#Digitalisierung

Nach dem Faymann-Rücktritt: Berlin ist Wien

von , 9.5.16

Der Rücktritt von Werner Faymann ist ein Fanal. Der sozialdemokratische Parteiführer und Bundeskanzler lässt sich von einer rechtspopulistischen Strömung, die längst die eigene Partei erfasst hat, aus allen Ämtern eines wirtschaftlich florierenden Landes drängen. Österreich ist nah. Die politischen Einschläge kommen näher. Mag sein, dass sich Faymann durch besonders geringe Grundsatztreue auszeichnete. Und sicher kommt die deutsche SPD bei Meinungsumfragen immerhin auf den doppelten Prozentanteil gegenüber dem Ergebnis des österreichischen SPÖ-Präsidentschaftskandidaten. Aber auch in Deutschland ist der Zerfall der herkömmlichen Parteienstruktur unübersehbar. Auch den deutschen Sozialdemokraten könnte das österreichische Schicksal drohen.

Spätestens jetzt ist es an der Zeit, die AFD nicht länger als ungeliebten Bastard, der eigentlich nicht ins Parlament gehört, zu behandeln, sondern als eine Partei, die eine wachsende Zahl von Wählern als ihre Stimme empfinden. Das bedeutet nicht, ihren rückwärtsgewandten, oft Menschen verachtenden und gefährlichen Kurs nachzuahmen oder ihm nachzugeben, wie es jetzt in Österreich geschehen wird. Aber es reicht eben so wenig, der AFD eine neonazistische Ausrichtung vorzuhalten und den beliebten Kampf gegen Rechts zu verschärfen. Zur guten politischen Kultur hierzulande gehört es, solche Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen und vor ihnen zu warnen. In diesem Fall werden sie nur dazu führen, dass das sich politische Führungspersonal der AFD, das in weit überwiegender Mehrheit nicht den Neonazis zuzurechnen ist, sich ein wenig mehr vorsieht vor deren Unterwanderungsversuchen, programmatischen Einflüssen und einem allzu demagogischen Spiel damit. Aber es wird keinen AFD-Wähler von seiner Stimme für diese Partei abhalten. Ein übertriebener „Antifa-Kampf“ wird viele in ihrer Wahlentscheidung eher bestärken. Nach dem Motto: Wenn die freundliche Frau Petry es mit den Neonazis hält, können die ja nicht so schlimm sein. Das hat SPD-Vize Olaf Scholz in seinem jüngst bekannt gewordenen Strategiepapier richtig erkannt.

Die bemerkenswerten Erfolge der Rechtspopulisten sind ein Signal für tiefgreifende Veränderungen der Gesellschaften in fast allen entwickelten Industrieländern. Auslöser dafür sind die wirklich revolutionären Veränderungen der Wirtschaft durch die Digitalisierung und die schwer wiegenden Folgen für einen wachsenden Teil der Beschäftigten. Die berechtigte Angst vor sozialem Absturz verändert das gesellschaftliche Klima dramatisch. Das ist am Erfolg von Donald Trump noch schärfer als in Europa zu beobachten. Milliardär Trump, der selbst in großem Maße Arbeit vernichtet hat, ist zur Stimme der bedrohten weißen Arbeiter geworden. „Automatisierung und Globalisierung haben in Amerika zu Deindustrialisierung geführt. Vielerorts ist zwar ein Strukturwandel gelungen, aber viele Dienstleister von heute verdienen schlechter als die Industriearbeiter von gestern. Ein wirtschaftlicher Aufschwung macht sich im Geldbeutel vieler Familien nicht bemerkbar. Jeder fünfte weiße Mann zwischen 30 und 50 Jahren hat keine Arbeit. Die Lebenserwartung gering qualifizierter Weißer sinkt wegen Selbstmorden, Alkoholismus und Drogensucht. In jedem Dorf zerstört billiges Heroin Familien“, kommentiert Andreas Ross in der FAZ.

Mit dem wirtschaftlichen Absturz geht eine gesellschaftliche Isolierung einher: „Die Elite hat über solche Sorgen nicht nur hinweggesehen. Viele ‚einfache Leute’ fühlen sich und ihre Lebensweise regelrecht verhöhnt. Mag in Amerikas besseren Kreisen heute die Verunglimpfung ethnischer oder sexueller Minderheiten verpönt sein, Spott gegen „Rednecks“ ist salonfähig. Diese ‚Hinterwäldler’ leben ja im ‚flyover country’, das viele Manager oder Meinungsmacher nur beim Metropolen-Hopping zwischen Ost- und Westküste überfliegen. Amerika ist immer weniger egalitär und immer mehr ein Land abgeschotteter Klassen geworden. Ärzte heiraten nicht mehr die Sprechstundenhilfe, sondern eher die Kommilitonin von der Eliteuniversität. Kulturelle Gemeinsamkeiten werden rar“, analysiert Andreas Ross.

Eine ähnliche Entwicklung ist auch in Deutschland zu beobachten: Nach einer von der Wirtschaftswoche (19/2016) exklusiv veröffentlichten DIW Studie schrumpft der deutsche Mittelstand dramatisch und konzentriert sich der Reichtum an der Spitze. Die Wirtschaftswoche sieht Deutschland „auf dem Weg zu amerikanischen Verhältnissen“. Seit Helmut Schelskys „nivellierter Mittelstandsgesellschaft“ galt eine wachsende Mittelschicht als Garant für demokratische und gesellschaftliche Stabilität. Eine schrumpfende stärkt dagegen die politischen Ränder und beschleunigt ihre Radikalisierung. Der Prozess wird verschärft durch Skandale wie beim Mitbestimmungs-Vorzeige-Unternehmen Volkswagen, wo der Vorstand in der schwersten Krise seines Unternehmens nur mühsam auf einen Teil des Einkommens und dann auch nur vielleicht verzichten will. Selbst die FAZ spricht von „Gier“.

 

Es braucht einen „New Deal“, eine Gesellschaftsvereinbarung, möglichst wenige in dem längst begonnenen Umbruch zurück zu lassen. Das ist keine Frage einer einzelnen Partei.

 

Wie in den USA habe viele „kleinen Leute“ auch in Deutschland das berechtigte Gefühl, abgehängt zu werden. Stefan Laurin hat das in einem etwas bösen, aber genau beobachtenden Text notiert: „Alles, was es heute gesellschaftlich zu ächten gilt, wird der Arbeiterklasse zugeschrieben. Sie rauchen und trinken zu viel, auf ihren Tellern liegt zu viel Fleisch, sie sind zu dick und machen zu wenig Sport, mögen Autos, fahren zu wenig Rad und arbeiten auch noch in Industrien, die man am liebsten gar nicht mehr im Land hätte. Dazu bekommen sie noch viele Kinder und die sind dann auch noch dumm. Und Urlaub machen sie an den falschen Orten, wo sie in zu großen Mengen auftreten und sich dann auch noch schlecht benehmen. Es ist ein Klassenkampf, der von einer autoritär-ökologisch geprägten Mittel- und Oberschicht geführt wird. Der Neoprotestantismus duldet keinen Widerspruch, seine schärfsten Waffen sind die brutale Abwertung aller anderen Lebensweisen und ein bislang nicht da gewesener Kulturkolonialismus.“

Dieser Bruch fällt hier zu Lande besonders auf, weil es spätestens seit der von den Nazis aufgegriffenen und propagierten Volksgemeinschaft bis heute eine starke egalitäre Grundströmung gibt. Beide deutsche Staaten setzten bei der Mythologisierung des („Hand in Hand“) Nachkriegswiederaufbaus darauf. In der DDR wurde die Gleichheit zur Staatsdoktrin erhoben, der nicht wenige heute noch nachtrauern. In der Bundesrepublik erlebte die egalitäre Grundströmung, verstärkt durch die Achtundsechziger-Bewegung, ihren Höhepunkt in den Neuzehnhundertsiebziger und den Anfängern der -achtziger Jahre. Damals schickten auch Eltern aus höheren Schichten ihre Kinder auf die neu gegründeten Gesamtschulen. Die Gesellschaft erschien und war durchlässiger. Mitbestimmung all überall geriet zum prägenden Wert, Elite war eher verpönt. Die ganze westdeutsche Nachkriegszeit hindurch gelang es mehr oder weniger gut, politische und wirtschaftliche Krisen im Geiste der deutschen Sozialpartnerschaft zu lösen.

In die hohe Zeit der Egalität fällt auch der Zerfall großer genossenschaftlicher durch die Gewerkschaftsbewegung begründeter Institutionen, die über lange Zeit ihren Mitgliedern nicht nur wirtschaftliche Unterstützung sondern auch einen kulturellen Halt boten. „Neue Heimat“ und die „Bank für Gemeinwirtschaft“, Unternehmen mit Milliarden-Umsätzen gingen an Misswirtschaft und Korruption zugrunde, andere liquidierten sich still. Das schien nicht so dramatisch, weil der Staat die Grundbedürfnisse zunehmend absicherte. Nun fehlt denen, die sich vernachlässigt wissen, ein organisatorischer Rückhalt, der Selbstbewusstsein sichert. Das kann kein Staat.

Der SPD kann es in dieser Situation kaum gelingen, die von Parteichef Sigmar Gabriel zu Recht beschworene „demokratische Mitte“ und die unzufriedenen „kleinen Leute“ zu einen, weil der kulturelle Bruch zwischen ihnen zu weit fortgeschritten ist. Es ehrt sie, dass es ihr immer schwer gefallen ist, die Stimme der Wütenden zu sein. Auch neue staatliche Zuwendungen werden nicht wirken. Es braucht einen „New Deal“, eine Gesellschaftsvereinbarung, möglichst wenige in dem längst begonnenen Umbruch zurück zu lassen. Das ist keine Frage einer einzelnen Partei. Am Anfang steht die Einsicht in die Notwendigkeit. Das ist ein langer Weg, nach den Wahlen in Österreich und Frankreich im schlechtesten Fall auch ein eigener deutscher Weg. Wenn er dann noch möglich ist.

 


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