#Dialog

Mythos Sichtbarkeit des Publikums

von , 23.2.18

Der Medienökonom Axel Zerdick veröffentlichte als Sprecher des European Communication Council zwischen 1997 und 2004 maßgebliche Werke zur Ökonomie der digitalen Kommunikation und Medienwirtschaft. Die „Internet-Ökonomie – Strategien für die digitale Wirtschaft“ als zentrale Publikation wurde ins Englische, Chinesische und Japanische übersetzt. Zu den Grundannahmen zählte die Identifikation von Missverständnissen in den Wechselbeziehungen zwischen Publikum und Redaktionen. Der Autor, selbst Student und später Mitarbeiter Axel Zerdicks am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin, sieht den Zeitpunkt gegeben, den Grundannahmen zum Wesen und Nutzen der digitalen Kommunikationssphäre Erfahrungswerte hinzuzufügen.

Heute finden die theoretischen Überlegungen aus den 1990er Jahren zum Verhältnis von Publikum und Redaktion im Medienwandel ihre Bestätigung in der massenhaften Nutzung digitaler Kommunikationsoptionen. Doch weder das breite Publikum noch Redaktions- und Verlagsmanagement profitieren derzeit von digitalen Kommentaren. Mehr noch, die plurale Medienlandschaft erfährt eine dysfunktionale Schwächung. Das verlegerische Angebot interaktiver Kommunikationsdienste führt zu Markt- und Kommunikationsversagen.

Die seinerzeit apostrophierten Facetten möglicher Entwicklung von Kommunikation und Medienwirtschaft – zwei Missverständnisse, Kommunikation sei wünschenswert und Interaktivität sei gut, liegen in den Grenzen der individuellen Mediennutzung begründet. In der Zwischenphase des netzpublizistischen Avantgardismus galten Vernetzungen via Kommentierung als Ausdruck revolutionärer Neudefinition von Öffentlichkeit. Foren der 1980er Jahre wie Usenet, Anfänge der Social Software in den frühen 1990er Jahren mit Compuserve und schließlich die Blogosphäre in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts verschleierten den Blick auf die sich ausfaltenden gesamtgesellschaftlichen Effekte digitaler, internationaler Kommunikation und Medienwirtschaft. Zeit, Geld und Aufmerksamkeit haben sich als zentrale individuelle Ressourcen zur Organisation des Alltags und damit einhergehend zur Organisation von Kommunikation behauptet und verstärkt. Sie bilden fortan die Grenzen der Mediennutzung und determinieren die Medienwirtschaft (mit der Einschränkung um eine immer wieder vermutete „Ökonomie der Aufmerksamkeit“; Aufmerksamkeit bleibt individuell und ist weder zu akkumulieren noch zu operationalisieren, bleibt als persönliche Ressource jedoch signifikant für die Mediennutzung).

 

Unterscheidung zwischen interpersonaler Kommunikation und Massenkommunikation

Die Ankündigung des 2018 größten Mainstream-Social Networks Facebook, die Relevanz von Kommunikationsakten privater Kommunikation höher zu bewerten als beispielsweise journalistische Massenkommunikation trägt zur Notwendigkeit einer Reflektion genauso bei wie die schleichende Erkenntnis des redaktionellen Informationsgenres und Medienvertriebsmanagements, dass die eigene Markenstärke abnehmend ist, sobald Kommunikationsplattformen zur Weiterverbreitung von journalistischen Inhalten genutzt werden.

Auf der Seite des Verlags- und Redaktionsbetriebes herrschen heute weit verbreitete Überzeugungen, die neu erreichte Nähe zum Publikum mit großem personellem Aufwand zu pflegen. Wir müssen Social Media. Aus der Verwaltungsperspektive, der Vermarktung, gilt es Datensammlungen von Kunden zu generieren und bestenfalls weiterverkaufen zu können. Diese Eigenschaften von Communitybuilding wurden in der „Internet-Ökonomie“ (S. 237) als vielfältiger Ansatzpunkt beschrieben, nachhaltige Geschäftsbeziehungen zwischen Anbieter und Konsumenten differenzierbar zu pflegen. eCommerce hat sich etabliert. Hinzu kamen Ehrgeiz und Selbstverständnis des Journalismus nach Reichweite und Sichtbarkeit im publizistischen Wettbewerb. Verlags- und Redaktionsmanagement waren sich sympathisch einig, die Aktivität „Journalismus“ mit den Geschäftsmodellen des digitalen Medienbetriebes verbinden zu können.

Individual- und Gruppenkommunikation unterscheiden sich jedoch maßgeblich von Massenkommunikation. Auch und obwohl sie nebeneinander in hybriden Kanälen auftreten und gegebenenfalls verschränken. Ist die interpersonale Kommunikation das soziale Bindeglied zwischen Individuen und Gruppen, stellt die Massenkommunikation nach wie vor auf One-Way-Kommunikation ab. Nicht aufgrund von Innovationsfeindlichkeit oder einem Verschlafen gesellschaftlicher Entwicklungstrends im Kommunikationssektor, sondern aufgrund der Beschaffenheit von Kommunikationsakten in Sendung und Rezeption. Weder vereinen sich relevante Gruppen in den Kommentarfenstern noch stellen Interaktionsakte repräsentative Größen des zurechenbaren Publikums dar. Auch lässt der Arbeitsprozess eines Journalisten keine Debatten mit Leserinnen und Lesern im Alltagsgeschäft zu. Die Funktionalität von Kommunikationsformen bleibt auch im Medienwandel stabil. In der „Internet-Ökonomie“ heißt es dazu, „der interaktive Nutzer der Zukunft wird als ein universell hyperaktiver und hoch selektiver Mensch missverstanden.“ (S. 247)

 

Irrationale Erfolgsfaktoren im Ideenwettbewerb

Das Publikum ist durch technische Beobachtbarkeit sichtbarer als in der Vergangenheit geworden. Die Messung von auf Inhalte zugreifenden Geräten, die bestenfalls von jeweils verschiedenen Personen bedient werden, sorgte gleichsam für eine Form der Besoffenheit, mussten Redaktions- und Verlagsmanagement für belastbare Reichweitenzahlen in der analogen Medienwirtschaft doch ausschließlich auf teure und quasi-repräsentative Befragungen von Samples zurückgreifen, die in ihrer Funktion doch „nur“ Übereinkünfte zwischen der Werbewirtschaft und Medienbetrieben zur Verteilung von Mitteln, eine medienökonomische Währung darstellten. Wer wieviel, wann und wo auf journalistische Informationsangebote mit welchen Effekten zugegriffen hatte, dafür liefern diese Tools keine verlässlichen Werte. Heute sind es beispielsweise mathematisch exakte Likemedien-Rankings, die im redaktionellen Marketing nervöse Beachtung finden. Es ist (unter dem Link) sogar von „deutlichen Gewinnen“ die Rede. Gewinne? Geld? Arbeitsplätze? Zeit? Möglicherweise Identitätsbestätigungen. Möglicherweise Beliebtheit. Man möchte „beliebt“ sein wie ein pubertierendes Mädchen in seiner sozialen Peer-Group anderer Pubertierender? Vereinzelt, vielleicht. In der Summe sicher nicht. Die Statistiken sollen Ausdruck und Rangliste des Ideenwettbewerbs sein. Die Dispersität der Mediennutzung kann überwunden werden und, mehr noch, es kann mit dem Publikum in Interaktion getreten werden. Wozu und weshalb? Gibt es eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Interaktion mit dem Publikum und den Erwartungen des Publikums an die Nutzung von Informationsangeboten?

Ja. Eine eklatante Diskrepanz. Die von Axel Zerdick als „rationale Passivität“ (S. 247) in der Mediennutzung und von Michael Jäckel als Niedrigkostensituation umschriebenen, durchschnittlichen Einordnungen des Verhältnisses zwischen journalistischen Kommunikatoren und des Publikums als Rezipienten deuten darauf hin. Kurz – die Ignoranz des Publikums gegenüber aufwändig gestalteten Interaktionsangeboten ist nicht nur theoretisch anerkannt sondern auch vielfältig empirisch belegbar. Die Motivation zur Nutzung von redaktionellen Beiträgen liegt in der Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsfunktion des Journalismus. Sie hat wenig mit der von Siegfried Weischenberg beschriebenen selbstreferentiellen Umwelt, der redaktionellen Kommunikationsblase zu tun. Elisabeth Prommer kommt 2017 zu dem Schluss: „Die Netzkommunikation spiegelt die Meinung der Bevölkerung nicht wider.“ Die institutionelle Kommunikationsumwelt kann nicht als Äquivalent für die öffentliche Meinung, deren Träger das Publikum ist, angewendet werden.

 

Belege des Markt- und Kommunikationsversagens

Zwei aktuelle Beispiele sollen den Mythos des beobachtbaren Publikums relativieren: Zuerst mittels der Vortragsinhalte eines Social Community-Teammembers einer – zumindest online – großen österreichischen Tageszeitung 2017, die pro Monat von zwei Millionen Geräten angesteuert wird und über rund 25.000 registrierte Forenmitglieder verfügt. Von diesen 25.000 Personen seien ein Prozent als Verfasser von Kommentaren aktiv (für das Verfassen von Kommentaren ist eine Registrierung verbindlich). Weitere neun Prozent posteten selten und die verbleibenden 90% seien „stille“ oder eben rational passive Rezipienten, die gegebenenfalls Kommentare auf- oder abwerten. Alleine in der Communityverwaltung seien 13 Mitarbeiter beschäftigt.

Zweitens haben die Kollegen der Site mokant.at, Träger ist CHiLLi – Verein für freie und unabhängige Medien, Langlebigkeit von Facebook-Postings auf Politikerprofilen und die Anzahl der Kommentierenden auf Politikerprofilen bei Facebook im Rahmen der Nationalratswahl Österreichs 2017 ausgewertet. 86 Prozent aller Facebook-Kommentare werden in den ersten beiden Tagen der Veröffentlichung verfasst und demonstrieren die Schnelllebigkeit der Informationsverarbeitung. Schnelligkeit ist jedoch kein Indiz für ein Breitenphänomen der Interaktion zwischen Publikum und Kommunikator. Von 3,7 Millionen Österreichern, die Facebook nutzen, bestimmten nur rund 9.000 User den Wahlkampfdiskurs auf rund 40 Facebook-Sites österreichischer Politiker zwischen August und Oktober 2017. Von insgesamt 2,9 Millionen Kommentaren stammten 1,4 Millionen von nur zwei Prozent der rund 400.000 Kommentierenden. Weitere untersuchte Facebook-Sites von österreichischen Medienunternehmen wiesen ein vergleichbares Verhältnis von aktiven und passiven Rezipienten auf (eingedenk der nicht sicheren Erkenntnis, ob es sich um Bots handelt, um natürliche Personen oder um serielles Kommentieren als Beeinflussungsversuch des Diskurses.

 

Erweitertes Erlösmodell Communitymanagement für Verlage

Zerdick bezeichnete Interaktion um der Interaktion Willen als „unvollkommene Ingenieurleistung“ im Mediensektor. Vergegenwärtigt man sich erneut die vorgedeuteten Missverständnisse in den Facetten digitaler Kommunikation, so liegt es auf der Hand Communitymanagement sowie -strategien im redaktionellen Betrieb von denen im eCommerce-Sektor zu trennen, Kosten-Nutzen-Relationen neu zu bewerten und journalistische Tätigkeit als selbstbewusstes Dienen für eine plurale Gesellschaft – nüchtern – zu definieren. Nutzerkommentare zu journalistischen Beiträgen implizieren nur einen sehr eingeschränkten Blick auf die Welt. In einigen Fällen wohl nur auf die Welt des sich berufen fühlenden Kommentators. Das ist für die Öffentlichkeit nicht relevant und damit außerhalb journalistischer Nachrichtenfaktoren.

Das Problem kommunikativer Missverständnisse organisatorisch in den Griff zu bekommen, kann bereits an vielen Stellen des redaktionellen Betriebes beobachtet werden. Die Ausprägungen reichen von den Kommentaren vorgeschalteten Quizzes, die Textverständnis sicherstellen sollen, bis zur Auslagerung der Kommentarfunktion auf dritte Plattformen der Social Media, der zeitlichen Begrenzung der Kommentarfunktion (so auch hier bei Carta.info) oder der kompletten Schließung des Kommentarbereiches.

Weitergesponnen werden kann die Entwicklung der Kommentarfunktion auf Websites mit der Rückbesinnung auf die Logik des analogen Leserbriefes, der Transaktionskosten in Form von Schreiben, Eintüten, Zur-Post-Bringen, Frankieren und Warten aufweist. Ist das Angebot eines Verlages zur Kommentierung von journalistischen Beiträgen kostenpflichtig (à la Guthaben/Kommentarabonnement mit x EUR pro freigeschaltetem Kommentar), bestünde die begründete Hoffnung auf ein natürliches Abebben von durch Moralvorstellungen und Emotion beschleunigtes Abgeben mäßig überlegter Auffassungen sowie serieller Bot-Kommentare etc. Auf diese Weise kann weiterhin das Communitypersonal direkt zur Wertschöpfung in einem schwierigen Erlösumfeld des Informationsgenres beitragen und nicht passiven Overhead anhäufen. Auch die partizipative Blogosphäre als die freien, nichtkommerziellen Medien gewänne möglicherweise als moderne Gegenöffentlichkeit wieder mehr Gewicht im gesellschaftlichen Diskurs.

 

 

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