von Daniel Leisegang, 29.2.12
Mitte Februar gingen mehrere zehntausend Menschen in Deutschland auf die Straße. Sie protestierten gegen ACTA, ein internationales Handelsabkommen gegen Produktpiraterie und Urheberrechtsverletzungen im Internet. Die Demonstranten befürchten, dass das Abkommen zu Online-Zensur führt und fordern stattdessen eine grundlegende Reform des Urheberrechts. Die Regierungskoalition zeigte sich überrascht vom „Aufstand der Generation Internet“ (FAZ) und setzte die Ratifizierung des Abkommens vorerst aus.
Allmählich begreifen die „etablierten“ Parteien, dass Netzpolitik nicht länger ein Nischenthema ist, sondern Konjunktur hat. Seit einigen Monaten verfügen die Digital Natives sogar über eine eigene parlamentarische Stimme: die Piratenpartei. Ihr gelang Ende vergangenen Jahres mit erstaunlichen 8,9 Prozent überraschend der Einzug in das Berliner Abgeordnetenhaus. Seitdem befindet sich die Partei weiter im Aufwind. Für die kommenden Landtagswahlen im Saarland und in Schleswig Holstein werden ihr zwischen fünf und sieben Prozent der Wählerstimmen vorhergesagt, im Bund sind es sogar bis zu neun Prozent.
Dass die Piraten Stimmen aus allen politischen Lagern erhalten, dürfte auch an der Unbestimmtheit ihrer politischen Ausrichtung liegen. Noch ist in den Augen vieler Beobachter unklar, ob sie in die Fußstapfen der FDP oder der Grünen treten. Der Vorsitzende der Partei, Sebastian Nerz, weicht einer klaren Positionierung aus: Er halte nichts von dem „Schubladendenken“ politischer Kategorien.
Auf diese Weise wollen die Piraten um jeden Preis den Eindruck vermeiden, sie seien eine Partei wie jede andere. Stattdessen verstehen sie sich als politische Systemadministratoren, die das Ziel verfolgen, „das Betriebssystem ihrer Staaten auszutauschen, mindestens aber es herunterzufahren, gründlich zu reparieren und neu zu starten.“ Das neue Betriebssystem soll sich durch basisdemokratische Entscheidungsstrukturen, transparente Verfahren und größtmögliche Freiheit auszeichnen.
Ihr Erfolg zwingt die Piratenpartei jedoch, sich über diese prozeduralen Fragen und die Netzpolitik hinaus auch zu anderen politischen Themen zu äußern. Im Zuge der programmatischen Debatten kommen die Piraten dabei nicht umhin, auch ihre Kernforderungen – Basisdemokratie, Transparenz und Freiheit – zu hinterfragen. Die Folge dieser Entwicklung ist absehbar: Die Piratenpartei ist auf dem besten Weg, ihre Alleinstellungsmerkmale zu verlieren und eine ganz normale Partei zu werden.
Vom Mitmach-Web zur Mitmach-Partei
Diese Entwicklung zeigt sich bereits bei den basisdemokratischen Prinzipien der Piraten. Nach dem Prinzip der Liquid Democracy – also sinngemäß einer Verflüssigung der demokratischen Abstimmungsprozesse – können potentiell alle Mitglieder direkten Einfluss auf die politischen Entscheidungen der Partei ausüben. Die Software Liquid Feedback erlaubt es jedem einzelnen Piraten, im Internet eigene Anträge einzubringen, diese mit anderen zu diskutieren und schließlich – falls sich ausreichend Unterstützer finden – zur Abstimmung zu stellen.
Diese Form der Online-Diskussion spricht vor allem jene Generation an, die seit langem aktiv die Werkzeuge des Web 2.0 nutzt. Für sie ist es nur ein kleiner Schritt vom Mitmach-Web zur Mitmach-Partei des digitalen Zeitalters. Knapp 7.000 der rund 20.000 Piraten nehmen derzeit an den Online-Debatten teil. Offensichtlich gelingt den Piraten mit dem Versprechen auf flache Hierarchien, eine rege Debattenkultur und direkte Beteiligung an parteiinternen Abstimmungsprozessen, woran andere Parteien scheitern: Sie sprechen ihre Mitglieder nicht nur als potentielle Wähler, sondern als Bürger an. Damit bieten sie all jenen eine politische Heimat, die es als frustrierend empfinden, sich „erst jahrelang hochzudienen und […] irgendwelchen Seilschaften unterzuordnen, um dann etwas bewegen zu können.“
Allerdings deutete sich bereits auf dem letzten Bundesparteitag im vergangenen Dezember an, dass die Piraten Opfer ihres eigenen Erfolgs werden. Den über 1.300 anwesenden Parteimitgliedern lagen insgesamt mehr als 350 Anträge vor, von denen nur ein Teil verhandelt werden konnte. Als sich zudem herausstellte, dass die angemietete Stadthalle bei weitem nicht alle angereisten Mitglieder aufnehmen konnte, lautete die Reaktion des Parteivorstands nur lapidar, das nächste Mal werde man einfach eine größere Halle mieten.
Angesichts des rasanten Wachstums der Mitgliederzahlen ist es jedoch unwahrscheinlich, dass die Piratenpartei ihren basisdemokratischen Anspruch aufrecht erhalten können wird. Die Alternative wäre die Einführung eines Repräsentationssystems. Liquid Feedback erlaubt es den Mitgliedern bereits, ihre Stimme an andere Piraten zu delegieren, etwa wenn sie diese für fachlich kompetenter erachten. Verfechter der „klassischen Basis-Demokratie“ befürchten indes, dass auf diese Weise „Superdelegierte“ zuviel Macht innerhalb der Partei erhalten. Stattdessen fordern sie dezentrale Parteitage, regelmäßige Urabstimmungen und eine modifizierte Abstimmungssoftware, die eine Delegation der Stimmabgabe ausschließt.
Die Piraten stehen damit vor einem schwierigen Spagat. Denn auf kurz oder lang werden sie ihren Repräsentanten im Parteivorstand und in den Parlamenten mehr politische Verantwortung einräumen müssen. Dabei werden sie voraussichtlich gezwungen sein, einen Kompromiss zwischen ihren eigenen politischen Ansprüchen und den Anforderungen einer parlamentarischen Partei zu finden – auf Kosten ihrer basisdemokratischen Prinzipien.
Die totale Transparenz?
Ähnlich sieht es bei einer weiteren Kernforderung der Piraten aus: dem Transparenzgebot. Konsequent lehnen sie jede Form der „Hinterzimmer“-Politik ab. Stattdessen verfolgen die Piraten das Ziel des Open Government. Indem sie unter anderem ihre Fraktionssitzungen mittels Live-Stream ins Internet übertragen, wollen sie das politische Alltagsgeschäft in einen kontinuierlichen digitalen Informationsstrom übersetzen. Selbst interne Konflikte werden offen – und bisweilen in harschem Ton – ausgefochten.
Während sich also die „etablierten“ Parteien nach außen meist um Konsens und Zusammenhalt bemühen, streiten die Piraten vor aller Augen um Positionen. Dabei scheuen sie sich nicht, auch mal – sehr zum Gefallen der Medien – ordentlich Rabatz zu machen. Außerdem suchen sie das direkte Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern.
Das Transparenzgebot wurde jedoch schon unmittelbar nach den Berliner Abgeordnetenhauswahlen auf eine harte Probe gestellt. Bereits in ihrer ersten gemeinsamen Sitzung kam es innerhalb der Piratenfraktion zum Streit über die Besetzung der Vorstandsposten und die provisorische Fraktionssatzung. Einige Abgeordnete setzten sich daraufhin – nicht zuletzt wegen der akribischen Dauerbeobachtung durch die Medien – mit der Forderung durch, Sitzungen auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchführen zu können. Schon nach wenigen Tagen schwante den frischgebackenen Parlamentariern also bereits, dass „die Piratenkultur mit der monolithischen, hierarchischen Struktur eines Abgeordnetenhauses nicht gut zusammenpasst“.
Dabei steht ihnen die eigentliche Bewährungsprobe noch bevor. Spätestens wenn die Piratenpartei politische Bündnisse schmieden will, stellt das Transparenzgebot eine kaum zu überwindende Hürde im parlamentarischen Betrieb dar. Insbesondere Koalitionsverhandlungen und Kabinettsitzungen lassen sich nur begrenzt in aller Öffentlichkeit durchführen. Vielmehr ist das politische Geschäft auf interne Aushandlungsprozesse und vertrauensvolle Abstimmungen zwangsläufig angewiesen.
Die Piratenpartei steht also auch hier vor einem Dilemma. Entweder verteidigt sie das Postulat der Transparenz vehement gegen die Regeln des parlamentarischen Geschäfts. Dann aber stünden aus Sicht der anderen Parteien eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und damit die Regierungsfähigkeit der Partei in Frage. Oder aber die Piraten weichen von ihrem Prinzip des offenen Regierens ab, was allerdings an den Grundfesten der Partei rütteln und zum Verlust einer weiteren zentralen Forderung führen würde.
Auf einem Auge blind
Der Hauptstreit droht den Piraten allerdings mit Blick auf ihren Freiheitsbegriff.
Auf ihrem letzten Parteitag verabschiedeten sie Forderungen, die im politischen Koordinatensystem als eher links gelten. Dazu zählen insbesondere die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens und eines bundesweiten Mindestlohns, die Eingrenzung von Leiharbeit sowie der Abbau von Hartz-IV-Sanktionen. Diese programmatische Tieferlegung wurde möglich, weil sich die „Vollis“, die Programm-Erweiterer, gegen die „Kernis“, die reinen Netzpolitiker, durchgesetzt hatten. Diese Wende deuteten die meisten Kommentatoren bereits als Linksrutsch der Partei. Tatsächlich kann die Position der Piraten jedoch auch nach dem Parteitag eher als libertär denn als links bezeichnet werden. Schließlich ist es vor allem die Diskriminierungsfreiheit, die den unterschiedlichen politischen Forderungen der Piraten gemein ist. Freiheit bewerten sie vor allem nach einem Kriterium: Entweder ist der Zugang zu einer Ressource, einer Institution oder einem Rechtsprinzip verschlossen oder er ist offen.
Seinen Ursprung hat dieses Freiheitsverständnis in der Netzpolitik. Ein wesentlicher Konflikt dreht sich hier um die Gleichbehandlung bei der Durchleitung von Daten im Internet, die sogenannte Netzneutralität. In diesem Sinne verstehen die meisten Piraten Freiheit auch im gesellschaftspolitischen Bereich vor allem als das Wegfallen von Benachteiligungen bzw. Hindernissen. Dies zeigt sich auch, wenn sie eine „fließende Schullaufbahn“ ohne Sitzenbleiben, den Wegfall der Regelstudienzeit für ein „freies und kritisches Studieren“, einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr, die Entkriminalisierung der Drogenpolitik und die offizielle Gleichbehandlung unterschiedlicher Lebensentwürfe fordern.
Ein solcher Fokus auf Diskriminierungen verkennt jedoch die Dialektik gesellschaftlicher Freiheit. Im Internet können Engpässe durch den Ausbau von Netzkapazitäten beseitigt werden. In der kapitalistischen Gesellschaft sind die materiellen Ressourcen allerdings begrenzt – und ungleich verteilt. So lässt sich in einem Sozialstaat die Benachteiligung des einen Bürgers oft nur ausgleichen, indem ein anderer Bürger einen Teil seines Wohlstands einbüßt.
Eine linke oder sozialliberale Politik muss Freiheit daher mit Gerechtigkeit zusammendenken. Und wer die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens fordert, stellt unausweichlich auch die Gerechtigkeitsfrage. Dass die Piraten dieses Bedingungsverhältnis jedoch übersehen – oder nicht sehen wollen –, wurde ebenfalls auf dem letzten Parteitag deutlich, als sie die Forderung nach einer Kappung der Managergehälter mit überwältigender Mehrheit ablehnten. Begründung: Man wolle Armut verhindern – nicht aber den Reichtum.
Ironischerweise liegt aber genau hier die eigentliche Ursache für den gegenwärtigen Erfolg der Piraten. Denn ein Freiheitsbegriff, der allen Bürgern gleichermaßen verspricht, sie von sozialen und ökonomischen Benachteiligungen zu befreien, tut auch niemanden weh. Im Gegenteil übt er vielmehr auf die Wähler unterschiedlicher Lager große Anziehungskraft aus – insbesondere aber auf jene der besitzenden Mittelschicht. Die Kehrseite ist, dass dem piratischen Freiheitsbegriff die sozialemanzipatorische Kraft fehlt. Weil ihr Freiheitsversprechen auf diese Weise ins Leere läuft, scheitern die Piraten daran, eine “Rückkehr zu humanistischen Prinzipien” (Juli Zeh) einzuleiten – und das just zu einer Zeit, in welcher der neoliberale Kapitalismus und mit ihm ein ohnehin entleerter Freiheitsbegriff rapide an Legitimität verlieren.
Welche fatalen Folgen das Ausblenden gesellschaftlicher Macht- und Dominanzstrukturen hat, zeigt die parteiinterne Diskussion um die Geschlechterpolitik. Auch hier sehen die Piraten über einen gesellschaftlichen Konflikt hinweg, indem sie die Gründe für die Diskriminierung kurzerhand wegdefinieren. Auf den geringen Anteil von Frauen in der Piratenpartei angesprochen, behaupten die Mitglieder, dass die Parteistrukturen jeder Frau und jedem Mann prinzipiell offenstünden. Und man könne keine Frau zwingen, bei den Piraten mitzumachen.
Vor allem jene, die von dem Diskriminierungsverhältnis profitieren, leugnen also seine Existenz. Im anbrechenden „Post-Gender“-Zeitalter, erklären die Piraten, habe sich jede feministische Debatte überholt. Echte Gleichberechtigung bedeute, dass man aufhöre, „Frauen zu zählen“. Da ist es nur konsequent, dass das Geschlecht der Mitglieder von der Parteiverwaltung nicht erhoben wird.
Der Konflikt um gesellschaftliche Ungleichheit lässt sich jedoch nicht einfach deinstallieren wie ein veraltetes Computerprogramm. Spätestens auf ihrem kommenden Bundesparteitag Ende April werden die Piraten daher erneut vor der Frage stehen, ob ein neues Betriebssystem allein als politisches Ziel ausreicht – oder ob es stattdessen nicht doch eines klar verorteten Parteiprogramms bedarf. Dann aber müssten sie zugunsten einer programmatischen Organisationspolitik eine Aufweichung ihrer basisdemokratischen Prinzipien und des Transparenzgebots zulassen. Zum anderen kämen sie nicht umhin, ihr Freiheitsideal entlang politischer Koordinaten auszurichten. Diese Notwendigkeit einer programmatischen Positionierung könnten die Piraten als Scheitern begreifen – oder aber als politische Chance.
Dieser Beitrag erscheint in Kürze auch in der Märzausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik.