von Kerstin Ludwig, 29.6.13
Was seit der ägyptischen Revolution geschah
Der arabische Frühling weckte auch in Ägypten große Hoffnungen auf einen Wechsel, hin zu Freiheitsrechten und mehr Sicherheit. Husni Mubarak, über viele Jahre Diktator, sollte abgesetzt werden. In freien Wahlen wollten die Bürger entscheiden, wer sie regiert.
Gewonnen hat diese Wahlen die Muslimbruderschaft, eine radikalislamische Verbindung, die die Re-Islamisierung betreibt und den Koran als von Gott gesandtes, einziges Gesetz wieder einsetzen will.
Mohammed Mursi, der glück- und talentlose Staatspräsident, den die Wahlen hervorgebracht haben, agiert seither in einem Netz aus ehemaligen Mubarak-Anhängern, einem allmächtigen Militärrat und seiner eigenen Muslimbruderschaft. Oder besser gesagt, versucht, zu agieren, denn viel Spielraum hat er nicht mehr.
Wer demonstriert in Ägypten?
Ägypten hat sich in dem einen Jahr von Mursis Herrschaft sehr verändert. Die Menschen sind verarmt, die Wirtschaftsdaten sind katastrophal, Inflation und Arbeitslosigkeit nehmen zu, und die Menschen haben Angst, ihren Lebensunterhalt zu verlieren.
Frauen und Minderheiten erfahren unter der neuen Regierung noch weniger Schutz als unter Mubarak. Berichte über sexuelle Belästigungen und Vergewaltigungen auf offener Straße häufen sich. Eine Frau, die alleine auf offener Straße angetroffen wird, wird von vielen Männern wie Freiwild behandelt. Hilfe bekommt sie fast nie.
Folgerichtig gehen all die auf die Straße, die unter der Regierung Mursi etwas zu verlieren haben. Die Organisatoren der Tamarud – die aktuelle parteiübergreifende Oppositionsbewegung – behaupten, inzwischen hätten 20 Millionen Ägypter den Protestaufruf unterzeichnet. Das wären 25% aller Ägypter. Falls das stimmt, wäre das ein beeindruckendes Misstrauensvotum für Präsident Mursi.
Wie reagiert die Regierung Mursi auf die Demonstrationen?
Ähnlich wie in der Türkei werden Tränengas und Schlagstöcke gegen die Opposition eingesetzt. Das Militär scheint sich den Sicherheitskräften anzuschließen, anders als früher, da es die Demonstranten eher unterstützt hat. Bezahlte Schlägertrupps, die vormals für Mubarak gearbeitet haben, gehen jetzt wieder gegen Demonstranten vor, diesmal auf der Seite Mohammed Mursis.
Gleichzeitig versucht Mursi, die Macht der Muslim-Bruderschaft durch gezielte Postenverteilung zu stärken. Die größte Kontroverse hat dabei die Ernennung von Adel Asaad al-Chajat verursacht, der der Gamaa Islamija angehört: Die Gruppierung war verantwortlich für das Massaker in Luxor, wo Terroristen 1997 einen Anschlag durchgeführt haben, bei dem 62 Menschen starben. Auch einige Regionalgouverneure gehören der Muslimbruderschaft an oder stehen ihr nahe.
Wie wird es weitergehen?
Für Sonntag, den 30. Juni, hat die Opposition großflächige Demonstrationen angekündigt. Dem kam die Muslimbruderschaft zuvor, indem sie bereits nach dem Freitagsgebet Busse einsetzte, um ihre Anhänger zu versammeln.
In Alexandria kam es bereits zu schweren Ausschreitungen mit vielen Verletzten und mindestens einem Toten. Es ist nicht wahrscheinlich, dass die Demonstrationen am Wochenende abnehmen werden.
Auch auf dem Tahrir-Platz sollen am Sonntag Großdemonstrationen stattfinden, organisiert von Tamarud. Angesichts des bisherigen Verhaltens der Regierung Mursi und der Ankündigungen der Muslimbruderschaft ist ein friedlicher Verlauf leider mehr als fraglich.
Ägypten ist tief zerrissen, die verschiedenen politischen Kräfte spalten die Gesellschaft, sie versuchen, die eigene Machtbasis zu stärken und womöglich auszubauen, und sie bekämpfen den politischen Gegner brutal.
Der Militärrat steht gegen die Justiz und alle gegen die Muslimbruderschaft. Doch selbst das steht nicht fest. Um eigene Ziele durchzusetzen, werden durchaus Allianzen geschlossen, die aber fast ebenso schnell wieder zerbrechen, wie sie geschlossen wurden.
Zwischen diesen tektonischen Politplatten steht eine Bevölkerung im Epizentrum, die eigentlich nur in Frieden leben will. Sie muss nun das ihr zustehende Recht von den Regierenden einfordern.
Eine Identifikationsfigur, die all diese Kräfte zum Wohl des Landes vereinen kann, ist nicht in Sicht. Präsident Mohammed Mursi, der offenbar kein fähiger Politiker ist, kann diese Identifikationsfigur nicht sein. Er wird zu wenig ernst genommen und hat für einen großen Teil der Bevölkerung zu radikale Absichten.
Auch Feldmarschall Tantawi, der ehemalige Vorsitzende des Militärrats, kann diese Aufgabe nicht wahrnehmen: Unter seiner Herrschaft hat der Militärrat Zehntausende Menschen in Schnellgerichten aburteilen und einsperren lassen.
Der Bürgerkrieg scheint unausweichlich.
Die ZDF-Reportage von Dietmar Ossenberg beschreibt die Entwicklung der Lage in Ägypten und beleuchtet, wie das Leben dort heute aussieht — eine Studie über ein Land, dass tief gespalten und in dem offenbar niemand in der Lage ist, die Spaltung zu überwinden.
Kerstin Ludwig bloggt in Tante Jays Café