#Freiheit

Freiheit und Ausbeutung

von and , 4.9.16

Weder in der Wissenschaft, erst recht nicht in der Politik kann man sich darauf einigen, was von unserer Wirtschaft zu halten ist. Gewissheit wäre unerträglich. Meinungsfreiheit und Einheitsdenken passen zusammen wie Karneval und Knast. Die Kontroversen über Zustand und Zukunft unserer Wirtschaftsweise verdichten sich in zwei Begriffen mit Variationen. „Marktwirtschaft“ ist der eine, spezifiziert als „freie“ oder „soziale“. „Kapitalismus“ lautet der andere, konkretisiert unter anderem als Früh- und Spät-, als Manchester- und Finanzkapitalismus.

Meint das eine, was das andere sagt? Spricht, wer über Marktwirtschaft redet, zugleich über den Kapitalismus, und meint, wer über Kapitalismus referiert, damit die Marktwirtschaft? Von Marktwirtschaft wird überwiegend affirmativ, von Kapitalismus ablehnend gesprochen. Wird Markt positiv aufgefasst, dann in der Regel auch Kapital. Ist Kapital negativ gemeint, dann oft auch Markt. Aber Kapitalismus kann die Wirtschaft auch im Brustton stolzer Überzeugung genannt werden, ganz nach Milton Friedmans Motto „the business of business is business“. Allgegenwärtig jedenfalls ist der Vorwurf, die Realität der Wirtschaft und ihrer Auswirkungen auf die Gesellschaft würde nur selektiv wahrgenommen und einseitig dargestellt. Man hält sich wechselseitig „unterschlagene Wirklichkeiten“ vor, seien es positive, seien es negative.

Läge die Wahrheit in der Vollständigkeit, gäbe es nur Unwahrheiten

Auf eine solche Kritik braucht niemand stolz zu sein, sie funktioniert immer, weil jeder Gedanke, der gedacht, jeder Satz, der gesagt, selbst das dickste Buch, das geschrieben wird, nur selektiv sein können. Dass schon alles gesagt sei, nur noch nicht von jedem, ist eine hübsche Attacke auf Wiederkäuer, von einer sachlich zutreffenden Behauptung jedoch meilenweit entfernt. Läge die Wahrheit in der Vollständigkeit, gäbe es nur Unwahrheiten. Keine Mitteilung kann über irgendetwas informieren, ohne es zu verkürzen und zu vereinfachen. Man nehme einen schlichten Gegenstand, vielleicht einen Kaffeebecher, und beginne zu überlegen, was sich alles denken und sagen ließe über dessen Alter und Aussehen, Produzenten und Benutzer, Größe und Gewicht, über Eigentumsverhältnisse und Entsorgungsfragen, Herstellungsprozess, Materialkonsistenz und Kostenkalkulation, Transportwege und Vertriebsmodalitäten, seine Vergangenheit und seine Zukunft, Verwendungs- und Missbrauchsmöglichkeiten… Wer behauptet, die Beschreibung eines Kaffeebechers sei irgendwann vollständig, ist nur denkfaul. Aus praktischen Gründen, weil der Mensch handeln will und muss, nutzt man Unterscheidungen wie wichtig und unwichtig, wesentlich und unwesentlich, um ein Ende zu finden. Damit aber fängt der Streit an.

Das Wichtige, das Wesentliche an der modernen Wirtschaft, gar die Wahrheit über sie auszudrücken, ist ja gerade der Anspruch der beiden Bezeichnungen Marktwirtschaft beziehungsweise Kapitalismus. Nehmen wir sie beim Wort, sagt uns die eine, die Wirtschaft biete ihre Güter und Dienste auf Märkten an, während uns die andere darauf aufmerksam macht, dass in der Wirtschaft Kapital eingesetzt wird. Beides nicht zu bestreitende Sachverhalte, was soll aufregend daran sein?

Die Begriffe Marktwirtschaft und Kapitalismus tragen offenbar Botschaften ins Land, funktionieren als Symbole, um die man sich scharen kann wie um eine Fahne. Die Bedeutung eines Wortes, das wissen wir seit Ludwig Wittgenstein (1889-1951), dem sicherlich bedeutendsten Sprachphilosophen, entsteht im Sprachgebrauch. Und im gängigen Gebrauch symbolisiert Markt Freiheit. Nicht mit derselben Dominanz, aber doch stets präsent, begleitet Kapital ein Beigeschmack von Ausbeutung. Zugleich haben wir es im Alltag mit Verwerfungen, Umdeutungen, Umwidmungen zu tun. Wir tragen unsere Haut zu Markte und bewegen uns auf dem Markt der Eitelkeiten, wir bekommen ein Startkapital, das uns vielleicht ein unbeschwertes Leben ermöglicht, aber auch verspielt werden kann. Markt und Kapital werden Adjektive zur Seite gestellt, die sie zu lebendigen Akteuren werden lassen, als atmeten sie die gleiche Luft wie wir und seien ähnlichen Gefährdungen ausgesetzt: scheu, labil, überhitzt, gesättigt, schnelllebig, frei, sozial, flüssig.

Mit dem Bade ausgeschüttete Kinder

Jenseits des Marktes habe Freiheit keine Heimat, versuchen uns die einen einzureden. Als seien Meinungs- und Pressefreiheit, freie politische Wahlen, die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft auf Märkte angewiesen. Kapital gehöre abgeschafft, erklären uns andere. Als bräuchte eine Wirtschaft, die sich entwickeln soll, keine investierbaren Überschüsse. Muss „entwickeln“ wachsen heißen? Menschen hören nicht auf sich zu entwickeln, hat ihr Körper seine größte Ausdehnung erreicht. Von Grenzen des Wachstums reden doch nicht nur Träumer, Spinner und Feinde des Wohlstands. Was verschweigt, wer verspricht, unseren Wohlstand zu verteidigen? Das Wort „Wohlstand“ beinhaltet nicht ein Milligramm Selbsterkenntnis darüber, wie sehr dieses Wohl auf dem Elend anderer baut.

Kapital abzuschaffen, um der sozialen Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, alles zu vermarkten, um die große Freiheit zu verbreiten – die Kinder, die dabei mit dem Bade ausgeschüttet werden, stehen nackt, frierend und hilflos herum. Dass unserer Gesellschaft keine attraktiven Alternativen einfallen zu Wachstumszwängen, Konsumwahn und sozialer Spaltung, dass nationalistische und rassistische Antworten so viel Zulauf finden, hat auch damit zu tun, wie realitätsfern und engstirnig über Marktwirtschaft und Kapitalismus gestritten wird.

Folgt Teil 2: Kapital und die Verantwortung seiner Funktionäre

Der Text ist zuerst auf Oxi erschienen.

 


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