#Energiemärkte

Entflechtung oder Marktintegration? Die Beschlüsse zum 3. EU-Energiebinnenmarktpaket

von , 30.4.09


In der Europäischen Union fehlt es bislang an einem gemeinsamen (=grenzüberschreitenden) Markt für die netzgebundenen Energieträger Strom und Gas. Die nationalen oder bestenfalls regionalen Teilmärkte sind weitgehend voneinander abgeschottet. Das behindert nicht nur den Wettbewerb sowie die Integration erneuerbarer Energien (v.a. Offshore-Windparks), sondern insbesondere auch die Versorgungssicherheit. In einem funktionierenden europäischen Energiebinnenmarkt wären Haushalte und Unternehmen wesentlich besser gegen das Risiko von Lieferunterbrechungen gewappnet. Teilausfälle von Gaslieferungen, wie sie im Januar etwa in Südosteuropa zu beobachten waren, wären in einem europäischen Energiebinnenmarkt sehr unwahrscheinlich.

Angetrieben von der Kommission verfolgt die EU das Projekt einer Vollendung des Energiebinnenmarkts zwar schon seit Mitte der 1990er Jahre, vom endgültigen Ziel ist die EU aber immer noch weit entfernt, auch wenn sich Marktakteure und -strukturen schrittweise in die gewünschte Richtung entwickelt haben. Weitere Fortschritte sind vor allem in drei Bereichen notwendig:

  • Diskriminierungsfreier Marktzugang für alle Anbieter
  • Ausbau der grenzüberschreitenden Infrastrukturen
  • EU-weite Angleichung von Marktregeln und Netzstandards

Beim wichtigsten energiepolitische Gesetzgebungsprojekt der letzten Jahre, dem „3. Binnenmarktpaket” der EU-Kommission, wurde nun nach langwierigen Auseinandersetzungen endlich eine Einigung herbeigeführt. Am 22. April hat das Europäische Parlament nun förmlich die zuvor mit dem Ministerrat ausgehandelten Kompromissversionen für insgesamt fünf Rechtstexte verabschiedet. Während der Verhandlungen haben sich die bei der Binnenmarktintegration seit jeher zögerlichen Mitgliedstaaten in vielen Punkten gegenüber den ambitionierteren Vorstellungen von Parlament und Kommission durchgesetzt. Einige Fortschritte werden die Beschlüsse, die nach der formellen Bestätigung durch den Ministerrat voraussichtlich im September in Kraft treten werden, dennoch mit sich bringen – allerdings nicht in den Bereichen, die in den letzten Jahren im Mittelpunkt der Debatte standen.

In der Diskussion um die 5 Rechtsakte standen zwei Fragen im Zentrum. Zum einen die nach der angemessenen Form der Entflechtung der vertikal integrierten Energieversorger, also der wirksamen Trennung von Produktion und Netzen – hierzulande gerne unter dem Stichwort „Zerschlagung” debattiert. Zum anderen die nach der Zulassung von Netzbetreibern, die von casino spiele Unternehmen aus Nicht-EU-Staaten kontrolliert werden, der sogenannten „Gazprom-Klausel“. In beiden Bereichen bringt das 3. Paket kaum Veränderungen am Status Quo. Hinsichtlich der Frage der Entflechtung setzten Deutschland, Frankreich und sechs weitere Mitgliedstaaten ein Optionsmodell durch („Dritter Weg”), das den großen Energieversorgern nur wenige Anpassungsleistungen abverlangen wird. Auch die Übernahme von Mehrheitsbeteiligungen an Übertragungs- und Fernleitungsnetzen durch Unternehmen aus Drittstaaten wird nicht der Kontrolle der EU-Kommission unterworfen werden.

Was in der Debatte jedoch weitgehend übersehen wurde: die Neuregelung der Eigentumsstrukturen von Netzbetreibern ist kein eigenständiges Ziel, sondern lediglich ein Mittel unter vielen auf dem Weg zu einer vollständigen Integration der europäischen Strom- und Gasmärkte. Striktere Entflechtungsvorschriften und die – vom Parlament überschwänglich gefeierte – Erweiterung von Verbraucherrechten sind in diesem Zusammenhang zwar notwendig, weil sie die Wettbewerbsbedingungen für neue bzw. ausländische Anbieter verbessern. Weitaus wichtiger aber ist die Qualität der Energiemarktregulierung.

Positiv schlägt deshalb zu Buche, dass die neu gefassten Binnenmarktrichtlinien Vorschriften enthalten, mit denen eine EU-weite Angleichung der Befugnisse und Handlungsspielräume der nationalen Energieregulierungsbehörden erreicht werden soll. Im Mittelpunkt steht dabei zum einen die Gewährleistung der tatsächlichen Unabhängigkeit gegenüber Regierungen und Energiewirtschaft, die in einigen (neuen) Mitgliedstaaten bislang noch nicht gegeben ist. Zum anderen ist die Ausweitung der Regulierungsbefugnisse auf den nationalen Märkten vorgesehen, etwa hinsichtlich der Kontrolle verschärfter Transparenzanforderungen oder beim Monitoring von 10-Jahres-Investitionsplänen der Übertragungs- bzw. Fernleitungsnetzbetreiber. Daneben haben sich Parlament und Rat auf die Einrichtung einer genuin europäischen Institution geeinigt: der Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden. Diese in den nächsten Jahren neu aufzubauende Institution wird sich vor allem den Fragen des grenzüberschreitenden Energiehandels widmen und die zwar bereits existierenden, jedoch nur wenig verbindlichen Strukturen der Kooperation zwischen den nationalen Regulierern ablösen. Allerdings werden der Agentur auf Betreiben der Mitgliedstaaten zunächst nur sehr eingeschränkte Entscheidungsspielräume zugestanden. Es ist jedoch zu erwarten, dass die Befugnisse der Agentur bei jeder zukünftigen Verschärfung der der Binnenmarktgesetzgebung ausgeweitet werden und sie schrittweise zu einer EU-Energieregulierungsbehörde fortentwickelt werden kann.

Zwei in der öffentlichen Diskussion über das Binnenmarktpaket völlig unbeachtet gebliebene Verordnungen sehen darüber hinaus die Schaffung von Instrumenten einer verbesserten EU-weiten Netzplanung und -koordination vor. Im Zentrum steht dabei die Vorschrift zur Gründung von zwei gesamteuropäischen Verbänden der Übertragungs- (ENTSO-E) bzw. Fernleitungsnetzbetreiber (ENTSO-G), denen von der EU die Aufgabe zugewiesen wird, den europaweiten Ausbau der Strom- und Gasnetze zu planen, die Harmonisierung der Netzkodizes und Marktregeln voranzutreiben und für ein höheres Maß an Transparenz zu sorgen. Der nun vereinbarte Kompromiss zielt fast ausschließlich auf die koordinierende Funktion der beiden neuen Netzbetreiber-Verbünde ab. Die Schaffung einheitlicher Ansprechpartner für Fragen der europäischen Netzentwicklung ist deshalb allenfalls als wichtiger erster Schritt zu werten. Sollte sich in den kommenden Jahren herausstellen, dass die Zuweisung von Koordinationsverpflichtungen keine signifikanten Fortschritte bei der europäischen Marktintegration nach sich zieht, läge es durchaus in der Logik der EU-Sekundärrechtsentwicklung, die regulatorischen Eingriffsmöglichkeiten gegenüber ENTSO-E/G schrittweise auszubauen.

Der Prozess der Binnenmarktintegration im Energiebereich vollzieht sich seit Mitte der 1990er Jahre nur schleppend. Die Schaffung eines funktionierenden Energiebinnnenmarkts ist jedoch das zentrale Projekt einer gemeinschaftlichen EU-Energiepolitik, gerade weil es hier um die Überwindung zahlloser technischer, infrastruktureller und regulatorischer Hindernisse geht, die im politischen und medialen Tagesgeschäft systembedingt nur wenig Aufmerksamkeit erfahren. Die von Energiekommissar Andris Piebalgs bei Vorlage des Binnenmarktpakets im September 2007 getätigte Ankündigung, das 3. Paket werde das letzte seiner Art sein, ist nach den Beschlüssen vom 22. April obsolet. Schon gegen Ende der nächsten Amtsperiode der Kommission (2009-2014) ist die Vorlage des „4. Binnenmarktpakets” zu erwarten. Bei der Gestaltung der europäischen Energiemärkte gilt bis auf weiteres: Nach dem Paket ist vor dem Paket.




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