen und versprechen, dass dieser Sieg auch den Verlierern nützt. Die Ökonomie, so lautet die Predigt, löst die soziale Frage – die sie selbst produziert. Weil sie eine soziale, keine ökonomische Antwort wäre, wird die 30-Stunden-Woche wie eine heiße Kartoffel gar nicht erst angefasst oder wie eine faule Frucht, die andere anstecken könnte, eilig aussortiert. Der Fortschritt ist wirtschaftlich, nicht sozial, davon lassen sich die Meinungsführer auch durch den Blick in Abgründe nicht abbringen.