#Akademisierung

„Ekel vor dem Proletariat“?

von , 10.8.16

Wer eine notwendige Debatte so anfängt wie Jan Feddersen in der TAZ („Ekel vor dem Proletariat“), der macht diese Debatte kaputt.

Feddersens These: Die SPD „ekle“ sich vor Menschen ohne akademische Ausbildung, dementsprechend hätten die in der Partei Bebels und Brandts nix zu sagen. Er versucht, dies am Beispiel der Essener SPD- Bundestagsabgeordneten Petra Hinz nachzuweisen. Er schreibt: Am Fall Hinz zeigten sich in „erster Linie …die Abgründe einer Partei, die sozialdemokratische Traditionen bei Festlichkeiten beschwört und in Sommer­interviews herauskehrt wie gerade erst Parteichef Sigmar Gabriel, aber im Alltag mit dem Pöbel weder Kontakt haben noch sich für ihn verwenden will.“

Mir fiel auf, dass Feddersen das Wort „Pöbel“ nutzte. Der Duden beschreibt Pöbel in seiner Bedeutungsübersicht als „ungebildete, unkultivierte, in der Masse gewaltbereite Menschen“.

Das ist neu. Ich kann mir herablassendes, besserwisserisches, an einen Hochschuljargon gebundenes, dünkelhaftes Verhalten in Parteien vorstellen. Auch in der SPD. Aber Pöbel? Vielleicht meinte Feddersen das „Lumpenproletariat“, das Karl Marx im 18. Brumaire so definierte: „Neben zerrütteten Lebeherren mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, verkommene und abenteuerliche Ableger der Bourgeoisie, Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Tagediebe, Taschendiebe, Taschen-spieler, Spieler, Zuhälter, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgel-dreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen … dieser Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen …“

Nun hat Jan Feddersen seine Organisations- und Rekrutierungserfahrungen – glaubt man seiner Wikipedia-Vita – in einer Organisation gemacht, der die Herzen des klassenbewussten westdeutschen Proletariats nicht eben zugeflogen sind, im KB. Möglicherweise ist man in dieser grandiosen Organisation mit dem Begriff „Lumpenproletariat“ etwas großzügiger umgegangen. Das scheint jedenfalls zu prägen. Daher überträgt Feddersen das, was er damals lernte, auf eine Volkspartei, die Klassenbindungen vor Jahrzehnten abgestreift hat; wäre eine mögliche Deutung. Jedenfalls ist es aufschlussreich, dass der TAZ– Kommentator Menschen ohne akademische Ausbildung mit dem Wort „Pöbel“ belegt.

Ich kenne Petra Hinz nicht, kann zu ihrer Situation und zu ihren Beweggründen nichts sagen. Sie ist eigenen Angaben zufolge in ärztlicher Behandlung. Sie hat offenbar ihr politisches Leben auf einigen Lügen aufgebaut und diese Lügen durchgehalten. Wer den Politikbetrieb ein wenig kennt, der kann sich vorstellen, dass dies mit einem gehörigen Angstdruck gekoppelt war. Kein schönes Leben.

Im Übrigen wär doch spannend, wenn die SPD „Abgründe“ hätte! Ich kenne keine Abgründe in der SPD, wie sie Feddersen festgestellt hat, Abgründe die mich schaudern ließen. Dafür weiß ich, dass vor allem der- und diejenige heute politisch aktiv sind, denen die Arbeit nicht abverlangt, mit dem Gabelstapler hin und her zu fahren. Einen Gabelstapler zu lenken oder mit einen DHL- Wagen durch die Gegend zu hetzen, gleichzeitig in Apps zu wühlen, wie ein Weltmeister zu simsen, zu twittern oder andere mit klugen Facebook- Erklärungen zu beglücken, ist praktisch nicht möglich.

Es ist auch nicht das Problem der S.P.D. allein, in welchem Feddersen herumrührt. Ein kurzer Blick in eine Veröffentlichung der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) hilft hier. Die berichtet: „Bürgerinnen und Bürger mit Hauptschulabschluss bzw. ohne Schulabschluss sind in allen Parteien unterrepräsentiert. Personen mit (Fach-)Abitur oder Hochschulabschluss finden sich dagegen in allen Parteien zu einem deutlich höheren Anteil als in der Bevölkerung. In der SPD-Mitgliedschaft haben 28 Prozent die Hauptschule mit oder ohne Abschluss besucht, 37 Prozent haben ein (Fach-)Hochschulstudium abgeschlossen. Arbeiter sind in allen Parteien unterrepräsentiert, die Gruppe der Beamten bzw. Angestellten im öffentlichen Dienst ist in der Gesamtheit der Parteien dagegen fünfmal so stark wie in der Bevölkerung. Die SPD hat mit 16 Prozent nach der Linkspartei den zweithöchsten Arbeiteranteil, Beamte/Angestellte im öffentlichen Dienst machen über zwei Fünftel der Mitglieder aus.
Mit 42 Prozent ist der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder in der SPD dreimal so hoch wie in der Gesamtbevölkerung.“

Da steckt tatsächlich für die Parteien ein dickes Problem. Aber nicht nur für die, sondern auch für die Bevölkerung insgesamt. Man kann „das Problem“ noch etwas genauer fassen: Der „Tritt ins Kreuz“ aus dem Milieu, der uns früher nolens volens in „die Politik“ beförderte, der fehlt heute weitestgehend. Die Kinder und Enkel der Bildungs- und Aufstiegs- Revolution der sechziger und siebziger Jahre haben die Wege ihrer Eltern und Großeltern verlassen. Darüber zu lamentieren ist sinnlos. Sie haben für ihre anderen und neuen Wege gute Gründe.

Woher sollen neue Mitglieder von Parteien kommen? Was tut sich an den Partei-„Basen“? Das Otto-Stammer-Zentrum der Freien Universität Berlin hat vor wenigen Jahren die Rekrutierungsfähigkeit der Parteien gemessen – als Anteil der Parteimitglieder an der Gesamtbevölkerung ab 14 Jahre. Den höchsten Anteil wies die SPD im Saarland mit 2,25 v.H. auf, den geringsten in Sachsen mit 0,12 v.H. (Vergleichszahlen CDU: Saarland 2,15 v.H. – Sachsen 0,34 v.H.) Im seit Jahrzehnten sozialdemokratisch regierten Bremen lag der Anteil der SPD-Mitglieder bei 0,82 v.H., in der Hauptstadt bei 0,53 v.H. (»Parteimitglieder seit 1990. Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer- Zentrum, Nr. 20, Berlin«.) Das ist erschreckend wenig für all das, was den politisch Aktiven abverlangt wird.

Wer ein Wahlamt innehat, wird mit Haut und Haaren gefressen. Schon das Mitglied im Stadtrat einer Kommune mit 300 000 Einwohnern hat praktisch zu nichts mehr Zeit als Arbeit und Politik. Wer sich das Mandat „antut“, hat nicht nur seine Arbeit im Rat zu leisten mit Vorbereitung und Festlegung von Positionen; der sitzt in Ausschüssen, der muss sich überall sputen; alleine schon deswegen weil die politische Konkurrenz nicht schläft – von der Präsenz in den Stadtteil-Veranstaltungen mit Schul-, Bau-, Straßen-, Bepflanzungs-, Flüchtlings-, und Sicherheitsthemen bis hin zu Jubilar-Veranstaltungen und Karnevalssitzungen. Diese Ratsmitglieder brauchen ihre unterstützenden Organisationen, den Personalrat, den Mieterbund, die Haus- und Grundeigentümer, die organisierten Fahrradfahrer, die Kirchengemeinden und das Quartiersmanagement, das Rote Kreuz und die Berufsfeuerwehr. Wer lieber Europa- Fußball schaut statt dem Pfarrer zum Dienstjubiläum zu gratulieren, wer bei der Präsenz schlabbert, der ist nach einer Wahlperiode weg vom Fenster. Es liegt auf der Hand, dass Beschäftigte in Verwaltungen und Verbänden am ehesten in der Lage sind, eine solche Arbeit zu leisten.

Daher werde ich sauer, wenn „die Feddersens“ über die Verhältnisse in Parteien herziehen und eine Art „Grundwiderspruch“ zwischen Funktionären und „Pöbel“ konstruieren. Da gefällt mir besser, was Präsident Obama jüngst sagte: „Demokratie ist kein Zuschauer-Sport. Ihr müsst mit in die Arena. Ihr müsst mitmachen!

Das gilt wohl auch für die Berliner Republik.

 

 


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