#Energiepolitik

Energiediskurs in Erklärungsnot: Wer (oder was) gefährdet unsere Versorgungssicherheit?

von , 9.1.09

Auf der einen Seite Russland, als Rohstofflieferant, der seinen Öl- und Gasreichtum „skrupellos“ zur Durchsetzung der eigenen Interessen benutzt. Auf der anderen Seite die EU und einige ihrer östlichen Nachbarn, die dem russischen „Erpressungspotential“ entweder schutzlos ausgeliefert sind (etwa die Ukraine, Polen und die baltischen Staaten) oder aber gar nicht erst erkennen wollen, dass sie sich in eine „immer größere Abhängigkeit“ von Gazprom begeben, allen voran Deutschland und Italien. Alternative Deutungsmuster, etwa die einer ausgeprägten energiewirtschaftlichen Interdependenz von Russland und seinen europäischen Abnehmern, blieben im öffentlichen Diskurs relativ randständig.

Für die europäische Sicht auf den aktuellen Konflikt ist es im Kern nicht so sehr entscheidend, welcher Gaspreis für die Ukraine im Jahr 2009 gerechtfertigt sein könnte oder auf welche Höhe sich die Transitgebühren für russisches Gas fairerweise belaufen sollten. Im Zentrum steht vielmehr die Frage: „Wer (oder was) gefährdet unsere Versorgungssicherheit?“ Dass es der Mehrheit der europäischen Kommentatoren schwer fällt, darauf eindeutig mit „Russland“ zu antworten, dass die jahrelang dominierende Dichotomie in der derzeitigen Auseinandersetzung nicht mehr bruchlos funktioniert, ist bereits ein wichtiger Teilerfolg für Gazprom und seine gemeinsam mit den Public Affairs Agenturen Ketchum und GPLus Europe entwickelten Kommunikationsstrategie. Diese sah nicht nur eine intensive russische Reisediplomatie bereits im Dezember vor, sondern auch einen beinahe täglichen Newsletter sowie eine spezielle Website.

Offen bleibt jedoch, ob sich aus der jetzigen Konstellation heraus mittelfristig auch ein neues Energiesicherheitsnarrativ entwickeln könnte. Da es der russischen Seite unmöglich gelingen kann, den bisher dominierenden Deutungsrahmen binnen kürzester Zeit komplett zum Einsturz zu bringen, und Gazprom fortan ein überzeugendes Image als vertrauenswürdigem Energielieferanten zu verpassen, konzentrierte man sich zunächst vor allem auf die Desavouierung der ukrainischen Positionen. Zwar vermag das fortwährende negative campaigning gegen die Ukraine die bisherige Diskursstruktur zumindest kurzfristig aufzubrechen, zumal es an glaubwürdigen Beispielen für ukrainisches Fehlverhalten nicht mangelt. Im Resultat führt dies jedoch noch nicht zu neuen Eindeutigkeiten, zu keiner klaren Neuverteilung der Rollen.

Energiepolitische Diskurse aber weisen in der Regel sehr ausgeprägte Dichotomien auf, ganz gleich, ob es um Klimaschutz, hohe Energiepreise oder die Gewährleistung von Versorgungssicherheit geht. Dass in diesen Feldern eine Fülle von ökonomischen und technologischen, infrastrukturellen und moralischen, außenpolitischen und alltagspraktischen Fragen verhandelt werden muss, führt eben gerade nicht dazu, dass breite gesellschaftliche Debatten der Komplexität der Wirkmechanismen auch nur annähernd gerecht werden würden. Im Gegenteil: Je vielschichtiger die Zusammenhänge, desto „interpretationsanfälliger“ die Wirklichkeit, desto größer der Hang zur Komplexitätsreduktion, desto aufgeladener die zentralen Deutungsmuster.

Auch der europäische Energiesicherheitsdiskurs leidet unter spezifischen Verengungen. Zentrales Charakteristikum hier: eine ausgeprägte Tendenz zur Freund-Feind-Orientierung. Da die Bedrohung der Versorgungssicherheit fast ausschließlich jenseits der eigenen (nationalen oder europäischen) Grenzen lokalisiert wird – und das obgleich ein Großteil der schwerwiegenden Ausfälle auf Funktionsstörungen im „heimischen“ Elektrizitätssektor zurückzuführen ist –, liegt eine klassisch sicherheitspolitische, die Rolle der Staatenkonkurrenz überbetonende Sichtweise nahe. Geopolitische, den exklusiven Zugriff auf rohstoffreiche Regionen wie etwa Zentralasien betonende Denkmuster, dominieren im Energiesicherheitsdiskurs nach wie vor. Kooperation ist in dieser Logik nicht schlicht als pragmatische Zusammenarbeit zu mehrseitigem ökonomischem Nutzen denkbar, sondern allenfalls als Bündnis gegen Dritte, vom Rohstoffzugriff auszuschließende Konkurrenten. Im Mittelpunkt der Besorgnis stehen zudem fast ausschließlich Produzentenländer und -regionen, deren kulturelle und politische „Andersartigkeit“ betont werden kann, was wiederum den Raum für weitreichende Spekulationen über deren Handlungsmotive und -optionen öffnet.

Die Struktur dieses Energiesicherheitsdiskurses ist nicht derart wirkmächtig, dass sie jegliche energiepolitische oder gar energiewirtschaftliche Praxis vorstrukturieren würde. Jedoch steht die Praxis permanent unter Druck, sich im Rahmen des dominanten Paradigmas legitimieren zu müssen. Das Streben nach einer energiewirtschaftlichen Kooperation mit Russland gerät sehr schnell in den Verdacht eines „Appeasement“ auf Kosten schwächerer EU-Mitglieder, schon eine Investmententscheidung im „falschen“ Land kann den Vorwurf des Verrats an Europa nach sich ziehen. Und während im geopolitischen Weltbild der Anspruch auf ein fortwährend ausreichendes Angebot der gewünschten Rohstoffe nach wie vor nicht in Frage gestellt wird, steht der pragmatische Ansatz, möglichen Konflikten und Engpässen auch durch Veränderungen auf der Nachfrageseite zu begegnen, schnell in der Kritik. Eine Steigerung der Energieeffizienz, der Ausbau der erneuerbaren Energiequellen oder die Schaffung von EU-internen Ausgleichsmechanismen für Krisenfälle erscheint in geopolitischer Perspektive lediglich als konfliktscheues Zurückweichen vor den „eigentlichen Herausforderungen“ einer selbstbewussten Energieaußenpolitik. Diese manifestiert sich nicht zuletzt in symbolisch bedeutsamen Projekten wie der an Russland vorbeiführenden Nabucco-Pipeline in Richtung Kaspisches Meer, für deren baldige Realisierung sich jedoch kaum Investoren finden lassen werden.

Wie sich die versorgungssicherheitspolitische Diskurslandschaft in Europa mittelfristig entwickeln wird, hängt entscheidend vom weiteren Verlauf des russisch-ukrainischen Gasstreits ab, der mit der heute beschlossenen Monitoring-Lösung ja noch nicht abgeschlossen sein wird und möglicherweise auch im kommenden Januar abermals eskalieren könnte. Gazprom kann derzeit kaum mehr als eine Art negatives Unentschieden erreichen, das das wichtigste Gastransitland mit auf die Anklagebank der europäischen Öffentlichkeit zieht. Aus russischer Sicht wäre dies jedoch nur ein Zwischenschritt, um anschließend um eine stärkere europäische Unterstützung für Pipeline-Projekte werben zu können, mit denen sich Gas auf dem Weg durch die Ostsee und das Schwarze Meer direkt in die EU liefern ließe, bei gleichzeitiger Schwächung des Stellenwerts der derzeitigen Haupttransitstaaten.

Anders als die geopolitische Sichtweise es nahelegt, beweist der gegenwärtige Konflikt keineswegs, dass die EU zu stark von russischem Gas abhängig ist. Da alle anderen Transitpipelines von Russland bis an die Kapazitätsgrenze befüllt werden und die Speicher vieler europäischer Energieversorger gut gefüllt sind, zeigt sich im Konflikt eher eine zu starke Abhängigkeit von einigen wenigen Pipeline-Routen, eine mangelhafte Vernetzung sowohl zwischen der EU und Russland als auch innerhalb der EU selbst./a> Die europäische Öffentlichkeit täte deshalb gut daran, sich in Fragen der Versorgungssicherheit von ihrem Wunsch nach Eindeutigkeit und von der bislang dominierenden Methode des Verdachts zu lösen. Die Bringschuld zur Wiederherstellung des Vertrauens in die mittel- bis langfristige Verlässlichkeit der Energiebeziehungen liegt zunächst jedoch eindeutig bei Russland und der Ukraine.

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