von Peter Loesche, 8.6.09
Auch wenn es nach den Europawahlen zunächst anders anmuten mag: Es gibt eine Mehrheit links der Mitte, jedenfalls in Deutschland und den Vereinigten Staaten, auch in einigen anderen Ländern. Und dies nicht allein wegen der Weltwirtschaftskrise, der Erschütterungen des Pump-Kapitalismus. Sondern aufgrund langfristiger struktureller, nicht zuletzt demographischer Veränderungen.
Kein Zweifel: Natürlich spielen Persönlichkeiten in Politik und Geschichte nach wie vor eine große Rolle, siehe Obama in den USA. Aber es sind gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen, die Rahmenbedingungen, die den Persönlichkeiten – und seien sie noch so charismatisch – Grenzen des Machbaren, damit aber auch Spielräume vorgeben. Eine der aktuellen, aber längerfristig angelegten Tendenzen lautet: Mehrheiten links der Mitte, Majorität der Linken.
Allerdings: Was heißt „links“, was „rechts“? Man käme in Teufels Küche, wollte man sich mit dieser geschichts- und sozialphilosophischen Frage abplagen. Indes wissen der einfache Mann, die einfache Frau auf der Straße, weiß der Wähler recht genau, wie er sich selbst, wie Kandidaten für höchste Ämter und wie politische Parteien auf einer Links-Rechts-Skala einordnet.
Dieser Skala liegt eine sozialökonomische Vorstellung zugrunde, auf der unter „links“ der Eingriff des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft, wohlfahrtsstaatliche Umverteilung und prinzipielle Gleichheit bzw. Chancengleichheit der Lebensverhältnisse verstanden wird. „Rechts“ heißt dann demgegenüber möglichst geringe Intervention des Staates und die grundsätzlich freie Entfaltung der Marktkräfte. Ein pragmatisches Verständnis also von „links“ und „rechts“, bei dem es im Kern um die je unterschiedliche Ansicht vom Sozialstaat geht.
Folgt man dieser Definition, dann hat sich in den Vereinigten Staaten bei den Kongress- und Präsidentenwahlen 2008 eine linke Wählerkoalition herausgebildet, die ihren Ursprung nicht zuletzt in demographischen Veränderungen hat. Sie gründet nicht nur auf aktuellen Faktoren wie die Krise der amerikanischen Ökonomie oder Anti-George-W.-Bush-Sentiments. Vielmehr konnte aufgrund des ethnographischen und allgemein demographischen Wandels Obama eine Wählerkoalition hinter sich bringen, zu der die Mehrheit der schwarzen, hispanischen und asiatischen, aber auch der jüngeren, der weiblichen und der besser ausgebildeten Wähler gehört.
Allein 95% der schwarzen und 67% der hispanischen Wähler stimmten für den Demokraten. Das Wahlergebnis vom November 2008 illustriert die sozialstrukturellen Veränderungen, die die USA momentan durchlaufen und die mittelfristig Auswirkungen auf das Wahlverhalten haben. So hat es in den ersten acht Jahren des 21. Jahrhunderts ein je unterschiedliches Wachstum der verschiedenen ethnischen Gruppen gegeben: Latinos und Asiaten wuchsen um fast ein Drittel, Afroamerikaner um 10%, Weiße um 2%. Der Anteil der Weißen an der Gesamtbevölkerung ist auf 74% gesunken und wird bis 2016 auf fast 60% absacken. Bereits heute beträgt in 14 Einzelstaaten der Anteil der Weißen an der Bevölkerung 60% oder weniger. Kalifornien, Texas und Hawaii haben eine „farbige“ Mehrheit. Es war daher kein Zufall, dass Obama und demokratische Kongresskandidaten in Südstaaten wie Virginia, North Carolina und Florida Mehrheiten zu gewinnen vermochten.
Was hat all dies mit einem „Linksruck“ zu tun? Es sind gerade die sogenannten Minoritäten, die sich die Förderung ihrer sozialen Lage vom Eingriff des (Bundes)Staates in Wirtschaft und Gesellschaft erhoffen. Die also die Ausweitung des amerikanischen Sozialstaates erhoffen (so schwach er in den USA im Vergleich zu den westeuropäischen auch sein mag) . So identifizieren ethnische Minderheiten sich ganz überwiegend mit der amerikanischen Sozialstaatspartei, eben mit den Demokraten, die schon im New Deal mit Franklin D. Roosevelt an der Spitze die Grundlagen des amerikanischen Sozialsystems geschaffen hatten. So identifizieren sich gegenwärtig 71% der Schwarzen mit den Demokraten (7% mit den Republikanern) und 65% der Hispanics (15% mit den Republikanern). Zusammengefasst: In den Vereinigten Staaten entfaltet sich unter den Wählern eine linke Mehrheit, eine staatsinterventionistische Mehrheitskoalition.
Wie sieht das mit einer angeblich „linken“ Mehrheit unter den Wählern in Deutschland aus? Die deutsche Vereinigung 1989/90 hat so etwas wie einen demographischen Wandel des deutschen Elektorats mit sich gebracht, eben durch den Zutritt der ehemaligen DDR-Bürger. Diese sind bekanntlich viel stärker als die Westdeutschen staatsorientiert, sie favorisieren den Eingriff des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft, sie gehören also nach obiger Definition zu einer mehrheitlich linken Wählerschaft.
Indes: Problematisch wird es, links der Mitte die SPD, die Grünen und Die Linke zu einer Wählermehrheit zu addieren, wie es häufig in Journalismus, aber auch Politikwissenschaft geschieht. Zweifel sind durchaus angebracht, ob die Grünen von ihren Wählern her, ihrer Programmatik und ihrer politischen Praxis als „links“ bezeichnet werden können. Einiges spricht vielmehr dafür, dass diese sich zu einer nach allen Seiten offenen Scharnierpartei mit ökologischem Profil im Zentrum des 5-Parteiensystems gewandelt haben.
So paradox es zunächst klingen mag: Zur Linken ist viel eher die CDU oder präziser: ihr linker Flügel, die Sozialausschüsse zu rechnen. Damit wird nicht nur auf das Schlagwort von der „Sozialdemokratisierung“ der Christdemokratie in der Großen Koalition angespielt, sondern das ergibt sich auch aus dem internationalen Vergleich mit anderen konservativen oder christdemokratischen Parteien. Zugespitzt formuliert: Die CDU/CSU ist die klassische Sozialstaatspartei der Bundesrepublik.
Die Erweiterung jedes größeren sozialstaatlichen Programms – von der dynamischen Rente bis zur Pflegeversicherung – ist von ihr betrieben worden. Und in der letzten Bundestagswahl wurde bekanntlich die CDU für ihren neoliberalen Reformeifer, wie er auf dem Leipziger Parteitag formuliert worden war, abgestraft. Lehre daraus: Ohne ihren linken Flügel, ohne die Sozialausschüsse, vermögen die Christdemokraten keine Bundestagswahl zu gewinnen.
Es sei wiederholt: So paradox das klingt, zur linken Wählermehrheit gehört auch ein Segment des Elektorats, das christdemokratisch wählt. Genau hier liegt bekanntlich das große Problem für die Sozialdemokraten, die sich vom linken Flügel der CDU und den Linken in die Zange genommen finden. Eine linke Wählermehrheit kann also in Deutschland nicht nur aus verschiedenen Parteien bestehen, sondern sogar aus mehreren Parteien und einem Parteiflügel. Aus einer linken Wählermehrheit ergibt sich aber dann nicht notwendigerweise eine linke Regierungskoalition.
Auch dass die CDU recht daran tut, sowohl in das linke wie das rechts Wählerlager den Spagat zu versuchen, um so zur stärksten Partei im Parlament zu werden, illustrieren wiederum die Vereinigten Staaten. Die Republikanische Wählerschaft hat sich auf ein schmales Profil verengt: weiß – alt – ländlich. Die Republikaner sind heute auf dem Weg zu einer strukturellen Minderheit – rechts der Mitte.