von Bobby Rafiq, 9.1.15
Woody Allen hat mal gesagt, Humor sei gleich Tragödie plus Zeit.
Zeit lässt nicht nur Humor entstehen, sondern einen erst wirklich überhaupt humorvoll sein, um mit einer Situation umgehen zu können, deren Unerträglichkeit und Grauen sonst kaum fassbar wäre, ohne in Lethargie zu verfallen oder paralysiert zum Paranoiker zu werden. Ähnlich verhält es sich mit einer sachlichen Analyse. Sie bedarf der Zeit. Nicht nur, um auf offene Ohren zu stoßen, sondern auch um dem Schwitzkasten der eigenen Emotionalität entkommen zu können, momentan vor allem geprägt von Wut und Angst.
Der feige Anschlag im Namen des Islam auf die mutigen und bis zum Schluss stolzen Macher von Charlie Hebdo hat aber hoffentlich auch dem letzten einigermaßen vernunftbegabten Menschen vor Augen geführt, dass wir keine Zeit haben. Jederzeit kann sich ein ähnlich brutaler, verheerender und wahnsinniger Anschlag in Deutschland ereignen. Im Namen des Islam, aber auch im Namen eines sich gefährdet fühlenden Abendlandes. Die Taten des NSU sind bis heute nicht endgültig aufgearbeitet und der Massenmord von Anders Breivik in Norwegen, samt geschriebenem abendländischen „Manifest“, dürften viele in schlechter Erinnerung haben. Von den unzähligen Anschlägen auf Moscheen und der Gewalt gegenüber Menschen, die sich als Muslime zu erkennen geben, sowie den Angriffen auf Personen jüdischen Glaubens durch fanatisierte, ihrem Antisemitismus frönende Jugendliche und Rechtsradikale ganz abgesehen.
Gesellschaftlicher Treibhauseffekt wird aus vielen Richtungen forciert
Manche mögen sagen, die Gefahr eines Anschlages sei nicht neu, sie bestehe seit 9/11, also seit fast anderthalb Jahrzehnten. Außerdem habe es bei uns in Europa bereits Attentate in Madrid, London, Brüssel, Oslo und anderswo gegeben. Aber auch dort sei das Leben danach weitergegangen, die Welt habe sich weitergedreht.
Das stimmt. Aber erstens gab es dennoch weitere Opfer, die aus Racheakten hervorgingen – jedes von ihnen war ein weiteres zu viel. Und zweitens ist in der Zwischenzeit, während sich die Welt weitergedreht hat, der IS dem Höllenschlund entsprungen – der seine Kämpfer auch bei uns rekrutiert –, sind widerliche Bestseller über die Ladentheke gegangen, haben manche Politiker und Medien Ängste geschürt und Feindbilder konstruiert, existiert in Deutschland eine wirre „Bewegung“ – die vorgibt, differenzieren zu wollen, jedoch weiterhin unter einem pauschalisierenden Motto effektvoll und gefährlich Schnute ziehend spazieren geht – usw. usf.
Die unterschiedlichen Punkte in der Aufzählung verbindet eines: ihr Beitrag zu einem gesellschaftlichen Treibhauseffekt. Die Temperatur steigt stetig. Demokratische und freiheitliche Werte sind auch bei uns zunehmend gefährdet. Vor dem Hintergrund des schwindenden Einflusses der Politik auf den, in jeglicher Hinsicht, entgrenzten Kapitalismus, prekärer Lebensverhältnisse von immer mehr Menschen, einer stetig wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, einer zunehmenden Politiker- und Faktenverdrossenheit ist ein Klima entstanden, das den Eindruck vermittelt, es bedarf nicht mehr viel, bis uns die Verhältnisse und das System, in dem wir leben, gänzlich um die Ohren fliegen.
Dieser Hintergrund ist Ursache, Wirkung und Reaktionsbeschleuniger zugleich. Er hat einen destruktiv wirkenden Nährboden geschaffen, auf dem der soziale Frieden zunehmend zur Disposition steht. Die Gesellschaft leidet an einer Art Affektstau. Jede gesellschaftliche Gruppe hat ihren eigenen. Die Angst vor dem Affektstau der einen vergrößert den der anderen.
Radikale Rückbesinnung
Wie soll man mit dieser Situation umgehen?
In einer solchen Situation können keine Reparaturen am System durchgeführt, geschweige denn die Systemfrage gestellt und beantwortet werden. Die Zeit reicht nicht aus.
In einer Phase, in der noch nicht genügend Zeit vergangen ist, um mit kühlem Kopf und klarem Verstand tiefgründige Analysen durchführen oder wenigstens durch Humor Druck ablassen zu können, in der aber dennoch gehandelt werden muss, braucht es etwas anderes: eine leidenschaftliche gegenseitige Vergegenwärtigung unserer Werte und die ihrer Gültigkeit für alle.
Mit Leidenschaft und in übertriebener Form müssen wir uns, gegenseitig ins Gesicht „schreiend“, in Erinnerung rufen, was die Grundpfeiler unserer Gesellschaft sind und dass sie sich auf alle Menschen in Deutschland beziehen: Einigkeit und Recht und Freiheit.
Unsere Grundpfeiler und Werte sind in den letzten Jahrzehnten zu solchen Selbstverständlichkeiten geworden, dass in weiten Teilen der Bevölkerung ihre Schwächung kaum noch wahrgenommen wird.
Wir blicken nämlich nur noch selten über den Tellerrand der eigenen Bezugsgruppe hinaus, um mitzubekommen, dass bestimmte Grundwerte in anderen Gruppen nicht mehr gänzlich gültig sind (Alte, Kinder und Jugendliche, Arbeitslose, Flüchtlinge etc.). Es liegt aber auch daran, dass gesellschaftliche Kreise, siehe PEGIDA, vorgeben, für die eigenen Werte zu kämpfen, sie aber zugleich mit Füßen treten, weil sie ihre Gültigkeit nicht allen in Deutschland lebenden Menschen gewähren wollen. Zugleich wird aus westdeutscher Richtung so getan, als wären beispielsweise die Dresdener Ereignisse ein Beleg dafür, dass Ostdeutsche weniger demokratiefähig seien. Von den Kämpfen aller gegen alle u.a. auf dem Arbeits-, Wohnungs- und Bildungsmarkt ganz abgesehen.
Unsere demokratischen Werte und Grundrechte sind es in erster Linie, die religiöse Fanatiker, Terroristen, Rassisten, Populisten und daraus buchstäblich Kapital schlagende Trittbrettfahrer neutralisieren wollen. Denn sie wissen, wenn diese Werte ins Wanken geraten, kippt eine Gesellschaft. Kippen kann sie aber nur, wenn wir uns im Fall der Fälle – z.B. unmittelbar nach einem Anschlag – nicht radikal rückbesinnen, um einander nicht allein zu lassen und aus der Schockstarre zu reißen.
Alle stehen in der Verantwortung
Als gesellschaftlich-politische Mitte dürfen wir uns den wachsenden Rändern nicht ohnmächtig ausliefern. Zugleich gilt aber auch: Es gibt keine Ränder ohne Mitte.
Wir tragen eine Mitverantwortung dafür, dass die Ränder, egal welcher Art, erstarken. Das größte Rekrutierungsbecken der Ränder steht mitten in der Mitte, woanders her können die meisten ihrer Anhänger nicht kommen. Jeder einzelne, ob in beruflichen oder privaten Zusammenhängen, muss sich die Frage stellen, was er oder sie dafür tut, dass unsere Werte nicht ihre allumfassende Gültigkeit verlieren. Aufmerksames Hinhören, Zuhören, Gespräche führen, Streit, Debatte, Diskussion und eine klare eigene Positionierung, sprich Haltung, könnten ein guter Anfang sein.
Für diese Rückbesinnung muss sich jetzt schon jeder und jede einzelne vor Augen führen,
- dass die Würde des Menschen unantastbar ist und dass jede in Deutschland lebende Person als Mensch gilt.
- dass alle Menschen gleich sind, ungeachtet ihrer Herkunft, Religion und Sexualität.
- dass Meinungs-, Rede-, Presse- und die Freiheit der Kunst Grundrechte sind, die für alle gelten und alle zu achten haben.
- dass auch die Religionsfreiheit ihren Platz im Grundgesetz hat.
- dass nichts, aber auch gar nichts über dem Grundgesetz stehen kann, zugleich es aber auch jedem und jeder freisteht, im Privatleben etwas über das Grundgesetz zu stellen, solange die Gesetze beachtet werden. Alles andere bedürfte einer Gesinnungspolizei,
- dass genau dieser Umstand die wenigsten Muslime betrifft. Die große Mehrheit von ihnen lebt nicht nur brav integriert in Deutschland, sondern versteht sich auch als Teil der hiesigen Gesellschaft und nimmt „ihre“ Werte als selbstverständlichen Teil des eigenen Lebens wahr. Es sind nämlich keine westlichen oder europäischen, sondern universelle Werte, die jeder Mensch auf Erden für sich in Anspruch nehmen möchte.
- dass man gerade deshalb nicht jenen Stimmungsmachern und Profiteuren von Feindbildkonstruktionen auf den Leim gehen sollte, die ständig das Gegenteil von dem behaupten, was Zahlen über Muslime belegen (siehe u.a. aktuelle Bertelsmannstudie),
- dass man endlich einsieht, dass es vor allem Muslime selbst sind, die weltweit von Terroristen massakriert werden und es deshalb absurd ist, von ihnen zu verlangen, sich ständig von einer Sache distanzieren zu müssen, deren Opfer sie mehrheitlich sind,
- dass wir in diesem Zusammenhang nicht vergessen sollten, dass es in der sogenannten islamischen Welt täglich Anschläge gibt, wie wir sie in Europa glücklicherweise „nur“ alle paar Jahre erleben. Dort widerfährt den Menschen regelmäßig ein 11. September.
- dass man endlich mal zur Kenntnis nimmt, dass es genügend Muslime auf der Welt und erst recht in Deutschland gibt, die in aller Öffentlichkeit ihre Abscheu gegenüber solchen Taten wie in Paris sehr klar und deutlich zum Ausdruck bringen.
- dass Teilhabe auch für Minderheiten nicht nur bedeutet, Pflichten erfüllen zu müssen, sondern auch Rechte gewährt zu bekommen und dass wir es aushalten müssen, wenn dieser Umstand dazu führt, dass Forderungen gestellt werden. Nicht jede muss auf Zustimmung treffen, keine von ihnen wird automatisch umgesetzt, aber sie zu stellen, gehört zu einer freiheitlichen Demokratie.
- dass es für islamischen Faschismus genauso Erklärungen gibt wie für völkischen und dass der Kampf gegen beide nur gemeinsam geführt werden kann, ohne sich wechselseitig zu unterstellen, den Keim des Widerlichen in der kulturellen DNA zu tragen und dass es kein Entkommen gäbe.
- dass Antisemitismus, zumal in Deutschland, bei keiner Gruppe geduldet werden darf.
- dass in einer freiheitlichen Demokratie die selbstverständliche Vollwertigkeit eines jeden Menschen nicht unter ökonomischen Gesichtspunkten entwertet werden darf.
Es steht jedem frei, diese Liste fortzusetzen. Viele der Punkte mögen manchen wie ein Bündel Binsen vorkommen. Problem: Es sind schon lange keine Selbstverständlichkeiten mehr. Wir stellen seit Jahren unsere Werte in Frage und merken es zum Teil gar nicht mehr oder nicht in der nötigen Intensität.
Demokratie unter Vorbehalt
Wenn uns diese Form der radikalen Rückbesinnung gelingt, dann können wir den Point of no Return umgehen, dann werden wir gestärkt aus Tagen wie diesen hervorgehen. Alternativen sind mir unbekannt.
Es gibt sie sicherlich, aber es sind düstere. Ihr Motto lautet: der Eingang des Menschen in seine selbstverschuldete Unmündigkeit. Ihre Konsequenz: Demokratie unter Vorbehalt.
Eine Rückbesinnung auf unsere Werte sind wir nicht nur uns, sondern auch den Opfern schuldig. „Je suis Charlie“ muss auch bedeuten, dass vor allem wir selbst Freiheit und Demokratie verteidigen müssen und nicht nur auf den Staat und seine Behörden warten dürfen. Zumal im Zuge der NSU-Mordserie mehrheitlich Muslime auf perfideste Art von ebenjenen alleingelassen wurden.
Der Polizist, den die Attentäter auf dem Gehweg regelrecht exekutierten, hieß Ahmed Merabet. Der 42-Jährige stellte sich den beiden Tätern entgegen. Sie haben ihn mit einem Kopfschuss getötet.
Der gemeinsame Kampf findet schon längst statt. Wir brauchen nur hinschauen, um zu erkennen, wer einem zur Seite steht. Es ist kein Kampf der Kulturen, keiner der Religionen, sondern der von leidenschaftlichen Anhängern der Demokratie gegen ihre Feinde.